Vom Sender Leipzig zum Mitteldeutschen Rundfunk [XXII]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
„Aus tiefer Not schrei ich zu dir“
Die Leipziger Rundfunkmusik vor dem Aus! XXII-01
Die kontinuierliche künstlerische Arbeit des Chores täuscht darüber hinweg, dass es im Rundfunk beträchtlich brodelt:
Musiker der Leipziger Rundfunkklangkörper demonstrieren vor dem Funkhaus in der Leipziger Springerstraße für den Ehalt der Rundfunkorchester und des Rundfunkchores.
Weil sich eine künftige föderale Struktur auch in den Ländern der immer noch bestehenden DDR abzeichnet, werden Landesrundfunkanstalten gebildet, die jedoch immer noch der zentralen Berliner Rundfunkleitung unterstehen.
Im Leipziger Funkhaus etabliert sich aus unbelasteten Mitarbeitern des Senders Leipzig unter der Leitung von Manfred Müller SACHSEN RADIO, das am 1. Juli 1990 mit dem selbstständigen Ganztagsprogramm Sachsen 1 auf Sendung geht.
„Innerhalb von fünf Minuten wurde dem neuen Sender SACHSEN RADIO die Verantwortung für sechs Rundfunkklangkörper übertragen“, schreibt später Direktor Müller im März 1991 in seinem Papier „Programm und Personal des Mitteldeutschen Rundfunks“.
Dieser Verantwortung waren sich die Verantwortlichen des neuen Senders durchaus bewusst.
„Dieses Erbe des alten DDR-Rundfunks stellt ein großes künstlerisches Potential von teilweiser Weltbedeutung dar“, heißt es in einem früheren Papier des Senders.
Anders hingegen die Intendanz der Rundfunkzentrale in Berlin:
Als der stellvertretende Intendant Dr. Wernfried Maltusch im Juni 1990 Direktor Müller in sein Amt einführt, überrascht er mit der Mitteilung, die Musiker der Anstalt müssten sich auf ihre Entlassung gefasst machen:
„Die Bescheide sollen bis zum Herbst zugestellt werden, also, so fürchteten Musiker bei einer ersten Protestbesprechung in einem Konferenzraum des Senders, kommen sie bestimmt in den Ferien‘; wirksam würden sie zum Ende der Saison im Juni nächsten Jahres. Nach dem Bericht mehrere Teilnehmer hat Maltusch dem Leipziger Zuhörerkreis gesagt: ‚Wir können es keinem übelnehmen, wenn er sagt, er kann eine andere Stelle kriegen, ehe hier alles zusammenbricht.‘“
Am 26. Juni richteten sich alle sechs Klangkörper, also das Rundfunk-Sinfonieorchester, der Rundfunkchor, das Große Rundfunkorchester, die Radio-Big-Band, das Rundfunk-Blasorchester und der Rundfunk-Kinderchor in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit.
Unter der Überschrift „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir …“ wenden sich die Musiker an Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, sich für den Erhalt der traditionsreichen Leipziger Rundfunkklangkörper einzusetzen:
Auch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hatte sich am 25. Juni in einem offenen Brief am Generalintendant Klein und seinen Stellvertreter Dr. Maltusch gewandt:
„Der eiskalte Zynismus und die Brutalität, mit der Sie Ihre Pläne vorgetragen haben, zeugen von einer Menschenverachtung, wie sie … häufig von um 180 Grad gewendeten Leuten praktiziert wird, die bedauerlicherweise immer noch ihr Unwesen in Chefetagen treiben und deren Ziel es ist, vor ihrem unvermeidlichen Abgang ein Trümmerfeld zu hinterlassen … Sie wollen keinen herunter gewirtschafteten VE-Betrieb beseitigen, sondern Klangkörper mit internationalem Renommee und Konkurrenzfähigkeit … Sie aber haben bewiesen, daß Sie nicht imstande sind, akzeptable Lösungen der sicher bestehenden Probleme zu finden. Für Sie kann kein Platz mehr an einer leitenden Position in unserem Land sein!“
Wenig solidarisch und heute eher kurios anmutend war die Reaktion vom Leiter des Berliner Männerchores Carl Maria von Weber, einem Chor des Ensembles der NVA, auf den Offenen Brief der Leipziger Klangkörper;
Man wies „die Herren“ des Leipziger Rundfunkchores darauf hin, dass dort zehn Vakanzen bestehen würden und man sich doch unverbindlich vorstellen könne …

Antwortschreiben von Sir Colin Davis an den Chorvorstandsvorsitzenden Joachin Preiß
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Doch die Resonanz auf das Rundschreiben „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir …“ ist überwältigend:
Von allen westdeutschen Rundfunkchören, von vielen Orchestern, Dirigenten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens treffen Solidaritätsbekundungen an die Intendanz des DDR-Rundfunks ein, so von Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt, dem Dirigenten Sir Colin Davis, dem Startenor Placido Domingo sowie von vielen Orchestern und Rundfunkchören.
Schließlich lässt Bundeskanzler Kohl am 20. Juli 1990 durch seinen parlamentarischen Staatssekretär Straßmeier mitteilen, der Generalintendant des DDR-Rundfunks habe die bis zum 31. Juli 1991 vorgesehenen Kündigungen für Orchester und Chöre des Rundfunks zurückgenommen.
Die Vorstände von Rundfunk-Sinfonieorchester und Rundfunkchor blieben nach den geäußerten Kündigungsabsichten des stellvertretenden Rundfunkintendanten nicht untätig.
Hatten sie schon den offenen Brief initiiert, sandten sie ihn, zum Teil mit persönlichen Anschreiben versehen, an die unterschiedlichsten Persönlichkeiten in Kultur, Politik und Wirtschaft.
Der Orchestervorstand nahm zudem Kontakt zu Dr. Udo Thomson auf, dem Intendanten des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (West). Eine Abordnung der Vorstände suchte Dr. Thomson in seiner Berliner Wohnung auf, schilderte die Situation der Klangkörper und bat um Unterstützung.
Als Ergebnis dieses Treffens besuchte Dr. Thomson die Klangkörperabteilung in der Leipziger Springerstraße, analysierte die Situation und erstellte ein Gutachten, das SACHSEN-RADIO-Direktor Müller Argumentationshilfen für den Erhalt der Leipziger Rundfunk-Klangkörper lieferte.
Hingegen Aufbruchstimmung im Leipziger Funkhaus …

Der Haupteingang des Rundfunkgebäudes in der Leipziger Springerstraße, 1990
Die Aufnahme entstand kurze Zeit, nach dem das runde Logo des DDR-Rundfunks (ursprünglich links vor dem Schriftzug „SENDER LEIPZIG“) entfernt worden war.
Schon im Juli 1990 hatten Klaus Dylus, der damalige Musikchef von THÜRINGEN RADIO, Horst Makrinus, der Musikchef von RADIO SACHSEN-ANHALT und der Hauptabteilungsleiter Kultur von SACHSEN RADIO, Dr. Steffen Lieberwirth, unter dem Titel „Überlegungen zum 3. Programm des Mitteldeutschen Rundfunks“ eine Programm-Konzeption für einen erhofften neuen Kulturkanal des mitteldeutschen Senders vorgelegt.
In diesem Konzept wurden die Leipziger Klangkörper mit eigenen Sendeplätzen bedacht und dem neu zu gründenden Mitteldeutschen Rundfunk somit von vornherein als feste Bestandteile empfohlen:
Folgerichtig enthielten dann auch die „Richtlinien für Inhalt und Gestalt der Programme“ von SACHSEN RADIO für das Programm Sachsen 3 die Formulierung „… Rundfunk-Sinfonieorchester und Rundfunkchor Leipzig haben bei Sachsen 3 ihren hauseigenen Stammplatz“.
Dies unterstrich die Bedeutung der Leipziger Rundfunk-Klangkörper und setzte einen deutlichen Akzent für ihre Erhaltung. Wie früher beim Sender Leipzig, so wurden weiterhin die Rundfunk-Anrechtskonzerte von SACHSEN RADIO übertragen und Konzertübertragungen mit anderen Orchestern Mitteldeutschlands gesendet, zum Teil auch unter Beteiligung des Rundfunkchores.
Für die „neue musikzeitung nmz“ beschrieb Dr. Steffen Lieberwirth, wie sich die Kultur im Leipziger Sender nicht abschalten lassen wollte:
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„Hier ist SACHSEN III – KULTUR“ |
Kapitelübersicht
• | „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“: Die Leipziger Rundfunkmusik vor dem Aus! |
→ XXII-02 | 1990/1991 – Die erste Spielzeit nach der Abwicklung des DDR-Staatsfunks: Rundfunkchor und Sinfonieorchester als Spielbälle der Politik zum 15.09.2019 |
→ XXII-03 | Der Rundfunkchor Leipzig im Zentrum des Vereinigungsprozesses zum 22.09.2015 |
→ XXII-04 | Neue Kreativität bei Sachsen Radio ./. neuer Zentralismus in der „Einrichtung“ zum 29.09.2015 |
→ XXII-05 | Warum Chefdirigent Frischmuth kein Opfer des Vereinigungsprozesses werden durfte zum 06.10.2015 |
→ XXII-06 | Der Reisesommer 1991: Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich zum 13.10.2019 |
→ XXII-07 | Spielzeit 1991/92: Von Sachsen Radio zum Mitteldeutschen Rundfunk zum 20.10.2019 |
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