Geduld trägt Rosen
Mit neuem Chef einer neuen Zeit entgegen [XXI]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
Dirigierstudien Gert Frischmuth, 1989
Leipzig im Fokus der Welt – der Rundfunkchor in Flandern! XXI-09
Während sich die Chormitglieder nach einer anstrengenden Spielzeit mit vielen Reisen, Tourneen, Konzerten und Aufnahmen in ihrem wohlverdienten Urlaub erholen, brodelt es im Land:
Am 8. August 1989 fliehen 131 DDR-Bürger in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin.
In der bundesdeutschen Botschaft in Budapest hatten ebenfalls 108 Ostdeutsche Zuflucht gesucht.
Nachdem beim Paneuropäischen Picknick nahe der ungarischen Stadt Sopron am 19. August hunderte DDR-Bürger die kurzzeitige Grenzöffnung zur Flucht genutzt hatten, dürfen auch die ungarischen Botschaftsflüchtlinge am 24. August in den Westen ausreisen.
In Leipzig finden sich am 11. September 1.200 Menschen zum Friedensgebet in der Nikolaikirche zusammen. Vor dem Gotteshaus warten weitere 5.000 Menschen. Es kommt erstmals zu massivem Polizeieinsatz.
Während Ungarn am selben Tag seine Grenze zu Österreich öffnet und binnen 24 Stunden etwa 10.000 DDR-Bürger diese Ausreisemöglichkeit in den Westen nutzen, ist der Rundfunkchor schwer beschäftigt:
In Leipzig hat das Bachfest begonnen – und der Chor ist mit zwei Konzerten beteiligt.
Am 12. September singt er unter seinem Chefdirigenten ein A-cappella-Konzert und am 14. September die Bachsche Matthäuspassion unter Pommer. Das Oratorium wurde am 13. September in einem Sonderkonzert des Rundfunks schon einmal gegeben.
Am 15. September reist der Chor dann nach Dresden, wo die Produktion der Haydn-Messen unter Neville Marriner fortgesetzt wird.

Rundfunkchor-Sänger Hanjo Ribbe auf einer Leipziger Montagsdemonstration
© Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1218-038 / CC-BY-SA 3.0
Die Chormitglieder registrieren und diskutieren die Ereignisse in Leipzig und Europa. Sie sind aber zu stark beschäftigt – und befinden sich zum Teil ja auch gar nicht in ihrer Heimatstadt – um sich intensiv einmischen zu können.
Aus Dresden zurückgekehrt, ist schon wieder eine Reise vorzubereiten: Vom 29. September bis zum 2. Oktober sollten der Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig beim 30. Internationalen Flandern-Festivals gastieren.
Im niederländischen Oostburg singt der Chor das zuvor im Leipziger Gewandhaus aus Anlass des Bachfestes gebotene A-cappella-Programm mit Werken von Gesualdo, Johann Nepomuk David, Strawinsky, Mauersberger, Weismann, Brahms, Thiele und Bach.
Gemeinsam führen die Leipziger Rundfunkklangkörper im Alten Hospitalsaal der belgischen Universitätsstadt Gent die Deutsche Sinfonie von Hanns Eisler auf.
Programmzettel des A-cappella-Konzertes in Oostburg und Tounee-Notiz in der „Leipziger Volkszeitung“
Diese Reise hatte einen unwirklichen, beinahe schizophrenen Charakter:
Während der Druck in der DDR steigt, die 6.299 Prager Botschaftsflüchtlinge über die DDR in die Bundesrepublik ausreisen dürfen, die Zahl der Orte, in denen demonstriert wird, und die Anzahl der Demonstranten beständig wächst und der Gegendruck des Regimes härter und unerbittlicher wird, reisen ein Chor und ein Orchester gen Westen, also dorthin, wo viele Menschen das „gelobte Land“ sehen.
Die Chorsängerin Ursula Glotzbach hatte seit längerem einen Ausreiseantrag gestellt. Damit kamen Reisen in das westliche Ausland für sie eigentlich nicht mehr in Frage. Gert Frischmuth bürgt jedoch persönlich für sie – und ermöglicht ihr dadurch, an der Tournee teilzunehmen.

Ankündigung der Konzerte von Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig im Magazin des Flandern Festivals 1989
Dokument: Sammlung Rüdiger Koch
Hörprobe:
Hanns Eisler: Deutsche Sinfonie
Deutsche Sinfonie, op 50 (für Mezzosopran-, Bariton- und Baßsolo, 2 Sprecher, gemischten Chor und Orchester)
daraus: O Deutschland, du bleiche Mutter und Begräbnis des Hetzers im Zinksarg
Text: Bertolt Brecht
Rundfunkchor Leipzig
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Solistin: Elisabeth Breul, Sopran
Dirigent: Adolf Fritz Guhl
Aufnahme: Sender Leipzig am 26. Juni 1964 in der Kongresshalle am Zoo
Künstl. Aufnahmeleitung: Eckart Schönberg · Techn. Aufnahmeleitung: Bill Klatt
Etwas seltsam ist es schon gewesen, in einem freien Land das Werk eines deutschen Kommunisten aufzuführen.
Das 30. Flandern-Festival wollte 200 Jahre nach der Französischen Revolution in seinen Programmen Bezüge zu revolutionären Bewegungen herstellen. Insofern war eine Aufführung des Eisler-Werkes zunächst nicht unpassend, beabsichtigte doch Hanns Eisler mit der im Exil geschriebenen Deutschen Sinfonie, der Welt ein anderes Deutschland vor Augen zu führen als das faschistisch-nationalsozialistische.
Dass jedoch antifaschistische Bestrebungen und kommunistische Ideen von den Regimen des Ostblocks nach 1945 gründlich korrumpiert worden waren und dass diese Staaten ihre Völker gnadenlos unterdrückt hatten, bewiesen gerade im Sommer und Herbst des Jahres 1989 die gegen Unfreiheit und Repressalien revoltierenden Menschen in den zum Machtbereich der Sowjetunion gehörenden Ländern.
So war die Deutsche Sinfonie Eislers Anfang September 1989 vielleicht das richtige Werk – aber zur falschen Zeit!
Die weltpolitische Situation hatte die Programmkonzeption des Festivals längst überholt!
Selbst in Flandern verfolgen die Chormitglieder gespannt, was in der Heimat geschieht.
Kapitelübersicht
→ XXI | Geduld Trägt Rosen: Mit Gert Frischmuth einer neuen Zeit entgegen |
→ XXI-01 | Gert Frischmuth: Ein Mann der leisen Töne |
→ XXI-02 | Sommer 1988: Unterwegs zwischen Italien und Polen |
→ XXI-03 | Erste Aufgaben für den neuen Chefdirigenten |
→ XXI-04 | Max Pommer: Mozartiana und ein wenig mehr |
→ XXI-05 | Brückenbau nach Israel: Mit Masur im Heiligen Land |
→ XXI-06 | Atemlos: Von Israel über Dresden nach Gloucester |
→ XXI-07 | A cappella in Swansea |
→ XXI-08 | Die „Ruhe“ vor dem Sturm – Normalität im Wendejahr 1989 |
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