Der Anfang vom Ende [II-03]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1941-1943
von Rüdiger Koch
Als Leipziger Rundfunkchor aufgelöst und abkommandiert
Der Ausdünnung der deutschen Rundfunkchöre wird zunächst dadurch begegnet, dass sie nicht etwa ganz aufgelöst, sondern „für die Zeit des Krieges“ zu anderen Reichssendern „abgeordnet“ werden.
So kommen die Leipziger Rundfunkmusiker und -sänger zum Reichssender nach München, im April 1941 zunächst das Orchester und im Mai desselben Jahres schließlich auch der Chor.

Titelseite der Hauszeitung ehemaliger Rundfunkmitarbeiter „Das leere Haus“, 1941
Mit Blick auf die verwaisten Räumlichkeiten des Funkhauses Markt 8 nennen sie ihre Monatszeitschrift „Das leere Haus“. Sie fungiert zugleich als Kontakt- und Feldpostadresse aller abgeordneten oder einberufenen ehemaligen Rundfunk-Kollegen und wird größtenteils durch Berichte aus Feldpostbriefen sowie Erlebnissen der nach München abkommandierten Musiker bestückt. Trotz miserabler Papierqualität ist die Publikation unter den europaweit verstreuten Mitarbeiten hochbeliebt.
Dokument: Orchesterarchiv
Unter der Überschrift „Unsere Maifeier“ berichtet „Das leere Haus“ im Juni 1941:
„Sogar die Kameradinnen und Kameraden vom Chor hatten es sich zum größten Teil nicht nehmen lassen, mit uns auszufliegen, obwohl sie zwei Tage später gen München starten mussten.“
Organisatorisch gehörten die Musiker und Sänger immer noch zum Leipziger Sender und wurden auch noch von Leipzig bezahlt, lediglich ihr Arbeitsort hatte sich geändert. Im selben Heft der Betriebs- und Feldpostzeitung wird ein Brief von Fritz Schröder aus München abgedruckt:
„… und das Orchester glänzt hier genauso, wie es in Leipzig schon immer der Fall war… Vor ungefähr vier Wochen wurde das Orchester hier durch unseren Intendanten, Herrn Stueber feierlich übergeben, und gestern wiederholte sich dasselbe mit dem Chor.“
Alexander Schettler berichtet im Februar 1942 stolz aus München:
„Wenn der RS München heute mit zahlreichen Eigensendungen am Reichsprogramm beteiligt ist, wenn er in KdF- und Wehrmachtkonzerten öffentlich im Münchner Musikleben mitwirkt, so kennzeichnet das nur den Grad der geistigen Einbürgerung unseres Leipziger Rundfunkorchesters und Rundfunkchores…“
Spuren aus der Zeit der Abordnung konnten bisher weder im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks noch in Münchner Tageszeitungen und Adressbüchern wiedergefunden werden.
Erst nach der offiziellen Auflösung des Orchesters des Reichssenders Leipzig finden sich einige der ehemaligen Leipziger Orchestermusiker auf den Gehalts- und Personallisten des Münchner Reichssenders wieder.
Zu diesem Zeitpunkt war der Leipziger Rundfunkchor jedoch schon aufgelöst!
Der Chor im nationalsozialistischen Gefüge
Der Chor des Reichssenders Leipzig war, sein Name deutet schon darauf hin, in das Gefüge des nationalsozialistischen Systems eingebunden. Deshalb muss die Frage gestellt werden, inwieweit die braune Diktatur das Leben der einzelnen Chormitglieder und das Wirken des Chores als Ganzes beeinflusst hat.
Gab es beispielsweise Sängerinnen und Sänger, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung oder ihrer politischen Ansichten aus dem Ensemble entfernt oder erst gar nicht aus dem Leipziger Solistenchor in den Chor des Reichssenders Leipzig übernommen wurden?
Die Beantwortung dieser Frage wird dadurch erschwert, dass die Leipziger Rundfunk-Chormitglieder erst im Herbst des Jahres 1935 fest beim Sender angestellt wurden. Jüdische oder andere unliebsame Kollegen wären also gar nicht erst in den Chor aufgenommen worden.
Bisher konnten keine Hinweise darauf gefunden werden, dass Chormitglieder aus den genannten Gründen den Chor verlassen mussten oder unter Repressionen zu leiden hatten.
Allerdings bedeutet diese Aussage nicht, dass es keine schwerwiegenden Auswirkungen auf das Leben Einzelner gegeben hat.
Zunächst bedeutete die Gleichschaltung im Rundfunk für den Leipziger Rundfunkchor in der damaligen Entwicklungsphase mehr Sicherheit:
Wie die Sängerinnen und Sänger der anderen Sender auch, erhielten die Leipziger Chormitglieder nun feste Arbeitsverträge. Ob sie zwischen 1935 und 1942 gedrängt wurden, Mitglieder der NSDAP zu werden, ist ebenfalls nicht zu sagen.
Es steht nach einer Aussage von Irene Groschopp lediglich fest, dass ihr damaliger Gesangslehrer, der Rundfunk-Chorsänger Hans-Herbert Weigel, häufig in SA-Uniform auftrat und somit auch Mitglied der Nazipartei gewesen ist.
Auch der Dirigent Heinrich Werlé und der Chorleiter Curt Kretzschmar waren Mitglieder der Nazipartei. Die Auswirkungen der Parteimitgliedschaft von Kretzschmar auf den Chor wurden in den biografischen Anmerkungen zu seiner Person bereits genannt.

Eine „Kraft durch Freude“-Rundfunk-Übertragung mit Militärkapellen und dem Chor des Reichssenders Leipzig im Leipziger Rüstungsbetrieb HASAG, 1940
Das Programm wird „brauner“
Auch im Repertoire spiegeln sich die veränderten Verhältnisse wider. So taucht ab 1935 ab und zu nationalsozialistisches Liedgut im Programm des Chores auf, ohne allerdings die anderen Programmbestandteile zu verdrängen, wenn man davon absieht, dass die Werke jüdischer Komponisten generell nicht mehr geboten werden durften.
Insgesamt lässt sich nach dem derzeitigen Kenntnisstand sagen, dass der Leipziger Rundfunkchor während des Dritten Reiches wie alle Kulturinsitutionen in das nationalsozialistische System eingebunden war. Die gravierendste und für die Chorgeschichte schlimmste Folge des Nationalsozialismus stellt die Auflösung des Chores und damit die Unterbrechung der Rundfunk-Chorarbeit für dreieinhalb Jahre dar …
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Übersicht zu den Chronik-Themen
→ Der Leipziger Rundfunkchor der Mitteldeutschen Rundfunk AG · 1924-1932
• Der Chor des Reichssenders Leipzig · 1933-1943
→ Leipziger Rundfunk-Chorsänger im Reichs-Bruckner-Chor · 1943-1945
→ Ein neuer Anfang · 1945 IN ARBEIT
→ Jahresübersicht zum Leipziger Rundfunkchor
→ Literaturverzeichnis I Quellen I Dank IN ARBEIT
Rüdiger Kochs Rundfunkchor-Chronik beruht im Kern auf der Broschüre „Erster kurzer Abriss der Frühgeschichte des MDR Rundfunkchores von 1924 – 1946“, in der im Dezember 2002 die ersten Ergebnisse zusammengefasst wurden und die im März 2003 in einer zweiten Auflage unter dem Titel „Material zu einer Frühgeschichte des MDR Rundfunkchores Leipzig von 1924 – 1946“ aktualisiert wurde.
Unsere multimediale Chronik berücksichtigt die seither gewonnenen Erkenntnisse.
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Die Chronik des Leipziger Rundfunkchores entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt und Potsdam Babelsberg.
Wir bedanken uns bei den DRA-Mitarbeitern Frau Christiane Poos-Breir und Herrn Jörg Wyrschowy für wichtige Archiv-Dokumentationen.
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