Dem Dirigenten Herbert Kegel zum 100. Geburtstag

 

Herbert Kegel beim Abhören während der Produktion des Werkes „Engführung“ von Paul-Heinz Dittrich im Studio „Lukaskirche“ in Dresden, 1987
Foto: Barbara Stroff – Nachlass Herbert Kegel im Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Ein Egozentriker mit weichem Menschheitsherzen
von Rolf Richter

Es sind wohl nicht wenige Leipziger Konzertbesucher gewesen, die dank Herbert Kegels und seinem Dramaturgen Fritz Hennenberg einst Zugang zur Musik des 20. Jahrhunderts fanden.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat der Dirigent wie kaum ein anderer der Neuen Musik in seinen Konzerten Raum gegeben. Dessau, Dallapiccola, Henze, Lutosławski, Nono, Penderecki, Wagner-Régeny und andere waren gar als Dirigenten eigener Werke präsent.

Titelseite der DDR-Fernsehzeitung „Funk und Fernsehen“ im Oktober 1961
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch

Wer erinnert sich nicht, als vor der DDR-Erstauffühung von Henzes „Floß der Medusa“ im Rundfunkhaus in der Springerstraße in nahezu allen Räumen geprobt wurde:
Von Kettenrasseln, Schreien, wunderbaren Tönen bis zu einzelnen Instrumenten war die Vielfalt der Musik zu hören, ehe dann dieses mitreißende Werk das Publikum in der Kongresshalle zu Bravorufen und Ovationen hinriss.
Kegel gab der DDR-Avantgarde von Goldmann bis Schenker eine Chance. Komponisten wie Berg, Blacher, Britten, Hindemith, Mahler, Prokofjew, Orff, Schönberg oder Schostakowitsch hatten in ihm einen sensiblen und überaus kompetenten Sachwalter ihres Schaffens.

Wer erinnert sich nicht an die Schenker-Uraufführung „Electrization für Jazzgruppe und großes Orchester“:
Es rumorte im Publikum, Aufhörlaute gingen durch den Saal. Man versuchte mit Applaus das Konzert zu unterbrechen.
Kegel blieb ruhig, drehte sich um und ermahnte die Störer mit den Worten. „Wenn Sie nicht sofort aufhören und sich die Komposition bis zum Schluss ruhig anhören, beginnen wir nochmal von vorn.“
Es wurde still, ein paar Leute verließen türschlagend den Saal und am Abschluss gab es Bravo- und Buhrufe für Friedrich Schenker, der sie lächelnd entgegennahm.

 

Probenbesprechung mit den Solo-Streichern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig
Prof. Anton Spieler, Cello; Alfred Lipka, Bratsche; Erwin Müller, Kontrabass; Joachim Hantzschk, 1. Violine; Herbert Kegel; Otto Krieg, 2. Violine (v.l.n.r.)
Dokument: DDR-Fernsehzeitung „Funk und Fernsehen“ im Oktober 1960- Sammlung Rüdiger Koch

Ernennungsurkunde zum Generalmusikdirektor von 1958
Dokument: Nachlass Herbert Kegel im Archiv des Leipziger Rundfunkchores

An den Dirigenten Herbert Kegel, der vor drei Jahrzehnten durch Suizid aus dem Leben schied, erinnert in Leipzig beschämend wenig.
Der am 29. Juli 1920 in Dresden-Zschachwitz geborene Schüler von Boris Blacher und Karl Böhm hatte von 1935 bis 1940 am Konservatorium seiner Heimatstadt im Hauptfach Klavier sowie in der Chormeisterschule studiert, ehe er in den Krieg ziehen musste. Schussverletzungen an der linken Hand zerstörten seine Pianisten-Karriere.
Über Pirna und Rostock kam er 1949 zum Mitteldeutschen Rundfunk, Sender Leipzig, als Chorleiter des Rundfunkchores und Kapellmeister. Vier Jahre später war er Chefdirigent des Großen Rundfunkorchesters und des Rundfunkchores, ehe er ab 1960 für 18 Jahre mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester und dem Rundfunkchor das Musikleben im In- und Ausland mit außergewöhnlichen Konzerten bereicherte. Bereits 1958 war er der jüngste DDR-Generalmusikdirektor und lebte mit seiner Familie (Frau und drei Kindern) in Leipzig-Gohlis und später in Leutzsch.

 

SLIDESHOW
mit Fotos von Barbara Stroff, Eckart Kuschmitz und privat
aus dem Archiv des Leipziger Rundfunkchores

Der Dirigent, der Musiker und Sänger bei den Proben zuweilen bis an die Grenze der Erschöpfung trieb, war ein fanatischer, übergenauer Musiker, ein präziser Arbeiter. Selbstdarstellung und Pultvirtuosität waren ihm fremd. So wurde er zu einem sensiblen und überaus kompetenten Sachwalter der Musik des 20. Jahrhunderts, der auch die Klassiker von Beethoven, Mozart bis Wagner verehrte. Das beweisen Konzertprogramme und Funkaufnahmen.
Eine konzertante Aufführung von „Parsifal“ mit René Kollo, Theo Adam, Gisela Sehröter sowie weiteren exzellenten Solisten gehörte Anfang der 70er Jahre in der Messestadt zu den musikalischen Sternstunden. Eine Gesamtaufnahme erinnert daran. Zeitlebens war der Künstler ein Kämpfer gegen das Kleinkarierte.
Der Musikkritiker Gerhard Müller, einst Dramaturg an der Komischen Oper Berlin und am Gewandhaus, schrieb in einem Nachruf:
„Herbert Kegel trug viele Gesichter. Er konnte in Gesellschaft ein heiterer, unerschöpflicher Anekdotenerzähler sein, oft war er auch in sich gekehrt, depressiv, stumm, mürrisch, eigensinnig.
Er war freundlich und saugrob, sachlich und völlig unsachlich, ein
Egozentriker mit einem weichem Menschheitsherzen, unberechenbar und dickschädelig“.

Wenn das Publikum bei manch einer seiner glanzvollen konzertanten Opernaufführungen in der Kongresshalle („Moses und Aaron“, „Wozzeck“, „Zauberflöte“ „Fledermaus“, „Der Mond“) vor Begeisterung außer sich war, dämpfte er die Ovationen, indem er die Partitur zur Hand nahm und mit dem Taktstock darauf zeigte: Nicht Orchester, Chor, Solisten und ihm, sondern einzig und allein dem Komponisten gebühre der Ruhm. Dazu gehörten auch erschütternde und berührende Aufführungen von Brittens „War Requiem“ oder der „Jüdischen Chronik (Gemeinschaftswerk von Dessau, Henze, Wagner-Régeny; Hartmann).

 

Seine Aufführungen der Neunten Sinfonie am Vorabend des 1. Mai koppelte er immer mit einem zeitgenössischen Werk wie etwa Schönbergs „Ein Überlebender von Warschau“, Dessaus „Vietnam Gesänge“, Martinus „Lidice“, Nonos „La Victoire de Guernica“ oder Pendereckis „Dies irae“. Und seinem geliebten Rundfunkchor, den er zu einem der weltbesten Solistenvereinigungen formte, deren Mitwirkung sich Kollegen von  Herbert von Karajan bis Carlos Kleiber (Horst Neumann hatte meist die Einstudierung übernommen) für Operngesamtaufnahmen mit Weltstars sicherten, hielt er bis zuletzt die Treue. Hin und wieder zog es ihn auch in den Orchestergraben. War es im Leipziger Opernhaus nur Wagners „Tannhäuser“, hatte er an der Deutschen Staatsoper Berlin jährlich zuweilen bis zu 40 Dirigate unterschiedlichster Art.
Nach seinem Weggang aus Leipzig dirigierte er als Chef bis 1985 die Dresdener Philharmonie. Gastspiele im In- und Ausland, unzählige Rundfunkaufnahmen, Schallplatten und CD haben seinen internationalen Ruf konserviert. Der heutige MDR-Rundfunkchor ist noch dank ihm und seiner Nachfolger weltweit geschätzt.

Von seinen drei Kindern aus erster Ehe mit Käthe ist der Sohn ein bekannter Leipziger Arzt geworden. Aus der zweiten Ehe mit der Sopranistin Celestina Casapietra stammt der Tenor Björn Casapietra. Die Hallenser Sopranistin Eva Haßbecker ist die Mutter seines dritten Sohnes, des Gitarristen Uwe Haßbecker von Silly.

 

Ein Quartett aus Herren des MDR-Rundfunkchores Leipzig (Andreas Fischer, Thomas Neumann, Sven-Wieland Staps, Thomas Oertel-Gormanns v.l.n.r.) singt 2011 zur Benennung einer Leipziger Straße in „Kegelweg“
Foto: privat – Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Es ist bedauerlich, dass in der Stadt Leipzig außer einem Kegelweg – den Vornamen ließ man einfachhalber gleich weg – nichts an diesen Maestro erinnert.
Ein Glück, dass es die Japaner gibt! Dort feiert der Künstler seit Jahren auf CD und DVD seine künstlerische Auferstehung.
Zudem hat Edel classics ihm eine Kassette mit 15 CD gewidmet, eine wunderbare Melange aus seinem Repertoire, darunter Schönbergs „Gurre-Lieder“ und „Moses und Aron“ sowie Orffs fulminante „Carmina burana“.

 

Arnold Schönberg: Seht, die Sonne aus den „Gurre-Liedern“

 

Seht, die Sonne (Gemischter Chor)
Rundfunkchor Berlin · Einstudierung: Dietrich Knothe
Rundfunkchor Leipzig · Einstudierung: Jörg-Peter Weigle
Prager Männerchor · Einstudierung; Miroslav Košler
Dresdner Philharmonie
Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme: VEB Deutsche Schallplatte
in der Dresdner Lukaskirche am 5. August 1989
Recording Producer: Heinz Wegener
Balance Engineer: Claus Strüben
Recording Engineer: Horst-Dieter Käppler

 

Die Grabstätte Herbert Kegels und seiner Eltern auf dem Friedhof Dresden Zschachwitz
Foto: privat – Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 


 

Eine Präsentation der FREUNDE UND FÖRDERER DES MDR-RUNDFUNKCHORES Leipzig e.V. 

 

 

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