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Vom Sender Leipzig
zum Mitteldeutschen Rundfunk 
[XXII]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

Cover der von RIAS-Berlin veröffentlichten Doppel-Schallplatte „Wir sind ein Volk“.
Die Platten enthalten zahlreiche O-Töne und Reportagen von den Ereignissen des 2. und 3. Januar 1990 sowie den Mitschnitt der Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie im Festakt zum Ende der DDR am 2. Oktober im Schauspielhaus Berlin
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch

 

Der Rundfunkchor Leipzig im Zentrum des Vereinigungsprozesses  XXII-03

In diesem politischen, emotionalen und durch äußerst viele sowohl schöne als auch anstrengende Arbeitsaufgaben gekennzeichneten Umfeld erlebte der Rundfunkchor die Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Er erlebte den Vereinigungsprozess einerseits ganz direkt als beteiligter und andererseits von dessen Auswirkungen betroffener Klangkörper.

Am 2. Oktober reist der Chor nach Berlin. Dort wird abends im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt die Deutsche Demokratische Republik in einem Festakt zu Grabe getragen.
Prominenz aus Ost und West ist anwesend. Reden werden gehalten. Und es wird, wie so oft bei Festakten, die 9. Sinfonie von Beethoven gespielt.

 

VIDEO: Festansprache des der ersten demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik, Lothar de Maizière, anlässlich des DDR-Festaktes am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt
Quelle: Ausschnitt aus der „Aktuellen Kamera“ vom 2. Oktober 1990

 

Herbert Kegel meinte in den Proben zum Konzert vor dem 1. Mai 1987, als er letztmalig dieses Werk in einem Anrechtskonzert in Leipzig dirigierte, man dürfe diese große Komposition nicht abnutzen und solle sie einmal für zehn Jahre verbieten.
Leonard Bernstein hatte die Neunte im Dezember 1989 in Berlin aufgeführt und wenigstens den ersten Choreinsatz der Herren von „Freude“ in „Freiheit“ geändert.
Doch am Vorabend der Wiedervereinigung überwiegt durchaus die Freude!
Neben dem Leipziger sind auch der Berliner Rundfunkchor, der Gewandhaus-Kinderchor und der Chor der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale an der Aufführung beteiligt. Es spielt das Gewandhausorchester. Am Pult steht der „Politiker wider Willen“ Kurt Masur.

Übernachtet wird in einem Bauarbeiterhotel direkt neben dem Schauspielhaus. Von dort geht es am Morgen des 3. Oktober mit Polizeieskorte per Bus in die Philharmonie.
Diesmal gibt es keine langwierigen Grenzkontrollen wie 1976 bei den ersten Konzerten des Chores in diesem Haus.
Nach einer Probe im großen Saal beginnt am späten Vormittag der Staatsakt zur Wiedervereinigung.
Für die musikalische Umrahmung sorgen das Berliner Philharmonische Orchester, die Gächinger Kantorei und der Rundfunkchor Leipzig unter der Leitung von Helmuth Rilling.
Diesmal erklingt nicht die Neunte. Musiziert werden der Eingangschor der Bachkantate 110 Unser Mund sei voll Lachens und der Chor Die Himmel rühmen die Ehre Gottes aus der Schöpfung von Joseph Haydn.

 

VIDEO: Festansprache des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker, anlässlich des „Staatsaktes zur deutschen Einheit“ in der Berliner Philharmonie
Quelle: Ausschnitt aus der „Aktuellen Kamera“ vom 3. Oktober 1990

 

Bundespräsident Richard von Weizsäcker stellt in einer Rede die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht nur in einen großen, weltgeschichtlichen Zusammenhang.
Er spricht auch an, was viele Menschen aus der DDR empfinden:
Für die Deutschen in der ehemaligen DDR ist die Vereinigung ein täglicher, sie ganz unmittelbar und persönlich berührender, ein existentieller Prozeß der Umstellung. Das bringt oft übermenschliche Anforderungen mit sich. Eine Frau schrieb mir, sie seien tief dankbar für die Freiheit und hätten doch nicht gewußt, wie sehr die Veränderung an die Nerven gehe, wenn sie geradezu einen Abschied von sich selbst verlange. Sie wollten ja nichts sehnlicher, als ihr Regime loszuwerden. Aber damit zugleich fast alle Elemente des eigenen Lebens von heute auf morgen durch etwas Neues, Unbekanntes ersetzen zu sollen, übersteigt das menschliche Maß.“

Auch die Sängerinnen und Sänger des Leipziger Rundfunkchores wussten und spürten, dass viel Altes keinen Bestand mehr haben würde und dass Neues, Unbekanntes kommen musste.
Aber wie würden neue Verhältnisse und Strukturen für den Rundfunk, und damit für den Chor, aussehen?

 

Artikel aus der Zeitung „Wir in Leipzig“ vom 3. Oktober 1992
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch


 

Kapitelübersicht

→ XXII-01 „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“: Die Leipziger Rundfunkmusik vor dem Aus!
→ XXII-02 1990/1991 – Die erste Spielzeit nach der Abwicklung des DDR-Staatsfunks:
Rundfunkchor und Sinfonieorchester als Spielbälle der Politik
Der Rundfunkchor Leipzig im Zentrum des Vereinigungsprozesses
→ XXII-04 Neue Kreativität bei Sachsen Radio ./. neuer Zentralismus in der „Einrichtung“
→ XXII-05 Warum Chefdirigent Frischmuth kein Opfer des Vereinigungsprozesses werden durfte
→ XXII-06 Der Reisesommer 1991: Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich
→ XXII-07 Spielzeit 1991/92: Von Sachsen Radio zum Mitteldeutschen Rundfunk

 


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