Gewandhausorchester-LogoGustav Brecher

Der Leipziger Generalmusikdirektor und Bürgerschreck dirigiert  1929

 

 

Opernkapellmeister Gustav Brecher dirigiert die „Freischütz“-Ouverüre

Gustav Brecher © Foto aus dem CD_Booklet - Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sammlung Cichorius

Gustav Brecher ist kein einfacher Zeitgenosse:
Er sucht die künstlerische Provokation und lässt sein Leipziger Opernhaus zur Uraufführungsstätte heftig umstrittener Opernschöpfungen werden. 1927 bringt Brecher Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ auf die Leipziger Bühne. Kurt Weills „Der Zar läßt sich photographieren“ und Ernst Kreneks „Das Leben des Orest“ folgen, bis dann bei der Uraufführung von Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ die Hölle losbricht.
© Foto aus dem CD-Booklet – Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sammlung Cichorius

Auf der Suche nach Leipziger Opernaufnahmen mit dem Gewandhausorchester stellte sich uns eine brennende Frage:
Wie weit zurück in der Geschichte des Leipziger Opernhauses würden wir gehen können?
Seit wann gibt es Schellack-Opernplatten mit dem Gewandhausorchester? Oder Rundfunkaufzeichnungen?

Zu Hilfe kamen uns alte vergilbte Aufnahmeprotokolle der Schallplattenfirma „Carl Lindström“.
Danach hatte es doch tatsächlich schon 1929 (!) eine Aufnahmesitzung des Gewandhausorchesters unter der Leitung des damaligen Generalmusikdirektors Gustav Brecher gegeben.
Jenem Brecher, der in die Leipziger Musikgeschichte wegen seiner progressiven Spielplanpolitik als „Bürgerschreck“ eingehen sollte und der schon Anfang März 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten pfeifend aus seinem Amt vertrieben worden war. Nichts mehr sollte an die Ära Brecher erinnern.

Schallplatten jener frühen Aufnahme unter seiner Stabführung konnten aber aus einem ganz anderen Grund nicht erscheinen: Während der Aufzeichnung hatte die fragile Technik völlig versagt.

Dann unser Jubelschrei:
Wir erfahren von einem Sammler aus Amerika, dass er eine dieser damals technisch verworfenen Aufnahmen besitze und unserer Edition Gewandhausorchester zur Verfügung stellen würde.

 

„Fabrikation beanstandet!“

Am 11. April 1929 wird erstmals mit der sinfonischen Besetzung des Gewandhausorchesters für ein Schallplattenlabel produziert. Es ist die „Carl Lindström AG“, die ihr modernes elektrisches Mikrophon von ihrem Berliner Stammsitz nach Leipzig mitgebracht hat. Als Aufnahmeort wird mit dem Großen Saal des Neuen Gewandhauses die traditionelle Leipziger Spielstätte des Gewandhausorchesters auserkoren. Am Dirigentenpult steht zu unserer Überraschung aber nicht der Gewandhauskapellmeister, sondern der Generalmusikdirektor des Leipziger Opernhauses, Gustav Brecher. Also ist auch der Zeitpunkt der Aufnahme bemerkenswert, denn Wilhelm Furtwängler hat sein Amt als Gewandhauskapellmeister vor gar nicht allzu langer Zeit aufgegeben und sein Nachfolger Bruno Walter hat es noch nicht angetreten. Für Brecher ist das wohl seine „Gunst der Stunde“ …

Eingespielt werden also 1929 unter Brechers Leitung die Symphonische Dichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss und die „Freischütz“- Ouvertüre von Carl Maria von Weber. Allerdings stellen sich schon während der Aufnahmen unlösbare Materialprobleme an den Wachsmatrizen ein. Laut Aufnahmeprotokoll wird die Strauss-Aufnahme deshalb „nachträglich verworfen“.
Immerhin lässt die Plattenfirma noch eine Abhörkopie pressen, aber diese wird „nur versuchweise angefertigt“.
Das war es dann also endgültig für das Strauss-Werk!
Etwas besser gelingt die Aufzeichnung der „Freischütz- Ouvertüre“ …

 

Protokollseiten aus dem Aufnahmebuch der Carl Lindström AG zum 10. April 1929. Hinter dem Namen des Generalmusikdirektors Gustav Brecher ist in anderer Handschrift vermerkt: „Nichtarier“! In der letzten Spalte „Bemerkungen“ wurde in die Zeilen zu den je- weiligen Matrizen von „Tod und Verklärung“ eingetragen: „nachtr. verworfen – 21. 11. 29“, „Wachs beschädigt eingegangen, wird nur versuchweise angefertigt – 10. 4. 29“, und zur „Freischütz“-Ouvertüre: „arbeitet zu stark“, „Fabrikation beanstandet – 27. 5.“

Protokollseiten aus dem Aufnahmebuch der Carl Lindström AG zum 10. April 1929. Hinter dem Namen des Generalmusikdirektors Gustav Brecher ist in anderer Handschrift vermerkt: „Nichtarier“! In der letzten Spalte „Bemerkungen“ wurde in die Zeilen zu den jeweiligen Matrizen von „Tod und Verklärung“ eingetragen: „nachtr. verworfen – 21. 11. 29“, „Wachs beschädigt eingegangen, wird nur versuchweise angefertigt – 10. 4. 29“, und zur „Freischütz“-Ouvertüre: „arbeitet zu stark“, „Fabrikation beanstandet – 27. 5.“

 

Das englische Parlophone-Label mit dem „Leipzig Gewandhaus Orchestra“

Aber auch für die „Freischütz“-Ouvertüre verrät das Aufnahmeprotokoll nachträglich: „Fabrikation beanstandet“.
Also bleiben sämtliche Platten dieser ersten Aufnahmesitzung des Gewandhausorchesters unveröffentlicht.
Während die Aufnahme-Matritzen von „Tod und Verklärung“ vermutlich noch in Leipzig an Ort und Stelle vernichtet werden, finden die ebenfalls verworfenen Matritzen mit der „Freischütz“-Ouvertüre den Weg über den Atlantik bis nach Amerika.

Dort sowie in England erscheinen schließlich 1931 – wenn auch nur für kurze Zeit – die Aufnahmen des „Leipzig Gewandhaus Orchestra“ im Handel: in England auf dem „Parlophone“-Label sowie in Amerika bei „US-Decca“!

Eine jener höchst seltenen Platten hat in Sammlerhand die turbulenten Zeiten überlebt und stand uns nun als Tondokument für die Edition Gewandhausorchester Vol. 2 zur Verfügung.
Gleichermaßen ein einmaliges Zeugnis zu Gustav Brechers Wirken in Leipzig und auf sinnstiftende Weise auch Wiedergutmachung und Heimkehr …

 

 

Das englische Parlophone-Label mit dem „Leipzig Gewand- haus Orchestra“

Das englische Parlophone-Label mit dem „Leipzig Gewandhaus Orchestra“

Carl Maria von Weber: Ouvertüre zum „Freischütz“
Gustav Brecher dirigiert das Gewandhausorchester
Aufnahme: Carl Lindström AG
am 11. April 1929 im Saal des Neuen Gewandhauses
Veröffentlicht 1931 als illegale Pressung ausschließlich in den USA und in England auf „Parlophone“

 

 

 

 

Besprechung der Entdeckung im Deutschlandfunk durch Claus Fischer

 

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