Geduld trägt Rosen
Mit neuem Chef einer neuen Zeit entgegen [XXI]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
Tagesschau vom 9. Oktober 1989 und Szenen des Polizeieinsatzes vom 7. Oktober, dem Tag der Republik.
Johann Sebastian Bach: Dona nobis pacem [Verleih uns Frieden gnädiglich] aus der Messe h-Moll BWV 232
Rundfunkchor Leipzig · Trompetenensemble Ludwig Güttler · Neues Bachisches Collegium Musicum Leipzig · Dirigent: Peter Schreier
Drinnen Musik – draußen Sirenengeheul XXI-10
Am Montag, dem 2. Oktober 1989, kommen Chor und Orchester aus Flandern zurück nach Leipzig, um am darauffolgenden Sonntag im Rahmen der Gewandhausfesttage am Leipziger Karl-Marx-Platz zu gastieren.
Ausnahmsweise soll es auch am Tag der letzten Orchesterprobe – es ist der 7. Oktober, also der 40. Jahrestag der DDR – ein Friedensgebet in der Nikolaikiche geben.
Wie haben Chormitglieder diesen Tag erlebt?
Eine Sopranistin „ … hat einige Mühe, mit ihrem Auto wenigstens in die Nähe des Gewandhauses zu kommen.
Die Straßen in der Umgebung sind polizeilich abgesperrt.
Dennoch steht sie pünktlich 15 Uhr in den Reihen des Leipziger Rundfunkchores auf der Orgelempore und ist bereit für ihre Solopartie, die sie in ‚Taillefer‘ zu singen hat.
Auf dem Podium sitzt das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig, am Dirigentenpult steht Max Pommer: Probe für das Gewandhaus-Festtagekonzert am Sonntag.
Auf dem Programm drei Werke von Richard Strauss, der heuer 125. Geburtstag hätte.
In der Pause gehen … Kollegen an das große Fenster hin zum Karl-Marx-Platz. Als wieder zur Probe gerufen wird, erzählen sie: ‚Jetzt haben sie draußen die Leute zusammengeschlagen‘!“
Wer nicht mit am großen Fenster gewesen ist, „hörte in der Pause das Sirenengeheul und den Krach, der von draußen kam.
Während dann die Rundfunk-Klangkörper wie in einer ganz anderen Welt im Großen Gewandhaussaal weiterproben, fahren vor dem Haus Wasserwerfer auf, wird mit Schlagstöcken und Tränengas wahllos gegen Leute, die sich auf dem Platz und in angrenzenden Straßen befinden, vorgegangen.
Derweile tönt Strauss‘ ‚Taillefer‘ im Gewandhaus:
‚Dann sprengt‘ er hinein und führte den ersten Stoß, /
Davon ein englischer Ritter zur Erde schoß; /
Dann schwang er das Schwert und führte den ersten Schlag, /
Davon ein englischer Ritter am Boden lag. /
… Sie brachen herein mit Geschrei und mit Schilderklang. /
Hei, sausende Pfeile, klirrender Schwerterschlag!‘
Die Unruhe in Orchester und Chor ist groß. Max Pommer probiert weiter.
Bereitschaftspolizisten sperren immer noch wie schon seit Stunden alle Zugänge zur Nikolaikirche ab.
Das Friedensgebet, das ausnahmsweise auch an diesem Tag sein sollte, findet nicht statt.“ (Gewandhausmagazin 24)
Hörprobe
Richard Strauss: Taillefer op. 52
Rundfunkchor Leipzig · Choreinstudierung Gert Frischmuth
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Andrea Neumann, Sopran – Des Herzogs Schwester
Dieter Schwartner, Tenor – Taillefer
Tomas Möwes, Bass – Normannenherzog
Dirigent: Max Pommer
Life-Aufnahme des Senders Leipzig im Neuen Gewandhaus am 17. Oktober 1989
Künstlerische Aufnahmeleitung: Eckhard Schönberg · Technische Aufnahmeleitung: Karl-Heinz Albinsky
Wir bedanken uns herzlich bei den Solisten für ihr Einverständnis, die Aufnahme auf dieser Chronikseite verwenden zu dürfen
Arbeiten in unruhigen Zeiten
Nachdem Michail Gorbatschow am Abend des 7. Oktober wieder abgereist war, gibt Erich Mielke die Losung aus: „Jetzt ist Schluss mit der Humanität.“
Nachdem Chor und Orchester am 8. Oktober das Strauss-Konzert anlässlich der Gewandhausfesttage erfolgreich bestritten hatten, steht für Montag, den 9. Oktober, wieder ein Friedensgebet mit anschließender Montagsdemonstration an.
Mielkes Worte und die in die Leipziger Volkszeitung lancierte Meldung einer Kampfgruppenhundertschaft, die „konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand“ , lassen für diesen Tag das Schlimmste befürchten.
Zu Fuß um den Leipziger Innenstadtring
Fotos: Bundesarchiv – Friedrich Galbeck und Wolfgang Kluge *)
Gewandhauskapellmeister Kurt Masur erinnert sich
Unter Verwendung von Originaltönen des Senders Leipzig [1989] und MDR KULTUR [1993]
Richard Strauss: Wanderers Sturmlied op. 14
Rundfunkchor Leipzig · Choreinstudierung Gert Frischmuth
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Dirigent: Max Pommer
Life-Aufnahme des Senders Leipzig im Neuen Gewandhaus am 17. Oktober 1989
Künstlerische Aufnahmeleitung: Eckhard Schönberg · Technische Aufnahmeleitung: Karl-Heinz Albinsky
Dieser extrem angespannten Situation sind sich auch sechs Leipziger Persönlichkeiten bewusst, unter ihnen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur.
Ihr Appell an Sicherheitskräfte und Demonstranten, besonnen und gewaltlos zu bleiben, hat Erfolg.
Etwa 70.000 Demonstranten umrunden erstmals vollständig den Innenstadtring, ohne dass es zu gewaltsamen Zusammenstößen kommt.
Die Zahl der Demonstranten steigt von Montag zu Montag.
Als 30. Oktober nahezu 300.000 Menschen in Leipzig ihren Freiheitswillen bekunden, darunter zahlreiche Chormitglieder, ist die friedliche Revolution nicht mehr zu stoppen!
Während am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz die bisher größte Demonstration in der Geschichte der DDR mit wohl einer Million Menschen stattfindet, am 18. Oktober Erich Honecker zurücktritt und am 7. November die gesamte Regierung, wiederholen Chor und Orchester in Rundfunk-Anrechtskozerten am 17. Oktober das Richard-Strauss-Programm und singen dort am 17. November das Requiem von Fauré und Gustav Holsts Planeten unter Salvador Mas.
Als am 27. und 28. November im Gewandhaus Händels Messias aufgeführt wird, hatten sich Deutschland und die Welt mit der Maueröffnung vom 9. November grundlegend verändert.
*) Fotonachweis zur Sildeshow
[1] Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“
[2] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1030-033 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0 / 30. Oktober 1989
[3] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1106-023 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0 / 6. November 1989
[4] Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“
[5] Bundesarchiv, Bild 183-1990-0922-003 / Friedrich Gahlbeck /CC-BY-SA 3.0/ 9. November 1989
[6] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1120-026 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0 / 20. November 1989
[7] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1204-036 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0 / 4. Dezember 1989
[8] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1120-026 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0
[9] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1211-036 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0 / 11. Dezember 1989
[10] Bundesarchiv, Bild 183-1989-1204-036 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0
[11] Bundesarchiv, Bild 183-1990-0108-32 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0 / 8. Januar 1990
[12] Bundesarchiv, Bild 183-1990-0129-029 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0 / 29. Januar 1990
[13] Bundesarchiv, Bild 183-1990-0219-023 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0 / 19. Februar 1990
Kapitelübersicht
→ XXI-01 | Gert Frischmuth: Ein Mann der leisen Töne |
→ XXI-02 | Sommer 1988: Unterwegs zwischen Italien und Polen |
→ XXI-03 | Erste Aufgaben für den neuen Chefdirigenten |
→ XXI-04 | Max Pommer: Mozartiana |
→ XXI-05 | Brückenbau nach Israel: Mit Masur im Heiligen Land |
→ XXI-06 | Atemlos: Von Israel über Dresden nach Gloucester |
→ XXI-07 | A cappella in Swansea |
→ XXI-08 | Die „Ruhe“ vor dem Sturm – Normalität im Wendejahr 1989 |
→ XXI-09 | Leipzig im Fokus der Welt: Der Rundfunkchor in Flandern |
• | Drinnen Musik – draußen Sirenengeheul |
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