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„Nachtgesang“ in der Leipziger Peterskirche
Foto: MDR-Andreas Lander

 

Zauber zwischen Tod und Traum

Die „Nachtgesänge“ des MDR-Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

Ein klassisches Konzert, freitags, am späten Abend 22 Uhr, noch dazu mit moderner Chormusik, a cappella gesungen – wer geht da schon hin?

Eine große Fan-Gemeinde des MDR-Rundfunkchores ist es, die sich etwa drei Mal im Jahr in der Leipziger Peterskirche trifft, um emotional berührender, aufrüttelnder oder auch spiritueller, inspirierender Musik zu lauschen. Und dieses Wunder geschieht nun schon seit dem Herbst 2004 und nennt sich Nachtgesang. Aber ist es wirklich ein Wunder?

           Kritik der LVZ von Tobias Wolff zum 4. Nachtgesang „Kulisse: Nacht“ vom 9. Dezember 2005
           Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Wort und Werk

Das biblische Johannes-Evangelium beginnt mit dem Satz: „Im Anfang war das Wort.“
Wenn auch mit diesem Anfang der Beginn alles Seins gemeint sein mag, darf diese grundlegende Aussage auch auf den Beginn jeder menschlichen Schöpfung übertragen werden.
Was nicht aus einem „Wort“, einem Gedanken, einer Inspiration hervorkeimt, wird nicht lange Bestand haben können.
Das Wundersame der Nachtgesänge des MDR-Rundfunkchores erwächst aus der ihnen zugrunde liegenden Idee – dem „Wort“ – von Chordirektor Howard Arman 2004 entwickelt.

 

Risto Joost leitet die Generalprobe zum Nachtgesang am 18. Mai 2018
Foto: Rüdiger Koch

 

Ungewöhnliche Zeit …

… ungewöhnlicher Raum …

… ungewöhnliche Atmosphäre …

 

In einem Interview mit dem Gewandhausmagazin erläuterte Arman 2009, welche Gedanken ihn inspirierten, den Nachtgesängen gerade diese Form und diesen Inhalt zu geben:

Sie haben mit den »Nachtgesängen« Ihres Chores in der Peterskirche etwas Neues in Leipzig eingeführt. Hat Sie deren großer Erfolg überrascht?

Arman: Nein. Ich biete nicht etwas an in der Hoffnung, es wird angenommen, sondern ich versuche herauszufinden, was gebraucht wird. So stieß ich darauf, dass es für die jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 28 keine Konzertangebote in unserem Genre gibt. Ich habe zwei Söhne in diesem Alter und weiß, wie sie ihr Leben organisieren. Sie würden nie Konzertkarten zwei Monate im Voraus kaufen, nie eine Reihe von Konzerten abonnieren und nie in ein Konzert mit Anzug und Schlips gehen. Sie entscheiden am Abend spontan, wohin sie gehen, und 19 oder 19.30 Uhr ist nicht ihre Zeit. Auf all das und mehr noch haben wir uns mit den Nachtgesängen eingestellt. Sie beginnen 22 Uhr, der Eintritt ist frei; es gibt keine Programmankündigungen, sondern nur Plakate mit Datum, Uhrzeit und Ort, keine Einführungstexte, sondern die Werke müssen sich selbst erklären. Das stellt hohe Anforderungen an die Auswahl der Programme: Ich muss Werke mit einem starken theatralischen Akzent oder mit einem ausgeprägten Performance-Element finden. Denn der emotionale Eindruck ist alles bei diesen Konzerten.

Als Sie nach Leipzig kamen, hatte der Rundfunkchor eine eigene A-cappella-Reihe im Gewandhaus.

Arman: Die war denkbar schlecht besucht. Mir wurde damals gesagt, für Chor interessiere sich kaum jemand. Die Chorliteratur galt als abgenutzt und einer vergangenen Zeit zugehörig. Also habe ich mich gefragt: Wie kann man diese schöne Musik vergegenwärtigen? Das ist doch unser aller Ziel als Musiker: Musik zu vergegenwärtigen. So bin ich auf die stets wechselnde Form unserer Nachtgesänge gekommen: Die Kirche sieht jedes Mal anders aus, die Choraufstellung ist jedes Mal eine andere; die Besetzung variiert, die Beleuchtung wechselt; mal arbeiten wir mit Projektionen, mal mit Choreographien. Es freut mich ungemein, dass so viele junge Menschen völlig unbefangen in diese Konzerte kommen. Ich bin dankbar, dass sie es weiterhin bei freiem Eintritt tun können, und dafür werden wir auch in Zukunft kämpfen. Denn für Menschen, die nur über geringe finanzielle Mittel verfügen, steht Experimentelles weit unten auf der Liste. Ehe sie etwas auf Risiko ausprobieren, gönnen sie sich zunächst das, was sie kennen. Bei uns da­gegen können sie sich unbeschwert auf das Experiment einlassen. Dabei sollte es bleiben, und solange wir spüren, dass die Nachtgesänge einem Bedürfnis der jungen Menschen entsprechen, werden wir sie fortsetzen.

Das Exklusiv-Interview für das Gewandhausmagazin führte Claudius Böhm

 

„Kultstatus“

Die Peterskirche zu Leipzig
Chromolithographie von C. Schäffer aus „Das malerische Leipzig“, um 1898

Der Kerngedanke der Nachtgesänge bedeutet, dass alles sein darf, nichts nach einem Schema geschehen muss – Hauptsache ist, dass Musik und Darbietung berühren, relevant sind, „unter die Haut“ gehen.

Vielfältig sind die Programmideen:
Neben Rachmaninows Vesper op. 37 stand im folgenden Nachtgesang die Begegnung zwischen Jazz und dem „klassischen“ Chor zusammen mit dem Jazz-Ensemble Die Erben.
Auch der Raum der neogotischen Peterskirche spielt immer eine tragende Rolle und bot den Rahmen für kontemplative, spirituelle Musik: Tu es Petrus, Dolorosa, Totenmesse, Aus der Finsternis oder Ave Maria stella hätten in einem traditionellen Konzertsaal kaum die selbe Stimmung erzielt, wie in der Peterskirche.

Für das Auge bietet jeder Nachtgesang etwas besonderes:
Nicht nur, dass der Chor seine Position auf dem Podium innerhalb eines Konzerts entsprechend der jeweiligen Besetzung variiert. Auch die Emporen, die Seitenschiffe und der Altarraum hinter dem Podium nahmen Teile des Chores auf. Für die Zuhörer ungewohnt: eine kreisförmige Aufstellung des Rundfunkchores um das Publikum herum. Das Mysterienspiel Curlew River von Benjamin Britten wurde von den Herren des MDR-Rundfunkchores gar szenisch dargeboten.

 

„Nachtgesang“ in der Leipziger Peterskirche
Foto: MDR Christiane Höhne


Das Publikum als Akteur

Ja, das Publikum! Es darf wohl neben dem Chor als der zweite Hauptakteur der Nachtgesänge gelten. Die Zielgruppe der 18- bis 28-jährigen strömte in Scharen in die Peterskirche. Allerdings wagten sich auch ältere Semester zu später Stunde in die Leipziger Südvorstadt. Unter die Zuhörer mischten sich in den Nachtgesängen, die in manchen Jahren freitags vor Pfingsten gesungen wurden, auch viele in exquisite, schwarze Roben gekleidete Teilnehmer des Wave-Gotik-Treffens.

Chortenor Ansgar König schreibt anlässlich des 50. Nachtgesanges gegenüber MDR KLASSIK, das Publikum sei immer „… das großartigste. Da kommen Menschen am späten Freitagabend in die Peterskirche, um Chormusik zu hören. Sie kommen nicht, um zu konsumieren, sondern um Musik zu erspüren, zu erfühlen, zu erleben. Sie kommen nicht zu großen Dirigenten, Solistinnen oder Orchestern, sondern zu uns als Chor und zu mir als Chormitglied. Ich finde, dafür darf man dankbar und darauf auch stolz sein. Es ist über die Jahre ein freundschaftliches, geradezu intimes Verhältnis zwischen Chor und Publikum entstanden. Unsere Besucherinnen und Besucher lassen sich auf uns und ein für sie unbekanntes Programm ein und wir wissen, dass nur unser Bestes gut genug ist. Hier kommt nie Routine auf. Das Publikum – viele sind selbst Chorsänger/-innen, viele Freunde, Bekannte und Familie – ist durchaus fachlich versiert und kritisch. An dieser Stelle denke ich an Burghard, meinen alten Mentor; Barbara, die immer fragt, wann denn der nächste Nachtgesang ist, oder Barberina und Reinhold, die bei Wind und Wetter immer mit dem Fahrrad aus Schleußig kommen und keinen Nachtgesang verpassen. An dieser Stelle: Allen, die diese Nachtgesänge ermöglichen, und vor allem dem tollen Publikum gebührt ein großer Dank!“

Dass die Nachtgesänge des MDR-Rundfunkchores sehr schnell Kultstatus erlangten, ist auch an den langen Schlangen zu erkennen, die sich schon ab 21 Uhr vor dem Kirchenbau bilden. Oftmals reichen die als Eintrittskarten geltenden Konzertprogramme nicht aus, sodass die Plätze nicht für alle Interessierten ausreichen.

 

Ein Markenzeichen: Zeitgenössische Chormusik

 

Aus Anlass der Preisverleihung an die Komponisten der drei prämiierten Werke des Kompositionswettbewerbs fand am 16. April 2008 im Mediencampus Villa Ida eine Podiumsdiskussion über moderne Chormusik statt.
Auf dem Podium Grit Schulze, Klaus-Jürgen Kamprad, Peter Korfmacher, Steffen Schleiermacher, Howard Arman und Sebastian Reim (v.l.n.r.)
Foto: 
Rüdiger Koch

 

Ein Markenzeichen der Nachtgesänge ist der hohe Anteil an zeitgenössischer Chormusik.
Viele Werke wurden in dieser Reihe ur- oder erstaufgeführt und entstanden zum Teil als Auftragskompositionen des Chores.
Manche Nachtgesänge enthielten sogar mehrere Uraufführungen. So wurden im April 2008 die drei preisgekrönten Werke des vom Verein der Freunde und Förderer des MDR-Rundfunkchores ausgelobten Kompositionswettbewerbs präsentiert.

 

Die drei Dirigenten des Preisträgerkonzerts: Robert Blank, David Jones und Howard Arman (v.l.n.r.)
Foto: Rüdiger Koch

 

Im Juni 2010 verzeichnete das Konzertprogramm sogar sieben Uraufführungen:
Aus Anlass von Robert Schumanns 200. Geburtstag hatte Howard Arman sieben Passagen aus dem Gedicht Ungewisses Licht von Johann Christian Freiherr von Zedlitz an sieben Komponisten verlost. Schumann hatte den Text als Nummer 2 der Vier doppelchörigen Gesänge op. 141 vertont. Nach dem Prinzip eines Cadavre exquis schrieben Laurence Traiger, Howard Arman, Giles Swayne, Manfred Trojahn, Christopher Bowers-Broadbent, Jan Masanetz und Steffen Schleiermacher unabhängig voneinander sieben Kompositionen. Selbstverständlich sang der MDR-Chor auch Schumanns Vertonung des gesamten Textes.

 

Im 18. Nachtgesang „Cadavre exquis“ erklangen am 18. Juni 2010 Uraufführungen von Laurence Traiger, Manfred Trojan, Giles Swayne, Christopher Bowers- Broadbent, Jan Masanetz und Howard Arman
Foto: Rüdiger Koch

 

Tragenden Säulen

Die größte Wirkung erzielen die Nachtgesänge auf das live an den Konzerten teilnehmende Publikum. In den Programmen von MDR KLASSIK und MDR KULTUR werden die Nachtgesänge regelmäßig übertragen und teilweise auch im Internet-Angebot des MDR gestreamt – und helfen somit, den Programmauftrag des Mitteldeutschen Rundfunks zu erfüllen.

Die Nachtgesänge des MDR-Rundfunkchores Leipzig sind sozusagen ein Gesamtkunstwerk. Jeder Bestandteil ist sinnvoll und nicht aus dem Grundgedanken wegzudenken. Bräche eine der Säulen, auf denen der Gedanke der Reihe gründet, weg, könnte dies das langsame Sterben oder gar den Tod der Nachtgesänge bedeuten.
Zum 50. Nachtgesang wurde Howard Arman als Gastdirgent eingeladen und in diesem Konzert zum Ehrendirigent des MDR-Rundfunkchores ernannt.

Möge Howard Armans Traum noch lange Wirklichkeit bleiben!

 

 

Das Chormagazin von MDR Kultur zum 50. Nachtgesang


MDR KULTUR-Moderatorin Grit Schulze
im Gespräch mit Howard Arman, Antje Moldenhauer-Schrell, Bettina Reinke-Welsh, Albrecht Sack und Sebastian Reim

Aufnahme: MDR KULTUR 15. November 2019

 

 

 

   Die Nachtgesänge von Oktober 2004 bis Februar 2013

 

   Die Nachtgesänge von April 2013 bis Januar 2020

 

Uraufführungen in den Nachtgesängen

Siegfried Thiele und Howard Arman während einer Probe zum Nachtgesang vom 13. November 2009, in dem Thieles „Wolkenbilder-Chöre“ aufgeführt wurden.
Foto: Rüdiger Koch

 

   Die Ur- und Erstaufführungen

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