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„Wofür soll ich mich entschuldigen?“  [VI-05]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

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Der Leipziger Rundfunkchor mit Dietrich Knothe im Sendesaal des Funkhauses in der Leipziger Springerstraße, 1956
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Die fristlose Entlassung des Provokateurs Knothe

Die Entfernung Knothes aus dem DDR-Rundfunk hat durchaus tragische Züge und wirft ein Licht auf die politischen Verhältnisse in der DDR zu Beginn der 1960er Jahre. Nach der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 und deren ständigem Ausbau erreicht die Konfrontation der beiden Weltsysteme einen traurigen Höhepunkt. Tausende Menschen verlassen noch 1961, zum Teil unter Einsatz ihres Lebens, den sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat. Fluchthelfer aus der Bundesrepublik und Flüchtlinge, deren Flucht vereitelt wurde, werden zu drakonischen Strafen verurteilt. US-Präsident John F. Kennedy solidarisiert sich bei einem Besuch in Westberlin mit den Einwohnern der Stadt und lässt seine Rede in die Worte gipfeln: „Ich bin ein Berliner!“

Im Januar 1962 erlässt die Volkskammer ein Gesetz über die Einführung der Wehrpflicht. So hat der Bau der Berliner Mauer bis zum Jahr 1962 zwar dazu geführt, dass die DDR-Führung nicht mehr zu befürchten braucht, einmal als Führung ohne Volk dazustehen, doch ist das Selbstbewusstsein des ostdeutschen Staates ausgesprochen schwach. Jeder Versuch, die unmenschliche Grenze zu überwinden, wird hart bestraft, jedes Abweichen von der Linie der Staats- und Parteiführung geahndet und als Provokation aufgefasst.

 

Paul Dessau: An die Mütter und an die Lehrer   Kantate  1959

 

Paul-Dessau-Plattencover-for-webKantate nach einer Textvorlage von Marzel Breslau
Das Solo in der Kantate singt das Chormitglied Siegfried Müller.
Er war kurzfristig für den erkrankten Uwe Kreyssig eingesprungen.

Manfred Reinelt I Gerhard Berge, Klavier – Walter Kauerauf I Rudi Lehmann I Fritz Bachmann, Trompete – Heinz Dinter, Pauken
Dirigent: Dietrich Knothe
Aufnahme: 8. März 1959
Quelle: Logo-DRA-for-web-

 

In dieser politischen Situation findet am 5. Oktober 1962 im Saal 1 des Funkhaus in der Leipziger Springerstraße eine Feierstunde aus Anlass des Republik-Geburtstages statt. Diese Tatsache ist nicht ungewöhnlich, eben so wenig die Mitwirkung des Rundfunkchores bei der Ausgestaltung einer solchen Feier.
Am 8. Oktober sollte in einem wichtigen Konzert im Berliner Theater der Freundschaft ein kompliziertes modernes Stück von Leo Spies (Turksib) aufgeführt werden. Dafür benötigte Dietrich Knothe jede Probenstunde. Der Rundfunkchor beginnt seine Probe im Probenraum am Nordplatz und begibt sich dann in das nur wenige hundert Meter entfernt gelegene Funkhaus. Nach dem Chorbeitrag lässt der Chorleiter seine Sänger von der Bühne abtreten. Die zuvor gehaltenen Reden waren deutlich länger ausgefallen als vermutet, die verbleibende Probenzeit entsprechend kürzer. So durchqueren die Chormitglieder im Gänsemarsch den gesamten Saal 1. Die im Nordplatz begonnene Probe wird fortgesetzt.

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Dietrich Knothe, 1955
Foto: Nachlass Hessel – Sammlung Rüdiger Koch

Wenig später stört der Chorwart – ein ungewöhnlicher Vorgang – die Probe und bittet Dietrich Knothe ans Telefon, die Leitung wolle ihn sprechen.
Knothe reagiert unwirsch und setzt die Arbeit mit dem Hinweis fort, dass er schließlich Probe habe.
Der Chorwart verschwindet, kommt wieder und muß ein zweites Mal mit dem gleichen Hinweis Knothes den Probenraum wieder verlassen.
Anscheinend ließ sich der Anrufer nicht abwimmeln. Ein drittes Mal erscheint der Chorwart, flüsterte nun jedoch dem Chorleiter etwas in Ohr.
Ein aufgebrachter Knothe unterbricht die Probe und geht ans Telefon, ein bleicher kommt zurück. Der staatliche Leiter wertete es als Affront, dass Knothe den Chor veranlasst hatte, die Feierstunde zu verlassen, bevor die Nationalhymne gesungen worden war. Aus diesem Telefonat sind die Worte überliefert: „Wer geigt ist ein Geiger, wer provoziert, ein Provokateur!“
Und wer als Provokateur abgestempelt wurde, war Chorleiter Dietrich Knothe.

Vermutlich hatte eine Parteigruppe aus Kraftfahrern und ähnlichen Angestellten den Anlass genutzt, einen ihr als unnahbar erscheinenden und sich wenig volksverbunden gebenden Dirigenten zu diffamieren. Möglicherweise hätte eine Entschuldigung Knothes, auf die Rudolf Wünsche, der Vorsitzende der Chor-Gewerkschaftsgruppe, hinarbeitete, die Situation entschärft. Doch dazu war Dietrich Knothe nicht bereit, denn er wisse schließlich nicht, wofür er sich entschuldigen solle, schließlich habe er ja nichts getan.

So zieht der angebliche Affront des Chorleiters Knothe weitere Kreise. Knothe wird in die Berliner Nalepastraße zur Leitung des DDR-Rundfunks bestellt. Weil er sich nicht in der Lage fühlt, selbst in die Hauptstadt zu fahren, bittet er Siegfried Müller, Bassist im Rundfunkchor, ihn in seinem neuen PKW Wartburg nach Berlin zu fahren. Müller war zu diesem Dienst gern bereit, hatte dabei wohl auch den Gedanken im Hinterkopf, als Zeuge des Vorfalls für seinen Chef aussagen zu können. Jedoch wollte man in Berlin nur Knothe sprechen. Dieser kommt nach einer halben Stunde, wieder bleich, aus dem Besprechungsraum. Man hatte ihn fristlos entlassen.

 

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In einem Schreiben der Chefredaktion-Musik des Rundfunks der DDR wird der Leipziger Rundfunkchor angewiesen, in Zukunft nicht mehr mit Dietrich Knothe zusammenzuarbeiten
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Im Chorarchiv des MDR Rundfunkchores befindet sich noch ein Schreiben der Chefredaktion des Rundfunks. Darin wird dem Chor für die Zukunft jegliche Zusammenarbeit mit Dietrich Knothe untersagt. Das offizielle Entlassungsdatum war der 17. Oktober 1962.

Für Dietrich Knothe brach eine schwere Zeit an. Nach musikalischen Gelegenheitsarbeiten, unter anderem der schlecht bezahlten Leitung des Chores der Keksfabrik Wurzen, durfte er erst in den 1970er Jahren die Leitung der Berliner Singakademie übernehmen. Später rehabilitierte ihn sogar der DDR-Rundfunk und ernannte ihn zum Leiter des Rundfunkchores Berlin. Im April 1986 durfte Dietrich Knothe sogar wieder ein Konzert unter Mitwirkung des Rundfunkchores Leipzig dirigieren.

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Themen

VI-01  Chor-Chefdirigent Kegel
VI-02  Chorleiter Knothe
VI-03  Hochkarätige Gäste
VI-04  Musik für den Kino-Film
 •  VI-05  Der “Provokateur” Knothe

 

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