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Vom Sender Leipzig
zum Mitteldeutschen Rundfunk 
[XXII]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

 

1990/1991 Die erste Spielzeit nach der Abwicklung des DDR-Staatsfunks:

Rundfunkchor und Sinfonieorchester als Spielbälle der Politik  XXII-02

Im Konzertreport des Rundfunks der DDR begrüßte Horst Fliegel wie in jedem Jahr die Konzertfreunde:
„Wir heißen Sie zur Spielzeit 1990/91 willkommen und freuen uns sehr, viele neue Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) begrüßen zu dürfen. Die grundlegende politische Erneuerung in unserem Lande, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt, schuf die Voraussetzung für eine Öffnung, auf die beide Seiten seit Jahrzehnten hofften.“

Zum Redaktionsschluß am 1. März 1990 konnte man nciht erahnen, dass der DDR-Staatsrundfunk nur noch wenige Wochen existieren sollte. Anfang Juli nahm der öffentlch-rechtliche Sender SACHSEN RADIO seinen Sendebetrieb im selben Funkhaus in der Springerstraße auf und übertrug auf seinen Programmen alle geplanten Leipziger Rundfunkkonzerte.
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

1989 unterzeichnete Fliegel noch als Komiteemitglied für Musik.
Nun, nachdem das Staatliche Rundfunkkomitee mit Beschluss der Modrow-Regierung vom 30. November 1989 aufgelöst worden war, begrüßt er die Konzertbesucher nur noch als „Leiter der Hauptabteilung Musik“:
Die Freude auf viele neue Besucher aus dem Westen klingt etwas blasphemisch. Die Beteuerung, jahrzehntelang auf eine Öffnung der DDR gehofft zu haben, ist aus der Feder eines ehemaligen Komiteemitglieds wenig glaubwürdig. Während der Konzertreport noch im Druck lag, waren alle Chancen für eine „grundlegende politische Erneuerung“ der DDR und seines Staatsrundfunks vertan.

Auf den Titelseiten der Programmhefte jener Zeit lässt sich die Entwicklung vom DDR Rundfunk hin zum öffentlich-rechtlichen „SACHSEN RADIO“ ablesen:

Das Volk der DDR hatte sich mit den Füßen und die Volkskammer durch den Beitrittsbeschluss vom 23. August 1990 gegen eine Erneuerung des Landes ausgesprochen. Die Zeichen für ein vereintes Deutschland standen auf Grün. Und der Rundfunkchor sollte am Vereinigungsprozess nicht nur hautnah beteiligt sein, sondern dessen Auswirkungen ganz direkt zu spüren bekommen.

 

Reisefreiheit ohne politische Hindernisse

Eine positive Auswirkung des gefallenen Eisernen Vorhangs ist es zunächst, dass Reisen über die Grenzen der DDR hinaus kein grundsätzliches Problem mehr darstellen.

So führt ein Gastspiel im August nach Salzburg, wo der Rundfunkchor mit dem Mozarteum-Orchester unter Peter Schreiers Leitung das Stabat mater von Antonín Dvořák in der Univeritätskirche aufführt.
Auch der Wunsch Masurs, den Rundfunkchor Leipzig für eine Aufführung der 9. Sinfonie mit zum Festival nach Aix-en-Provence zu nehmen, kann erfüllt werden.
In die mediterrane Kunststadt waren das Gewandhausorchester und Masur eingeladen worden, um an fünf aufeinanderfolgenden Tage alle Sinfonien und das Violinkonzert Beethovens aufzuführen.
Ursprünglich sollte das Konzert der Neunten im Renaissancehof des erzbischöflichen Palastes stattfinden, muss wegen starken Regens dann aber in die Kathedrale verlegt werden. Hier hat der Chor keine Stufen, geschweige denn ein Podest oder Sitzmöglichkeiten. Der Nachhall ist immens.
Auf einem Empfang wird dem Gewandhauskapellmeister die seltene Ehre zuteil, zum Ehrenbürger der Stadt ernannt zu werden.

 

Es vergehen keine zwei Wochen, und der Rundfunkchor nimmt eine Einladung des Berliner Philharmonischen Orchesters wahr:
„Die Berliner Phiharmoniker mußten einige Jahre auf den Chor aus Leipzig warten. Erst kam die Einladung gar nicht an, dann wurde sie abgelehnt … aber am 23. Dezember vergangenen Jahres … als das Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor unter Max Pommers Leitung in der Philharmonie Händels Messias aufführten, wurde die Vereinbarung perfekt“, so Helga Kuschmitz in einem Reisebericht.

Sofia Gubaidulina
Foto: nmz-Charlotte Oswald

1990 stehen die 40. Berliner Festwochen unter dem Motto „Die menschliche Stimme“.
Sofia Gubaidulina hatte für die Berliner Philharmoniker ein halbstündiges, sehr schwieriges und sich im Chor bis zur 19-stimmigkeit auffächerndes Werk geschrieben, das in der Verbindung mit Janáčeks Glagolitischer Messe vom Rundfunkchor uraufgeführt wird.
Simon Rattle, 1990 noch nicht Orchesterchef in Berlin, ist vom Chor begeistert.
Helga Kuschmitz, die Rattle interviewte, fasst seine Aussagen in einem Reisebricht, der sich im Chorarchiv befindet, zusammen: „Den Rundfunkchor aus Leipzig empfindet er als einen ‚der besten Chöre der Welt‘. Sein Ruf sei ihm schon lange bekannt gewesen. Das erste Zusammentreffen habe alle Erwartungen übertroffen. ‚Ich hoffe, daß dies die erste einer Reihe von Begegnungen ist‘, meinte er im Interview.“
Die Hoffnung Rattles sollte sich später mehrfach erfüllen!

 

Impressionen von der Uraufführung des „Alleluia“ von Sofia Gubaidulina

 

Ausschnitte aus „Alleluia“ für Chor, Knabensopran und Orchester
Andrea Pitt, Alt · Ekkehard Wagner, Tenor · Thomas Ratzak, Bass · Frank Burkhardt, Bass · Philipp Cieslewicz, Knabensopran
Rundfunkchor Leipzig, Einstudierung: Gert Frischmuth
Berliner Philharmonisches Orchester
Dirigent: Simon Rattle
Livemitschnitt vom 11. und 12. September 1990 in der Berliner Philharmonie

Originaltöne von Sofia Gubaidulina, Sir Simon Rattle und dem Intendanten der Berliner Philharmoniker, Elmar Weingarten
Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Schultz (Rundfunkchor Leipzig)
Die Interviews führte Helga Kuschmitz

 

 

„Dann übernehme ich Euch eben ins Gewandhaus!“

Kurt Masur steht Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre häufiger am Pult des Chores als Max Pommer, der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters!
Mit dem Damenchor nimmt der Gewandhauskapellmeister Mitte September Mendelssohns Schauspielmusik zu Ein Sommernachtstraum auf.

Masur erweist sich in diesen unsicheren Zeiten als wahrer Freund des Leipziger Rundfundfunchores. Seine gegenüber dem Chorvorstand geäußerte Meinung: „Dann übernehme ich Euch eben ins Gewandhaus!“, wäre letztlich wohl keine Lösung gewesen, gibt jedoch Mut und Hoffnung.

 

Zunehmende Ängste durch neue Politiker

In welch schwieriger Situation nicht nur der Rundfunkchor Leipzig arbeiten muss, machen Äußerungen wie die des DSU-Politikers Jürgen Schwarz in der Sächsischen Zeitung deutlich:
„Ein Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig wird nicht mehr gebraucht, und unser Landessender wird sich kein eigenes Sinfonieorchester leisten können.“
Von einem Chor ist schon gar nicht mehr die Rede!
Zwar versucht Herr Schwarz in einem Brief an den Chorvorstand zu beschwichtigen, doch solche Äußerungen beeinflussen die öffentliche Meinung und erschweren den Sängerinnen und Sängern des Rundfunkchores ihre Arbeit erheblich.
Auch in einem von SACHSEN RADIO erarbeiteten Papier vom Sommer 1990 wird darauf hingewiesen, dass es die Klangkörpermitglieder sehr belastet, ständig Spielball von Politik und Medien zu sein:
„Die künstlerische Sensibilität der Musiker wird durch die sozialen Unsicherheiten natürlich empfindlich beeinträchtigt, zumal ihre Arbeitsbedingungen seit Jahrzehnten nicht dem Niveau ihrer Leistungen entsprechen.“

 

 

Auch der Chefdirigent der Dresdner Philharmonie und ehemalige Chorchef Jörg-Peter Weigle tritt den Leipziger Rundfunkklangkörpern zur Seite und äußert gegenüber dem DSU-Politiker Schwarz seine Betroffenheit:
„Mit dieser Äußerung muß Ihnen klar sein, daß Sie in unverantwortlicher Weise über Kunst und Kultur hinwegreden.
In der heutigen Zeit kann dieses Denken unmöglich Platz greifen. Wollen Sie im Ernst, das, was der Sozialismus nicht vernichtet hat, unter demokratischen Bedingungen vernichten? Ihnen als Geschichtslehrer muß doch klar sein, daß die Welt ohne Kultur eine Welt der Barbarei ist.
Die vornehmste Aufgabe der Politik ist nicht nur die Neugestaltung demokratischer Strukturen, sondern auch die Neugestaltung des Denkens …
Es ist unzweifelhaft, daß mit dem W i r t s c h a f t s z w e i g Kunst und Kultur auch die Wirtschaft im Lande Sachen angekurbelt werden muß. Mit dem kurzsichtigen Gedanken, daß man in die Kultur nur Geld hineinsteckt und aus ihr kein Geld herausholt, muß aufgeräumt werden. Jede Mark und mehr, die Sie in Kultur investieren, holen Sie auf Umwegen wieder heraus.“

Ohne Äußerungen wie diese von Jörg-Peter Weigle oder von anderen Persönlichkeiten, wäre es den Sängerinnen und Sängern des Leipziger Rundfunkchores ungleich schwerer geworden, ihre Arbeit in bewährter Qualität zu leisten. Wer weiß, ob sie ohne diese konzertierten Aktionen aus Kunst und Kultur sowie Politik und Gesellschaft, ohne das Eintreten aufrichtiger Menschen, die Wirren der Wende überstanden hätten.

 

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