Ein neuer Anfang … [IV-01]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Der Leipziger Augustusplatz mit der Ruine des ausgebrannten Opernhauses [Leipziger Neues Theater] am 1. Mai 1946.
In dieser Atmosphäre sang der neue Chor seine ersten beiden Konzerte
Foto: Sammlung Rüdiger Koch
Seiteninhalt
→ Die „Trümmer“ des Chores
→ Eine Chorgründung von “unten”
→ Die ersten Nachkriegskonzerte
→ Personelle Verbindungen in die Vergangenheit
→ Vergessene oder eher verdrängte Jahrzehnte?
→ DOKUMENTE: Programmzettel und Anstellungsverträge 1946
Mit dem Ende des Krieges war die Welt eine andere geworden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse hatten sich grundlegend gewandelt. Deutschland war von den vier Siegermächten besetzt. Österreich wurde wieder ein eigener Staat. Die Städte lagen in Trümmern. Die Männer, die den Krieg überlebt hatten, befanden sich zum größten Teil in Gefangenschaft. Die Last des Alltags lag auf den Schultern der Frauen.
Was war aus den Leipziger Rundfunk-Chorsängern geworden, die am Ende des Jahres 1942 ihre Tätigkeit, ihren Chor verloren hatten?
• Heinrich Born wird 1947 aus der Gefangenschaft nach Leipzig entlassen, zieht es jedoch vor, die sowjetische Besatzungszone zu verlassen, und geht noch im selben Jahr nach Baden-Baden, wo er Inspizient beim Rundfunk wird.
• Ähnlich ergeht es Heinz Degen, der sich bald in Aachen niederlässt, um dort Chorsänger und Inspizient am Theater zu werden.
• Friedrich Schmidt kommt schon im August 1945 wieder nach Hause, nimmt ein Engagement am Deutschen Nationaltheater in Weimar an und ist dort bis 1949 tätig.
• Mary Trautner, die zunächst Sängerin im Bruckner-Chor gewesen war, den sie aber bald wieder verlassen hatte, singt im August 1945 im Gewandhaus die Altpartie in Händels „Messias“, muss also noch Beziehungen zu Leipzig gehabt haben. Wenig später geht sie nach München, um dort bis zu ihrer Pensionierung im Chor des Bayerischen Rundfunks zu singen.
• Hans Remagen und Maria Winkler-Schmitz waren schon 1942 bzw. 1943 nach Berlin-Charlottenburg gezogen, wo sich ihre Spuren verlieren.
• Käthe Jena lebt nach dem Kriege in Taucha bei Leipzig, wo sie 1998 stirbt.
• Dorothea Schröder, Ursula Thate und Emmy Daehne verlassen schon bald den Bruckner-Chor in Linz und kehren nach Hause zurück.
• Leonore Eichhorn gehörte zwar formal dem Bruckner-Chor an, hielt sich aber längere Zeit in der Universitäts-Nervenklinik in Jena auf. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
• Erich Purfürst wurde wegen des Eintretens für den Bruckner-Chor-Assistenten Johannes Rietz aus dem Chor entfernt und nach Leipzig versetzt.
• Die Spuren von Julius Ester verlieren sich 1943 in Prag.
• Friedrich Fahrig nimmt nach dem Kriege seinen Beruf als Lehrer wieder auf und soll am heutigen Ostwald-Gymnasium in Leipzig unterrichtet haben.
• Käthe Brinkmann und Edith Haßelmann scheinen sich mit ihren Familien von 1943 bis 1945 in Leipzig aufgehalten zu haben.
• Hans Heimbach und Richard Einhorn kehren 1946 und 1947 aus der Gefangenschaft nach Leipzig zurück.
• Hans-Herbert Weigel hatte bei der Abordnung des Chores nach München sein Arbeitsverhältnis gelöst und eine Stelle als Gesangslehrer an der Niedersächsischen Musikschule in Braunschweig angenommen. 1945 kehrt auch er in seine Heimatstadt zurück.
• Charlotte Hein, Marie-Käthe Herre, Walter Kretschmar, Erhard Neukirch und Albert Schwarzburger bleiben beim Rest des Bruckner-Chores in Linz, bis das geschrumpfte Ensemble wie alle Deutschen Österreich verlassen muss.
Auf Initiative eines aus Korntal bei Stuttgart stammenden Sängers siedelt dieser aus 14 Mitgliedern bestehende Restchor Ende Oktober 1945 nach Korntal um und arbeitet dort noch einige Jahre weiter, nach 1948 sogar unter der Leitung von Hans-Herbert Weigel, der mit seiner Ehefrau und Kollegin Annelies Gläser am Ende des Jahres 1947 nach Stuttgart übersiedelt.
• Charlotte Hein kehrt schon bald nach Linz zurück, heiratet den Vizepräsidenten der österreichischen Bundesbahnen, bleibt nach dessen Tod in Österreich und stirbt 1986 in Wels.
• Marie-Käthe Herre und Erhard Neukirch werden in den Südfunk-Chor engagiert, in dem die Altistin bis zu ihrem Freitod im Jahre 1957 singt. Neukirch scheidet nach einem knappen Jahr wieder aus, gründet eine Firma und stirbt um 1950 an den Folgen eines Unfalls. Walter Kretschmar wird von 1947 bis 1951 Leiter des Kammerchores von Radio Stuttgart, dem heutigen SWR Vokalensemble, und ist danach als Tonmeister beim Süddeutschen Rundfunk bis zu seiner Pensionierung beschäftigt. Er stirbt 1976 in Stuttgart.
Der Dirigent Heinrich Werlé erlebt das Kriegsende in Nossen. Dorthin ist das Pädagogische Institut der Leipziger Universität, noch immer seine Wirkungsstätte, nach der Zerstörung des Institutsgebäudes im Leipziger Süden ausgelagert worden.
So schnell wie er am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, wird er nun am 15. September 1945 Mitglied der KPD und leitet von Mai bis zu seiner Rückkehr nach Leipzig am Ende des Jahres 1945 das Kulturamt der Stadt Nossen.
In Leipzig versucht Werlé, sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen, bewirbt sich beim neu gegründeten Mitteldeutschen Rundfunk und wird ab 16. Mai 1946 als Referent für Chormusik eingestellt. Damit bekleidet er nun genau die Position, die er auch schon zu Beginn der dreißiger Jahre bei der MIRAG bzw. beim Reichssender Leipzig innegehabt hatte.
Es muss ihm bewusst gewesen sein, dass auch der neue Sender nicht ohne einen eigenen Chor auskommen würde; schließlich waren die meisten Tonkonserven im Krieg vernichtet worden, das Repertoire hatte sich gewandelt, eine neue Interpretengeneration begann heranzuwachsen. Und an die Tradition des Vorkriegsrundfunks, der durch seine Einbindung in die Propagandamaschinerie des NS-Systems kompromittierte war, wollte ohnehin niemand anknüpfen.
So geht Heinrich Werlé, der sich selbst gern in der Rolle des Leipziger Rundfunk-Chordirigenten sehen wollte, in die Offensive. Er sucht sich Gleichgesinnte unter den Mitgliedern des Vorkriegschores und findet diese in Käthe Brinkmann, Hans-Herbert Weigel und Erich Purfürst.
Diese Gruppe nimmt Kontakt zu anderen ehemaligen Chormitgliedern auf und bewegt junge Sängerinnen und Sänger zur Mitwirkung in einem neu zu gründenden Kammerchor.
Die ersten Auftritte waren für den 1. Mai 1946 geplant. Am 14. April 1946 lädt Heinrich Werlé die angeworbenen Sängerinnen und Sänger zu einer Besprechung in seine Wohnung ein.
Die Einladungskarte an Käthe Brinkmann hat sich erhalten:
„Werte Frau Brinkmann, ich erwarte Sie zu gemeinsamer Besprechung aller an der Ausgestaltung des 1. Mai (und später) Beteiligten am Mittwoch, 17. 4., 17 Uhr, in meiner Wohnung. Die beiden Mai(Parallel-)Veranstaltungen finden im Süden hier statt, und zwar ab 18 Uhr. Mit freundlichen Grüßen: Ihr Heinrich Werlé“
Die Bemerkung „…(und später)…“ belegt, dass sich die Sängerinnen und Sänger nicht nur für die einmalige Ausgestaltung zweier Maifeiern zusammenfinden wollten, sondern dass die gemeinsame Arbeit weitergehen sollte. Aus der Sicht der musikalischen Oberleitung des Senders stellte sich rückblickend die Neugründung des Chores und seine Anbindung an den Mitteldeutschen Rundfunk folgendermaßen dar:
„Herr Werlé machte uns nach kurzer Tätigkeit auf die von ihm geleitete … Leipziger Solistenvereinigung aufmerksam, in der die besten Leipziger Konzertsänger und -sängerinnen zu einem Kammerchor zusammengefasst waren. Nach Abhören dieser stimmlich gut besetzten Vereinigung, entschloss sich der Rundfunk, sie als Rundfunkchor fest zu übernehmen und Herrn Werlé zusätzlich mit der Leitung der ‚Solistenvereinigung des Senders Leipzig‘ zu betrauen.“

Programmzettel der ersten beiden Neugründungskonzerte des Leipziger Rundfunkchores am 1. Mai 1946
Dokument: ALR
So markieren die beiden Auftritte in Maifeiern der SED am 1. Mai 1946 den Wiederbeginn der Leipziger Rundfunk-Chorarbeit.

Bestätigungsschreiben der Anstellung von Altistin Margot Naumann, geb. Gleisberg durch den Mitteldeutschen Rundfunk
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch
Eine Übernahme des Chores durch den Sender erfolgt am 1. August 1946.
Die erste Sängerin, die vom Mitteldeutschen Rundfunk direkt angestellt wurde, ohne vorher schon dem Kammerchor angehört zu haben, war die Altistin Margot Gleisberg.
Sie berichtete, dass ihr Vorsingen Mitte Juli bereits in den Räumen des Rundfunks in der Leipziger Springerstraße und in Anwesenheit von leitenden Mitarbeitern der musikalischen Oberleitung stattfand.
Die Übernahme des Chores war also kein kurzfristig gefasster Entschluss des Rundfunks, sondern eine durchdachte und länger geplante Entscheidung.
→ DOKUMENTE: Programmzettel und Anstellungsverträge 1946

Diese Sänger unterstützten den Dirigenten Heinrich Werlé bei der Suche nach geeigneten Chormitgliedern
Hans-Herbert Weigel – Erich Purfürst – Käthe Brinkmann
Fotos: Hochschule für Musik Leipzig I Sammlung Claus-Peter Schöbel
Personelle Verbindungen in die Vergangenheit
Aus der Vorkriegsgeneration der Chormitglieder gehören Dorothea Schröder, Ursula Thate, Käthe Brinkmann, Irmgard Fritzsche, Erich Purfürst und Hans-Herbert Weigel dem neu gegründeten Rundfunkchor an.
Bis 1947 stoßen auch Hans Heimbach und Richard Einhorn wieder dazu.
Edith Haßelmann findet sich nur noch auf der Liste des Aushilfschores, ebenfalls Irmgard Genzel-Roehling, die über den Bruckner-Chor in Beziehung zum Rundfunkchor gekommen war.
Die Namen anderer Sängerinnen und Sänger, die häufig als Solisten im Programm der MIRAG und des Reichssenders Leipzig auftraten, oft in Verbindung mit dem Chor, werden nun feste Mitglieder:
Mathilde Achtelik, Annemarie Claus-Schöbel, Richard Reinelt und Friedrich Härtel.
Es darf vermutet werden, dass sie, oder doch wenigstens einige von ihnen, vor 1941 dem Aushilfskreis des Rundfunkchores angehört hatten. Wenn auch Heinrich Werlé wegen Überschreitung seiner Dienstbefugnisse, mangelnder Führungsqualitäten und nicht erfüllter Erwartungen in seine künstlerischen und dirigentischen Fähigkeiten nur bis zum 30. November 1946 der Leiter des Chores blieb, gebührt ihm das Verdienst, in einer schwierigen Zeit die Initiative ergriffen und unter Einbindung nicht weniger Chormitglieder aus der Vorkriegszeit den Leipziger Rundfunkchor neu ins Leben gerufen zu haben.
Vergessene oder eher verdrängte Jahrzehnte?
Interessant ist die Frage, warum die Wurzeln des Rundfunkchores Leipzig nicht schon früher entdeckt wurden und warum die Chormitglieder der ersten Nachkriegsgeneration, von denen eine nicht geringe Anzahl die Entwicklungen vor dem Krieg mitgemacht und Erinnerungen an diese Zeit hatte, die Vorkriegsgeschichte verdrängte und den 1. Mai 1946 stets als den Gründungstag des Rundfunkchores feierte.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete eine tiefe, kaum zu erfassende Zäsur in der deutschen Geschichte: Die Bevölkerung war durcheinander gewirbelt worden, unzählige Männer waren als Soldaten auf den Schlachtfeldern und viele Zivilisten bei Angriffen in den Städten umgekommen, alle Werte und Strukturen hatten sich verändert.
In der Zeit nach dem Kriege war zunächst eines wichtig: das materielle Leben zu sichern, zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben. In dieser Zeit bedeutete es eine ungeheure Leistung, einen Chor zu gründen! Und so waren die Neugründungsväter und -mütter berechtigter Weise stolz auf das von ihnen Geschaffene.
Nach dem Kriege hieß es, den Alltag zu bewältigen und den Blick nach vor zu richten, anstatt in die Vergangenheit.
Und welche Vergangenheit ist das gewesen! Konnte, wollte man sich überhaupt an eine Zeit erinnern, die man auch damals schon als eine der dunkelsten in der deutschen Geschichte begriff?
Fest steht auch, dass ein Anknüpfen an die Traditionen der Vorkriegszeit seitens der Leitung des DDR-Rundfunks verpönt war und dass die Rundfunkgeschichte kaum differenziert betrachtet wurde. So schrieb der stellvertretende Intendant Fehling im Vorwort der kleinen Festschrift „25 Jahre Mitteldeutscher Rundfunk“, die der Sender 1949 immerhin herausgegeben hatte:
„Skrupelloser Geschäftssinn und politische Verantwortungslosigkeit ließen auch den Rundfunk zum Wegbereiter des deutschen Faschismus werden. Der damit beginnende unerhörte kulturelle Abstieg folgte dem des deutschen Volkes …“
Mit dieser generellen Abwertung aller Leistungen aus der Zeit vor 1945 wurden nicht nur Namen wie die Alfred Szendreis oder Hans Weisbachs aus dem Bewusstsein des Chores und der Öffentlichkeit verdrängt, es wurden auch die Wurzeln des Leipziger Rundfunkchores vergessen, was besonders schade ist, weil der Leipziger Rundfunkchor eine ganz besondere Stellung innerhalb der deutschen Rundfunkchöre einnimmt.
→ WEITER [IV-02]: AUFBAUJAHRE UNTER HORST-KARL HESSEL
Auferstanden aus Ruinen
• IV-01 Ein neue Anfang
→ IV-02 Aufbaujahre unter Horst Karl Hessel
→ IV-03 Erste Aufnahmen und Konzerte
→ IV-04 Das Proben-„Lokal“ Ballhaus Reichshallen
→ IV-05 Wir bauen einen Sendesaal
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