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Der MDR Chor – ältester Rundfunkchor Deutschlands ?

Chronik des Leipziger Rundfunkchores  Ein Vergleich

von Rüdiger Koch

 

 

Berlin oder Leipzig?

Interessant und wichtig ist es, die Geschichte des Leipziger Rundfunkchores mit der des Rundfunkchores Berlin zu vergleichen. Ein Vergleich mit den frühen Jahren der anderen deutschen Rundfunkchöre erscheint weniger lohnend, weil die anderen Sender nach dem Berliner und Leipziger entstanden sind und sich die Chöre dieser Anstalten auch erst später herausbildeten.

Um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen, muss zunächst der Begriff des Rundfunkchores definiert werden:
Als Rundfunkchor kann ein Chor verstanden werden, der ausschließlich oder vorwiegend mit den chorischen Aufgaben eines oder auch mehrerer Rundfunksender betraut ist.
Im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fügt sich ein Rundfunkchor in die Aufgaben des Senders ein, die diesem allgemein durch den Bildungsauftrag des Rundfunks und speziell durch einen Staatsvertrag zugewiesen sind.
Das Kriterium der Funktion, also ganz im Sinne des Namens ein Chor für den Rundfunk zu sein, liegt dieser Begriffsbestimmung zu Grunde.
Nun könnten andere Kriterien gänzlich oder zusätzlich für die Definition herangezogen werden, wie beispielsweise das formal-juristische Kriterium der festen Anstellung der Chormitglieder bei einem Sender.
Das Kriterium der Festanstellung ist jedoch ein sehr formales, das an der Praxis des Radiohörens vorbeigeht:
Für die Hörer an den Lautsprechern ist es irrelevant, ob die Sängerinnen und Sänger eines Rundfunkchores fest beim Sender angestellt sind oder nicht. Die Anwendung dieses Kriteriums würde bedeuten, dass der Rundfunkchor Berlin, der zweifelsohne viele Aufgaben im Rundfunk zu erfüllen hat, nicht als Rundfunkchor angesehen werden dürfte, weil seine Mitglieder nicht bei einem Sender, sondern bei einer GmbH angestellt sind, die nur zum Teil vom Rundfunk getragen wird.

Das formale Kriterium der Festanstellung anzuwenden hieße auch, das Leipziger Sinfonieorchester und die Leipziger Oratorienvereinigung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht als Rundfunk-Klangkörper aufzufassen.
Die MIRAG hätte ihren Ruf, der bedeutendste deutsche Musiksender zu sein, dann also ohne Klangkörper erworben.

 

Der Rundfunkchor Leipzig

Der MDR Rundfunkchor in der Leipziger Peterskirche
© Foto: Christiane Höhne

 

Die angeführten Beispiele mögen zeigen, dass es das Sinnvollste ist, die Funktion, Chor für den Rundfunk zu sein, als wesentlichstes Kriterium für die Bestimmung eines Rundfunkchores heranzuziehen.
Wendet man diese Definition auf die verschiedenen Phasen der Leipziger Rundfunk-Chorentwicklung an, so muss festgestellt werden, dass sowohl die Leipziger Oratorienvereinigung als auch der Leipziger Solistenchor und der Chor des Reichssenders Leipzig in ihrer Funktion Rundfunkchöre gewesen sind.

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Das Leipziger Sinfonieorchester und der Leipziger Rundfunkchor mit dem Musikchef der MIRAG in dem zum Rundfunkstudio umfunktionierten Saal der Alten Handelsbörse in Leipzig, um 1926
© Foto: Sammlung Lieberwirth

Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass es seit dem 14. Dezember 1924 ununterbrochen einen Rundfunkchor in Leipzig gegeben hat. Die Auflösung während des Zweiten Weltkrieges geschah administrativ und nicht aufgrund mangelnder künstlerischer Leistungen. Wie bei allen anderen während des Krieges aufgelösten Kulturinstitutionen darf diese Lücke deshalb außer Acht gelassen werden.
Sängerinnen und Sänger aus allen Etappen der Vorkriegsentwicklung gehörten nach 1945 dem neu gegründeten Chor an. Dr. Helmuth Weise war sowohl Sänger in der Oratorienvereinigung als auch im Nachkriegsrundfunkchor.
Das Gleiche trifft möglicherweise auch auf Käthe Brinkmann zu. Erich Purfürst, Hans-Herbert Weigel, Hans Heimbach und Käthe Brinkmann gehörten gleichermaßen dem Leipziger Solistenchor und dem neu gegründeten Rundfunkchor an. Die personellen Beziehungen zwischen den Phasen Chor des Reichssenders Leipzig und Rundfunkchor Leipzig wurden bereits aufgezeigt.

 

Der Rundfunkchor Berlin

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Der Rundfunkchor Berlin
© Foto: Jonas Holthaus

Wie hatte sich nun die Rundfunkchor-Entwicklung in Berlin vollzogen?
Bis zum Beginn der neunziger Jahre hatte der Rundfunkchor Berlin sein Gründungsjahr mit 1945 angegeben.

Erst intensive Forschungen von Werner Eberhardt, bis vor wenigen Jahren Sänger im Berliner Rundfunkchor, belegen jedoch, dass es bereits ab 1925 einen Rundfunkchor in Berlin gegeben hatte.
Daraus wird der Schluss abgeleitet, dass der Berliner Rundfunkchor der älteste deutsche Rundfunkchor ist.
Die Verantwortlichen der Berliner Funk-Stunde profitierten von Inflation und Wirtschaftskrise, indem sie in der ersten Hälfte des Jahres 1925 fast den gesamten Chor der kurz zuvor geschlossenen Großen Volksoper einschließlich des Chorleiters für den Sender verpflichteten. Ab dem 1. Mai 1925 erhielten die 20 Sängerinnen und Sänger feste Anstellungsverträge beim Rundfunk.

Der Berliner Funkchor unter der Leitung von Hugo Rüdel im Sendraum des Funkhauses, 1926 © Foto: DRA

Der Berliner Funkchor unter der Leitung von Hugo Rüdel im Sendraum des Funkhauses, 1926
© Foto: DRA

Die erste Sendung mit diesem Chor ging sechs Wochen später, am 14. Juni 1925, über den Äther. „Ganz im Sinne der musikalischen Vorgeschichte des Ensembles waren es Opern und Operetten, die das Programm des Chores in dieser Zeit wesentlich bestimmten“.
Als sein Gründungsdatum begreift der Berliner Rundfunkchor den 1. Mai 1925. Die Summe des Abschlusses von ca. 20 Anstellungsverträgen für die Chormitglieder wird als der Gründungsakt des Chores angesehen.
Man bewegt sich hier also auf der juristischen Ebene. Immerhin findet auch der funktionale Aspekt mit dem Hinweis auf die in zeitlichem Zusammenhang zu den Vertragsabschlüssen stehende erste Sendung mit dem Chor Beachtung.
Marcus Fischer beschreibt in einem Beitrag in der Festschrift zum 75-jährigen Chorjubiläum, in dem er sich auf die Arbeiten von Eberhardt stützt, das Werden des Ensembles als einen kontinuierlichen Prozess bis zur Auflösung aller Rundfunkchöre im Jahre 1942.
Nach einem scharfen Schnitt lässt er die Geschichtsschreibung mit dem Frühjahr 1945 neu beginnen:
„Von der Idee beseelt dort anzuknüpfen wo zwölf Jahre zuvor eine Entwicklung zu Ende gekommen war, machte er [Helmut Koch] sich im Frühjahr 1945 auf die Suche nach jenen 25 Sängerinnen und Sängern, aus denen schon wenig später die ‚Berliner Solistenvereinigung’ hervorgehen sollte.“
Die Initiative zur Berliner Chorneugründung ging von einem Dirigenten aus, der vor dem Zweiten Weltkrieg noch keine engen Beziehungen zum Berliner Funkchor hatte.
Der neu gegründeten Solistenvereinigung Berlin gehörte nach dem Kriege mit dem Tenor August Richter nur ein Sänger des ehemaligen Funkchores an.

 

Ein Vergleich

Ein Vergleich der beiden Entwicklungen lässt zunächst eine Gemeinsamkeit erkennen:
Sowohl in Berlin als auch in Leipzig wurde auf Bestehendes zurückgegriffen, hier auf Sängerinnen und Sänger aus dem Gewandhauschor, dort auf einen gewachsenen Opernchor.
Aber es existieren auch Unterschiede: Während das Repertoire des Berliner Funkchores deutliche Ähnlichkeiten mit dem eines Opernchores aufweist, ist die Domäne der Leipziger Oratorienvereinigung das Oratorium, ohne allerdings das Genre der Oper auszuschließen.
Ein weiterer Unterschied ist die Stellung der Chormitglieder.
In Berlin sind sie fest bei der Funkstunde angestellt, in Leipzig auf Honorarbasis tätig.
Und schließlich unterscheiden sich die beiden Ensembles im Zeitpunkt ihres Tätigkeitsbeginns:
Der Berliner Funkchor wurde formal am 1. Mai 1925 gegründet und sang am 14. Juni 1925 erstmals im Programm. Der Leipziger Rundfunkchor, die Leipziger Oratorienvereinigung, trat am 14. Dezember 1924 erstmals in einer Oratoriensendung der MIRAG auf, ist also etwa ein halbes Jahr älter als der Berliner Rundfunkchor und darf deshalb mit Fug und Recht als der älteste deutsche Rundfunkchor bezeichnet werden.

Viele Jahrzehnte Rundfunkchor in Leipzig bedeuten gleichermaßen auch Jahrzehnte Beständigkeit im Streben nach besten musikalischen Leistungen wie die ständige Bereitschaft, sich veränderten technischen, musikalischen und gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Diese vielen Jahre Rundfunkchor in Leipzig wären unmöglich gewesen ohne das Bewusstsein der Chormitglieder, einem hervorragenden Ensemble anzugehören, ohne den steten Einsatz der Vorstände für den Leipziger Rundfunkchor, ohne nach vorn schauende Dirigenten wie den Chorgründer Alfred Szendrei und ohne das Bekenntnis des jeweiligen Senders zu seinem Chor.

   MULTIMEDIA-CHRONIK DES LEIPZIGER RUNDFUNKCHORES