Vom Sender Leipzig
zum Mitteldeutschen Rundfunk [XXII]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
SLIDESHOW: Das Funkhaus in der Springerstraße im November 1990
Kreativität bei Sachsen Radio versus Zentralismus der „Einrichtung“ XXII-04
Am 1. Juli 1990 hatte SACHSEN RADIO unter seinem Direktor Manfred Müller einen rasanten Start hingelegt:
„So schnell konnten viele gar nicht gucken, wie Manfred Müller die Fäden zog.
Die ARD war noch im Stutzen begriffen, da hatte er schon die Unterstützung durch die Nachrichtenkorrespondenten der BBC gesichert … MaMü [Manfred Müller. R. K.] wusste, dass Ideen Charme verbreiten können und viele – sicher nicht alle – seine Schachzüge hatten einen gewinnenden Charme, und er selbst war von einer ansteckenden Fleißigkeit …
In 90 Tagen drei neue Rundfunkprogramme zu kreieren, das machte ihm keiner nach …
So einer konnte schon den später eingesetzten Rundfunkverweser Rudolf Mühlfenzl zur Verzweiflung bringen, weil er eben nicht abbauen wollte, sondern den Rundfunkbetrieb stemmte, auf dem wenig später der MDR-Hörfunk aufsetzte.“

Beitrag der LVZ aus dem Jahr 1990 zu Aufbau-Ideen für einen geplanten Mitteldeutschen Rundfunk
Dokument: Sammlung Lieberwirth
Der Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten hatte sich im Sommer 1990 rasant beschleunigt.
Nachdem die Volkskammer am 23. August den Beitritt beschlossen hatte, wird schon am 31. August der Einigungsvertrag unterzeichnet.
Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verzichten am 12. September in Moskau auf ihre Rechte im vereinten Deutschland. Der Einheitsvertrag behandelt den Rundfunk in Artikel 36:
„Der ‚Rundfunk der DDR‘ und der ‚Deutsche Fernsehfunk‘ werden als gemeinschaftliche staatsunabhängige, rechtsfähige Einrichtungen … bis spätestens 31. Dezember 1991 weitergeführt …“
Bis zu diesem Termin sollte die Einrichtung nach Maßgabe der föderalen Struktur des Rundfunks durch gemeinsamen Staatsvertrag aufgelöst oder in Anstalten des öffentlichen Rechts einzelner oder mehrerer Länder überführt werden

Beitrag der LVZ vom 15. Februar 1991 zur Zerschlagung des 1990 auf Länderbasis neu gegründeten Sächsischen Rundfunks
Dokument: Sammlung Lieberwirth
Für den Fall, dass ein Staatsvertrag nicht zustande gekommen wäre, hätte dies das Ende der „Einrichtung“ bedeutet. Der Einigungsvertrag sah vor, dass ein Rundfunkbeauftragter der Einrichtung nach Artikel 36 vorstehen sollte. Dazu wurde Rudolf Mühlfenzl berufen, dessen undankbare Aufgabe letzten Endes darin bestand, den DDR-Rundfunk und die sich bereits auf Länderbasis gegründeten jungen Sender, wie SACHSEN III KULTUR (wieder) aufzulösen.
Sollten zuvor Länder durch Staatsverträge Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts schaffen – um so besser!
Mühlfenzl entledigte sich seiner Arbeit vor allem durch knallharte Dienstanweisungen.
Der Rundfunkbeauftragte Rudolf Mühlfenzl zu seiner Aufgabe der Abwicklung des Rundfunks und Fernsehens in den Jahren 1990/91

Kommentar von Holm Felber in der LVZ vom 24. April 1991 zu den Zerschlagungsbestrebungen des 1990 neu gegründeten sächsischen Rundfunks
Dokument Sammlung Lieberwirth
In Berlin gab es also (wieder) eine zentrale Instanz, die abbauen wollte und musste.
In Leipzig hingegen wirkte mit Landesrundfunkdirektor Müller ein kreativer Heißsporn, dem es darum ging, ohne Rücksicht auf parteipolitisches Kalkül, aufzubauen, Rundfunk zu machen und Grundlagen für den späteren Mitteldeutschen Rundfunk zu schaffen. So nannte er sein Zukunftskonzept im März 1991 auch Programm und Personal des Mitteldeutschen Rundfunks. Darin findet sich unter anderem die Bemerkung:
„Bei SACHSEN RADIO leisten die Mitarbeiter gegenwärtig mehr als das Doppelte von dem Umfang der Arbeitsleistung beim Deutschlandfunk – gleichzeitig sind die Bezüge in Köln viermal so hoch wie in Sachsen.“ (S. 17)
Für die Klangkörper empfahl er ein fünfjähriges Moratorium. Danach wolle man weitersehen.
Das waren andere Töne als sie Mühlfenzl in Nachfolge der Generalintendanz des DDR-Rundfunks anschlug.
Auf der einen Seite Mühlfenzl, auf der anderen Müller – das konnte nicht lange gutgehen.
Am 19. April 1991 traf im Leipziger Funkhaus die fristlose Entlassung Müllers per Fax (!) ein. Das war für ihn nichts Neues, wurde er doch schon in der DDR mehrmals von den jeweils Mächtigen entlassen.

Besorgt um die Existenz des Leipziger Rundfunkchores: Artikel von Elmar Krekkler in der „Welt“ vom 26. Januar 1990
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch
Ungeachtet von Mühlfenzls strategischem Wüten werden die Sachsen Radio-Programme unbeirrt weitergeführt. Und das, obwohl niemand wissen kann, was die Zukunft bringen wird:
Trotz solcher Zukunftsängste bleibt der Rundfunkchor gut beschäftigt.
Die Vereinigung schlägt sich auch im Repertoire nieder: Im Oktober 1990 dirigiert Masur das Requiem von Andrew Lloyd Webber in einem Gewandhauskonzert.
Es folgen Konzerte unter der Leitung von Wolfgang Scheidt (Dvořák: Stabat mater), Rilling (Haydn: Die Jahreszeiten), Horst Neumann (C. Ph. E. Bach: Magnificat), Max Pommer (der in Madrid und Barcelona im Dezember drei Konzerte des Messias leitet), Bernhard Klee (Bruckner: f-Moll-Messe) sowie des Franzosen Jacques Mercier (Ravel: Suiten 1 und 2 aus Daphnis und Chloé). Partner des Chores im Ravel-Konzert ist das inzwischen in Radio Philharmonie umbenannte ehemalige Große Rundfunkorchester Leipzig. Hans Graf leitet in einem Festkonzert aus Anlass des 150-jährigen Bestehens des Mozarteum Orchesters das Te Deum von Bruckner im Großen Festspielhaus in Salzburg.Die traditionelle Neunte steht 1990 unter der Leitung von Chefdirigent Max Pommer.Auch für die Schallplatte wird produziert: Nachdem Peter Schreier 1981 Bachs h-Moll-Messe mit dem Rundfunkchor Leipzig und dem Neuen Bachischen Collegium Musicum produziert hatte, folgt nun, im Januar 1991, eine Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden. Je ein Konzert in Berlin und Dresden schließen sich an.
Programmschwerpunkt 1991: MozartDie Mozart-Ehrung des Jahres 1991 eröffnen der Rundfunkchor Leipzig, die Staatskapelle Berlin und Dirigent Peter Schreier am Neujahrstag im Schauspielhaus Berlin mit der Messe c-Moll KV 427 und der Motette Ave verum corpus.
Die Werke des Wiener Meisters sind im Jahr von dessen 200. Todestag auch für den Rundfunkchor Leipzig ein Programmschwerpunkt.
Zu einer Aufführung des Requiems holen die Bochumer Symphoniker und ihr Chefdirigent den Chor im Mai zu einem Konzert in die Kölner Philharmonie. Eberhard Kloke lässt das Werk dort aufhören, wo es Mozart beenden musste.
Auch im Sommer liegen die Noten des Requiems auf den Pulten der Chormitglieder, diesmal im Rahmen einer von Michael Tilson Thomas geleiteten Ballettproduktion in der Salzburger Felsenreitschule.
Aufführungen der c-Moll-Messe und der Schauspielmusik zu König Thamos dirigiert Helmuth Rilling im Rahmen der Gewandhaus-Festtage in Leipzig sowie im Landestheater Eisenach.
In Leipziger Rundfunk-Konzerten stehen im Herbst Max Pommer und Isaak Karabtchevsky vor den Leipziger Rundfunk-Klangkörpern und führen die Litanei KV 243 sowie die Krönungsmesse KV 317 auf.
An Mozarts Todestag interpretieren Kurt Masur, das Gewandhausorchester und der Rundfunkchor Leipzig das Requiem d-Moll KV 626. Es wird das letzte Konzert sein das der Chor unter seinem traditionellen Namen Rundfunkchor Leipzig singt.
Vervollständigt wird die Liste der Mozart-Aufführungen des Jahres 1991 von der Kantate Davidde penitente in Stuttgart und Leipzig, geleitet von Peter Schreier, sowie kleinerer geistlicher Mozart-Werke in einem von Max Pommer dirigierten Mozartiana-Konzert in Leipzigs Nikolaikirche.
Hörprobe
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791): Messe c-Moll KV 427
Rekonstruiert und ergänzt von Helmut Eder
daraus: Gloria · Gratias · Jesu Christe und Cum sancto spiritu · Sanctus und Osanna
Monika Frimmer, Sopran · Katalin Halamai, Sopran · Scot Weir, Tenor · Matthias Görne, Bass
Felix Friedrich, Orgel
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor Leipzig
Choreinstudierung: Gert Frischmuth
Dirigent: Helmuth Rilling
Konzert im Rahmen der Gewandhaus-Festtage 1991 am 9. Oktober 1991 im Neuen Gewandhaus zu Leipzig
Künstlerische Aufnahmeleitung: Dietlinde Kretzschmann · Technische Aufnahmeleitung: Klaus Tonndorf
Aufnahme von Sachsen Radio am 9. Oktober 1991 im Gewandhaus zu Leipzig
Weitere Zeitzeugenberichte über den Aufbau von Sachsen Radio
Kapitelübersicht
→ XXII-01 | „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“: Die Leipziger Rundfunkmusik vor dem Aus! |
→ XXII-02 | 1990/1991 – Die erste Spielzeit nach der Abwicklung des DDR-Staatsfunks: Rundfunkchor und Sinfonieorchester als Spielbälle der Politik |
→ XXII-03 | Der Rundfunkchor Leipzig im Zentrum des Vereinigungsprozesses |
• | Neue Kreativität bei Sachsen Radio ./. neuer Zentralismus in der „Einrichtung“ |
→ XXII-05 | Warum Chefdirigent Frischmuth kein Opfer des Vereinigungsprozesses werden durfte |
→ XXII-06 | Der Reisesommer 1991: Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich |
→ XXII-07 | Spielzeit 1991/92: Von Sachsen Radio zum Mitteldeutschen Rundfunk |
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