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„Wer kennet ihre Namen?“
                             (Johann Wolfgang von Goethe: „Der Sänger“)

 

Irmgard Genzel-Roehling Sopran

Besuch bei einer alten Dame

von Rüdiger Koch

 

Der Name Irmgard Roehling war mir von vielen Anwesenheits- und Auszahlungslisten aus der Zeit um 1950 und aus einer Monografie über den Bruckner-Chor bekannt.

Als ich durch Prof. Hans-Joachim Rotzsch im März 2003 erfuhr, dass diese seit 60 Jahren mit dem deutschen Rundfunkchorwesen verbundene Sängerin 99-jährig in Berlin lebt, ließ ich keine Zeit verstreichen, machte sie ausfindig und besuchte Irmgard Genzel-Roehling im April 2003 in ihrer Wohnung in einem Haus der Caritas in Berlin-Schöneberg. Dort begegnete mir eine von innen heraus strahlende, zufriedene und mit beinahe mädchenhaftem Charme behaftete alte Dame. Zwar war ihre Erinnerung nicht mehr allzu scharf, doch bestätigte sie mir ihre Mitgliedschaft im Bruckner-Chor, erinnerte sich gern an den jungen Herbert Kegel und freute sich sichtlich über diesen späten Gruß aus den Reihen des Leipziger Rundfunkchores. So entstand aus dem Gespräch mit Frau Genzel-Roehling und ihrer Tochter, aus der Betrachtung vergilbter Programmzettel und Kritiken sowie von Klavierauszügen, welche die Daten von Konzerten enthielten, das plastische Bild einer interessanten Sängerkarriere.

Geboren wurde Irmgard Roehling am 21. Januar 1904 in Graz als Tochter eines aus Sachsen stammenden evangelischen Pfarrers, der dort unter den Bedingungen der Diaspora tätig sein wollte.
In Graz und Wien aufgewachsen, studierte sie von 1927 – 1930 am Leipziger Konservatorium das Hauptfach Gesang zunächst bei Oscar Laßner und später bei Fritz Polster.
Nach dem Studium entfaltete Irmgard Genzel-Roehling, inzwischen mit dem Gewandhausmusiker und Primarius des Genzel-Quartetts, Franz Genzel, verheiratet, eine umfangreiche Konzerttätigkeit über Leipzig hinaus bis nach Österreich.
Auch mit dem inzwischen aus den Kinderschuhen herausgewachsenen Medium Rundfunk machte die junge Sängerin bald Bekanntschaft. Sehr häufig übernahm sie die Sopransoli bei der Übertragung sämtlicher Bach-Kantaten mit dem Thomanerchor unter Karl Straube, einem Projekt, das der Leipziger Sender ab 1931 als so genannte Reichssendung deutschlandweit übertrug. Andere Mitwirkende dabei waren übrigens der Oboer Rudi Kempe, der unter dem Namen Rudolf Kempe später eine internationale Dirigentenlaufbahn einschlagen sollte und der vielseitige Tonkünstler Friedbert Sammler als Continuo-Spieler, der letzte Leiter des Leipziger Rundfunkchores vor dem Zweiten Weltkrieg.
Im Jahre 1943 trat Irmgard Genzel-Roehling, vermutlich auf Empfehlung von Günther Ramin, ein Engagement im „Bruckner-Chor St. Florian des Großdeutschen Rundfunks“ an. In diesem Chor wurde nach der Auflösung der Rundfunkchöre bei den einzelnen Sendern die Rundfunk-Chorarbeit unter anderen Vorzeichen fortgesetzt.
Allerdings verließ die inzwischen allein erziehende Mutter das Ensemble bei dessen Verlegung von Leipzig nach Linz wieder.

Wann Irmgard Genzel-Roehling nach Beendigung des Krieges Kontakt zum neu gegründeten Rundfunkchor bekam, ist nicht mehr genau festzustellen. In den ersten erhalten gebliebenen Nachkriegsunterlagen des Chores aus dem Jahre 1949 ist ihr Name schon als Aushilfssängerin verzeichnet und trat als solcher fast ununterbrochen bis 1955 auf.
Hier traf sie Kolleginnen wieder, die schon mit ihr zusammen im Bruckner-Chor gesungen hatten: ihre Kusine, die bekannte Altistin Dorothea Schröder, und die Sopranistin Ursula Thate.

In der umfangreichen Sammlung von Programmzetteln von Frau Genzel-Roehling fand sich aus dieser Zeit der Hinweis auf ein gemeinsames Konzert mit dem jungen, seine internationale Laufbahn beginnenden Bariton Dietrich Fischer-Dieskau.
1951 bewarb sich die Sängerin um ein festes Engagement im Rundfunkchor Leipzig, bestand das Vorsingen – wurde jedoch nie engagiert.
Vermutlich sind politische oder religiöse Gründe für diese Entscheidung des Staatlichen Rundfunkkomitees ausschlaggebend gewesen.
Neben ihrer Aushilfstätigkeit im Rundfunkchor Leipzig unterrichtete Irmgard Genzel-Roehling ab 1952 das Fach Gesang an der Kirchenmusikschule in Halle.
Von 1960 bis 1965 wirkte sie als Gesangslehrerin am Institut für Musikerziehung der Humboldt-Universität in Berlin und ab 1965 als Gesangs- und Blockflötenlehrerin an verschiedenen Westberliner Musikschulen.

 

Irmgard Genzel-Röhling während einer Hausmusik an ihrem 100. Geburtstag.
Foto: Familienfoto privat

Ursprünglich für einen Zeitraum von ein bis zwei Stunden geplant, verging die Zeit während meines Besuches bei Frau Genzel-Roehling wie im Fluge. Als ich mich nach vier Stunden von ihr verabschiedete, nahm ich das Bild einer bescheidenen alten Dame mit nach Hause, die in Dankbarkeit auf ein nicht leichtes und doch in heiterer Gelassenheit gemeistertes Leben zurück blickte.

Wenige Monate nach ihrem 100. Geburtstag starb die Sängerin Irmgard Genzel-Roehling nach kurzer Krankheit am 07. April 2004 in Berlin.

 

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