„Du Kopf ohne Glieder“ [II-04]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1941-1943
Ein Zwischenruf von Steffen Lieberwirth
„Geh nur, ich erkenne Dein Ziel schon …“
Kriegsbedingt müssen der Chor und das Orchester im April und Mai 1941 ihre Arbeit einstellen.
Die beiden Ensembles werden als Körperschaften aufgelöst. Und auch der Leipziger Sender muss seinen Sendebetrieb einstellen und wird geschlossen.
Was bleibt, ist „Das leere Haus“, die Mitarbeiter- und Feldpostzeitung mit ihrem selbsterklärenden Namen.
Deren Titel zeigt eine morbide Fassade.
Ein Vorhängeschloss an der Eingangstür trägt Symbolcharakter.
Dass es sich um das Leipziger Funkhaus handeln muss, verrät die Hausnummer „Markt 8“ sowie ein angeschnittenes Schild links der Tür mit den letzten verbliebenen Buchstaben:
Reichsrundfunk GmbH
Sender Leipzig
„… denn Dich regiert ein Dämon!“
Da muss es wohl wie ein Schwanengesang anmuten, dass noch einen Monat zuvor, im März 1941 die ersten und einzigen und gleichzeitig letzten kommerziellen Schallplattenaufnahmen vor Kriegsende im angestammten großen Gewandhaussaal mit den beiden Rundfunkensembles zustande kommen. Vier Titel werden für „Electrola“ ins Aufnahmewachs geschnitten – und als die sechs Monate später in den Handel kommen, sind Chor, Orchester und der gesamte Reichssender Leipzig bereits Geschichte.

ELECTROLA-Monatsnachtrag für September 1941 mit der Erstankündigung der ersten Schallplatte aus der Aufnahmesitzung vom März 1941
Dokument: Sammlung Jens Uwe Völmecke
An Zufälle zu glauben, scheint in Anbetracht der gewonnenen Erkenntnisse zur Stimmung der entlassenen oder versetzten Rundfunkmitarbeiter zu einfach, zumal auch die für die Aufnahmen ausgewählte „spezielle“ Literatur vor diesem Hintergrund nahezu gespenstisch und wie ein Grabgesang wirkt.
Produziert werden also zwei Platten, vier Seiten von denen drei den stimmgewaltigen Bariton Josef Herrmann von der Dresdner Semperoper, der schon zuvor oftmals als Gast bei Reichssender Leipzig aufgetreten war, in den künstlerischen Mittelpunkt stellen.
Mit dem ersten Titel dieser Aufnahmesitzung setzt sich der einstige Intendant des Reichssenders, Carl Stueber selbst noch „ein Denkmal“, indem er den Text zu Puccinis „Hymne an Rom“ verfasst. Politisch stramm zeitgemäß – das versteht sich von selbst.
Puccini: Hymne an Rom
Text: Carl Stueber, Intendant des Reichssenders Leipzig
Solist: Josef Herrmann, Staatsoper Dresden
Dirigent: Reinhold Merten
Orchester und Chor des Reichssenders Leipzig
Originaltonträger: ELECTROLA im Neuen Gewandhaus Leipzig, ca. März 1941
D.B. 5642 Matritzen-Nr. 2RA 4962
Sammlung: Dr. Jens Uwe Völmecke
Dann aber kommt es auf der Plattenrückseite faustdick:
In der „Anrufung des Mondes“ aus Puccinis Oper „Turandot“, für dessen Wiedergabe mit dem Rundfunkchor und dem Sinfonieorchester noch einmal alle künstlerischen Kräfte des von der Abwicklung betroffenen Leipziger Senders aufgeboten werden, setzt der deutsche Librettotext der Oper einen geradezu gespenstischen Kontrapunkt.
Du Kopf ohne Glieder!
Komm, du trister Geselle!
Du Gott des Schweigens!
Bleicher Buhle der Toten!
Schon erwartet der Friedhof
dein Totenlicht!
Puccini: Turandot
daraus: Anrufung des Mondes
Orchester und Chor des Reichssenders Leipzig
Dirigent: Reinhold Merten
Originaltonträger: ELECTROLA im Neuen Gewandhaus Leipzig, ca. März 1941
D.B. 5642 Matritzen-Nr. 2RA 4963
Sammlung: Dr. Jens Uwe Völmecke
Josef Herrmann in der Rolle des dämonischen Polizeipräfekten Scarpia – eine seiner Paraderollen ohnehin und ein Paradestück für den Rundfunkchor, der in dieser Szene noch einmal zur Höchstform aufläuft. Auch die Auswahl dieses „Te Deums“ aus Puccinis „Tosca“ für die Aufnahmesitzung ist sicher kein Zufall, klingen doch die Glocken zu Beginn wie ein Grabgeläut. Wer die Oper kennt weiß, dass mit dieser Szene das Unheil seinen Lauf nimmt.
Puccini: Tosca
daraus: Te Deum
Scarpia: Josef Herrmann, Staatsoper Dresden
Dirigent: Reinhold Merten
Orchester und Chor des Reichssenders Leipzig
Walcker-Orgel des Großen Saals im Neun Gewandhaus Leipzig
Originaltonträger: ELECTROLA im Neuen Gewandhaus Leipzig, ca. März 1941
D.B. 5647 Matritzen-Nr. 2RA 4964
Sammlung: Dr. Jens Uwe Völmecke
„Geh nur, ich erkenne Dein Ziel schon,
denn Dich regiert ein Dämon!“
Mit solcher beredten Prophezeiung beginnt der wiederum brilliant gestaltende Josef Herrmann das Credo des Jago in Verdis Otello.
Versteckt sich darin womöglich eine versteckte Verabschiedung der zum Reichssender München abkommandierten Kollegen aus dem Chor und dem Orchester?
Wir wissen es nicht. Aber ein sehr zwiespältiges und nahezu gespenstiges Gefühl bleibt in uns Nachgeborenen beim Hören dieser Aufnahmen doch zurück …
Verdi: Otello
daraus: Ich glaube an einen Gott Credo des Jago
Jago: Josef Herrmann, Staatsoper Dresden
Dirigent: Reinhold Merten
Orchester des Reichssenders Leipzig
Originaltonträger: ELECTROLA im Neuen Gewandhaus Leipzig, ca. März 1941
D.B. 5647 Matritzen-Nr. 2RA 4964
Sammlung: Dr. Jens Uwe Völmecke
Alles Andere, als Goebbelssches Radio-Propaganda-Gedröhn und Unterhaltungs-Gedudel
Wir können hier vier Schallplattenaufnahmen erleben, die in höchst schwieriger Zeit entstanden sind. Geschweige denn, heute nachvollziehen zu können, was zwischenmenschlich in den Köpfen und Herzen der vor der Abwicklung ihres Lebensexistenz stehenden künstlerischen Mitarbeiter vorgegangen sein wird.
Was wurde hier für eine Literatur aufgenommen, in einer Zeit unmenschlichsten Sterbens, für die der Propagandminister doch eigentlich Unterhaltungsmusik verordnet hatte!
Die beiden ELECTROLA-Platten sind noch in anderer Hinsicht Raritäten:
Bedenkt man, dass kriegsbedingt beim Kauf jeder Schallplatte zwei alte Schellack-Platten beim Händler abzugeben waren, kann man leicht die Zahl der potentiellen Käuferschaft abschätzen und damit auf die Seltenheit der Originale schließen.

Erklärung der ELECTROLA zur Abgabe zwei alter Schellack-Platten beim Kauf einer neuen Platte
Dokument: Sammlung Jens Uwe Völmecke
Ein Letztes: Erhalten geblieben ist uns mit diesen beiden und einzigen Schellackplatten ein einzigartiges Zeitdokument aus dunkler Zeit. Einem sinnlosen Krieg geopfert wurden neben dem Chor, dem Kinderchor und dem Orchester nicht nur die drei Rundfunkklangkörper sondern auch das Leipziger Funkhaus Markt 8, die Wiederauer Sendeanlagen und das Gewandhaus mitsamt seiner markanten Walcker-Orgel, die in Puccinis Tosca-Te Deum letztmalig zum Einsatz kam. All das ging im Feuer des Bombenangriffs auf Leipzig 1943 unter!
Steffen Lieberwirth
Dank an Dr. Jens Uwe Völmecke für die Unterstützung bei der Bereitstellung der Schallplatten und für einen anregenden Gedankenaustausch.
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Übersicht zu den Chronik-Themen
→ Der Leipziger Rundfunkchor der Mitteldeutschen Rundfunk AG · 1924-1932
→ Der Leipziger Solistenchor · 1933-1935
→ Der Chor des Reichssenders Leipzig · 1935-1943
→ Leipziger Rundfunk-Chorsänger im Reichs-Bruckner-Chor · 1943-1945
→ Ein neuer Anfang · 1945 IN ARBEIT
→ Jahresübersicht zum Leipziger Rundfunkchor
→ Literaturverzeichnis I Quellen I Dank IN ARBEIT
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