Die Aufführungen von Beethovens „Neunter“
zum 1. Mai im Leipziger Rundfunk
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Der Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig musizieren am 1. Mai 1951 vor der ausgebrannten Ruine des Opernhauses [Leipziger Neues Theater]
Foto: Album Gleisberg
Tradition mit Fragezeichen?
Seit etwa 1950 wurde die Konzertsaison des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig jeweils mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie beendet. 1958 erklang dieses Werk erstmals kurz vor dem 1. Mai, dem Internationalen Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, wie dieser Tag im Sprachgebrauch der DDR offiziell genannt wurde.
Bis zum Jahr 2000 wurde diese Tradition aufrecht erhalten, lediglich die Neunte 1992 durch die 7.Sinfonie von Beethoven ersetzt.
Schon 1953 versah der Rezensent der Leipziger Tageszeitung Union seine Kritik mit der Überschrift „Tradition mit Fragezeichen“. Es hieß dort:
„Traditionen bergen oft eine Gefahr. Selten nur treffen alle Momente wieder zusammen, die einst das Einmalige des künstlerischen Ereignisses bestimmten; die Spannkraft erlahmt, und die Tradition bleibt nur ein rein äußeres Bewahren dessen, was noch vor Jahren zu stärkster Erlebnishaftigkeit verdichtet schien.“

Herbert Kegel probt mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig am 6. April 1982
Foto: Eckart Kuschmitz – Nachlass Herbert Kegel
Dieses Schicksal versuchte der Leipziger Sender geschickt zu umgehen:
Einerseits wechselten die Dirigenten, und selbst als Chefdirigent Herbert Kegel 15 Jahre lang nur mit einer Unterbrechung das zur Tradition gewordene Konzert am 29.oder 30. April dirigierte, stellte er der Neunten stets ein Werk des 20. Jahrhunderts voran und vermittelte so einen Bezug zur Gegenwart. Dieser Kontrast ließ das letzte sinfonische Werk Beethovens jeweils in einem anderen Licht erscheinen: Schönbergs Melodram Ein Überlebender aus Warschau, Luigi Nonos Chorkomposition La Victoire de Guernica und Bohuslav Martinůs Orchesterwerk Mahnmahl für Lidiče, Günter Kochans Kantate Die Asche von Birkenau oder Krzysztof Pendereckis Orchesterwerk Threnos, Den Opfern von Hiroshima, und dessen Oratorium Dies irae – Zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz klagten die Gräuel des Zweiten Weltkrieges an oder nahmen Bezug auf die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit.
Die Motette Friede auf Erden von Arnold Schönberg thematisierte die umfassende Sehnsucht nach Frieden.
Mitschnitt einer Probe des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig zur 9. Sinfonie
Aufnahme: Rundfunk der DDR Sender Leipzig im April 1968
Auch die Chef- und Gastdirigenten nach Herbert Kegel blieben der Kombination eines modernen Werkes mit der 9. Sinfonie treu.
Ein Fragezeichen muss jedoch hinter die Werke gesetzt werden, die in den Jahren 1970 und 1971 der Neunten zur Seite gestellt wurden:
Aus Anlass von Wladimir Iljitsch Lenins 100. Geburtstag erklang mit Beethovens Klaviersonate Appassionata 1970 eine Lieblingskomposition des sowjetischen Revolutionärs und im folgenden Jahr das Lenin-Requiem von Paul Dessau.
Dem Rundfunkchor Leipzig wurde für die Aufführungen der Neunten in der Regel ein zweiter Chor zur Seite gestellt: meistens der Berliner Rundfunkchor (oder doch zumindest eine „Abordnung“ von 40 Stimmen), ab und an der Chor der Leipziger Oper und einmal sogar der Rundfunk-Jugendchor Wernigerode.
Erst nach der personellen Aufstockung des Leipziger Rundfunkchores und später unter der Ägide des Mitteldeutschen Rundfunks bestritt der Chor die Aufführungen des Werkes allein.
Auswahl von Programmzetteln der Konzerte mit Aufführungen der Neunten
zwischen 1964 und 2000
Dokumente: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Außer den jeweiligen Chefdirigenten dirigierten 1976 Chorleiter Horst Neumann, 1988 Chor-Chefdirigent Jörg-Peter Weigle sowie namhafte Gäste wie Heinz Rögner, Milan Horvat, Ken-Ichiro Kobayashi, Hartmut Haenchen, Heinz Wallberg oder Leopold Hager die Konzert am Vorabend des 1. Mai. Nunmehr als Gastdirigent, stand Herbert Kegel 1987 ein letztes Mal in der von ihm maßgeblich mitgeprägten Traditionsreihe vor „seinen“ Klangkörpern.
Allerdings setzte er mit seiner Bemerkung, man müsse die Neunte einmal für 10 Jahre verbieten, ein Fragezeichen hinter den Missbrauch dieses großen humanistischen Werkes für jeden beliebigen Anlass. Das Feuilleton der Rheinischen Post zitierte Kegel am 20. Februar 2004 mit den Worten:
„Noch immer sind Beethovens Visionen Aufgabe, schaut euch die Welt an. Mit Beethovens Neunter treibt man Schindluder.“
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 825. Jahrestag der Stadtgründung von Leipzig war geplant, statt der traditionellen Neunten die Deutsche Sinfonie des in Leipzig geborenen Hanns Eisler aufzuführen. Allerdings ist dieser Plan – sechs Monate nach der friedlichen Revolution – zu Gunsten von Beethovens Werk wieder aufgegeben worden.
Dass der Mitteldeutsche Rundfunk 2001 mit der Tradition brach, die 9. Sinfonie von Beethoven am Vorabend des 1. Mai aufzuführen, mag manchen Konzertbesucher vor den Kopf gestoßen haben. Unbewusst wollte man jedoch der von einem Rezensenten schon zu Beginn der 1950-er Jahre formulierten Gefahr mangelnder „Erlebnishaftigkeit“ und „Spannkraft“ sowie eines nur „rein äußeren Bewahrens“ entgegen wirken.
Herbert Kegel hat sich intensiv mit der 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens auseinandergesetzt.
1968 äußerte er sich zu seiner Interpretation des 1. Satzes, den er anschließend mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig probte:
Aufnahme: Rundfunk der DDR Sender Leipzig im April 1968
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