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Geduld trägt Rosen

Mit neuem Chef einer neuen Zeit entgegen  [XXI]

 

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

Der Rundfunkchor Leipzig mit seinem neuen Chefdirigenten Gert Frischmuth im Foyer des Neuen Gewandhauses zu Leipzig im Herbst 1988.
Fotodruck aus dem Konzertreport 1989/90 – Archiv des Leipziger Rundfunkchores – Barbara Stroff

 

 Gert Frischmuth: Ein Mann der leisen Töne  XXI-01

Das Sprichwort „Geduld trägt Rosen“ war ein oft zitiertes Motto von Gert Frischmuth, dem neuen Chefdirigenten des Rundfunkchores Leipzig.
Dieser Ausspruch hatte auch seine Bedeutung für das Leben in der DDR.
Ohne die Geduld, das zu tragen, was unter den gegebenen Umständen nicht zu ändern war und ohne die Geduld, die Gelegenheiten für individuelle und kollektive Handlungsspielräume auszuloten, abzuwarten, zu nutzen und auszuweiten, wäre schwerlich ein so gewaltloser Untergang des Staates DDR möglich gewesen.

Als Gert Frischmuth im Sommer 1988 Chefdirigent des Chores wurde, sollte die DDR kaum mehr als ein Jahr bestehen. Die Zeiten wurden wechselhaft und unsicher: Das Staatliche Rundfunkkomitee hörte auf zu existieren, Sachsen Radio, als Teil der sogenannten Einrichtung nach § 36 des Einigungsvertrages, entstand, um bald darauf öffentlich-rechtlichen Strukturen Platz zu machen.
Und natürlich wurde Deutschland wieder eine Einheit!

 

Eine alte Liebe

Die Beziehung von Prof. Gert Frischmuth zum Leipziger Rundfunkchor begann nicht erst, als er 1988 Chefdirigent des Chores wurde, auch nicht im Jahre 1978, das den Anfang seiner Zeit als Gastdirigent markiert. Wenig oder nicht bekannt ist, dass Frischmuth in der Spielzeit 1967/68 für eine Tenorstelle im Rundfunkchor Leipzig vorsang – und von Herbert Kegel engagiert wurde! Allerdings konnte er das Engagement als 2. Tenor in Leipzig nicht antreten, weil er damals noch als Lehrer tätig war, also im Bereich des Ministeriums für Volksbildung arbeitete. Von diesem wurde er nicht freigegeben.

 

Der Hochschullehrer Frischmuth

1988 war Frischmuth mit 56 Jahren der beim Amtsantritt älteste Chorleiter des Leipziger Rundfunkchores – und damit natürlich auch der erfahrenste. In Jena hatte er Schulmusik studiert und war danach 12 Jahre lang als Musiklehrer an der erweiterten Humboldt-Oberschule in Erfurt tätig. Nach weiteren Studien in Chorleitung wurde er Dozent für Chorleitung an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar und dort 1979 ordentlicher Professor sowie Inhaber des Lehrstuhls für Chordirigieren. Außerdem wirkte er als 1. Prorektor an dieser Ausbildungseinrichtung.

 

Johann Sebastian Bach: Singet dem Herrn BWV 225

 

Rundfunkchor Leipzig
Dirigent: Gert Frischmuth
Konzertmitschnitt des Festkonzertes „50 Jahre Rundfunkchor Leipzig“ aus dem Neuen Gewandhaus vom 11. Mai 1996
Aufnahme: MDR KULTUR
Tonmeister: Bernhard Steffler

 

„Aber neben seinen Unterrichts- und Leitungsverpflichtungen,“ schreibt Rolf Richter im Konzertreport des Rundfunks der DDR, „hat er insbesondere durch sein künstlerisches Wirken mit dem Hochschulkammerchor auf sich aufmerksam gemacht. Teilnahme an nationalen und internationalen Chorfestivals und -wettbewerben, Konzertreisen und zahlreichen Aufnahmen – übrigens auch mit dem Rundfunkchor Leipzig – weisen ihn als einen feinfühligen, der Chorsinfonik und dem A-cappella-Singen zutiefst verbundenen Künstler aus. Seit Jahren gilt Prof. Frischmuth als exzellenter Chorleiter und -dirigent. Beweis dafür sind seine Leistungen bei Werken von Brahms, Bruckner, Eisler, Händel, Hindemith, Kodály, Ligeti, Meyer, Liszt, Milhaud, Schumann, Schtschedrin, Strawinsky oder Telemann, um nur einige zu nennen.

Herbert Kegel, Max Pommer, Rolf Reuter und andere Dirigenten schätzen seine Arbeit, die auch im Ausland durch Preise anerkannt wurde. Zu den jüngsten Erfolgen des Hochschulchores aus Weimar zählen zwei Auszeichnungen beim Tonbandwettbewerb der westeuropäischen Rundfunkorganisationen, EBU, 1987 in Helsinki: ein 1. Preis sowie der begehrte Hauptpreis SILVER ROSE BOWL, den der Chor gemeinsam mit einem österreichischen Ensemble erhielt. Auch darüber hinaus genießt Prof. Frischmuth internationale Wertschätzung. Im Frühjahr nahm er mit dem Brüsseler Rundfunkchor beim Belgischen Rundfunk Liebeslieder von Wilhelm Weismann sowie Kompositionen von Thomas Voigt auf. Im Sommer gastierte er mit dem Kammerchor bei Europa Cantat in Pecs (Ungarn). Dort leitete er auch das Hugo-Distler-Atelier.“

 

Kompetenz, Höflichkeit, Verantwortung

Vor dem Auftritt: Gert Frischmuth mit Chorwart Helmut Stiebritz und Chormitgliedern im Foyer des Neuen Gewandhauses
Fotodruck aus der Festbroschüre 50 Jahre Rundfunkchor Leipzig – Archiv des Leipziger Rundfunkchores – Barbara Stroff

Nicht selten wurde Gert Frischmuth etwas belächelt, weil er keine traditionelle Kapellmeisterausbildung besaß, also ein „Seiteneinsteiger“ war und lange Zeit nur mit Laienchören gearbeitet hatte. Schließlich war die Leipziger Chefposition die erste bei einem professionellen Ensemble.
Doch diese Herkunft barg auch die Chance, ein menschlicheres, persönlicheres, an die Verantwortung jedes einzelnen Ensemble-Mitglieds appellierendes Arbeitsklima zumindest anzustreben. Noch war die Zeit der Dirigenten, die in despotischer Art ihre Klangkörper führten, nicht völlig vorüber.

Ganz anders Frischmuth, den Henry C. Brinker 2003 folgendermaßen charakterisierte:
„Ich weiß, dass Sie ganz und gar nicht ein Mann der großen Worte sind. Im Gegenteil: Durch alle Charakterisierungen Ihrer Person, auf die ich bei der Beschäftigung mit Ihrer Lebensleistung gestoßen bin, zieht sich als durchgängiges Moment die Betonung von Bescheidenheit bei gleichzeitiger überragender Kompetenz, die Hervorhebung einer fast aus der Mode gekommenen Höflichkeit bei großer Durchsetzungsfähigkeit in der Sache.“

Der AGL-Vorsitzende Joachim Preiß reflektiert die Arbeitsweise Frischmuths 1989 in seinem Rechenschaftsbericht und lässt zwischen den Zeilen durchaus auch deren Problematik erkennen:
„Das Klima, in welchem Prof. Frischmuth die Probenarbeit gestaltet, ist angetan, daß sich solche positive Grundhaltung entwickeln kann. Zur Konsequenz in jeder Hinsicht möchte ich unseren Chefdirigenten allerdings ermutigen. Drill dagegen ist ein Zeichen von Unmündigkeit, und wir haben uns in der Vergangenheit oft zu recht dagegen verwahrt.“

 

Erstes Konzert und Schallplattenproduktion

Aus dem Konzertprogrammheft des Gewandhauskonzertes. Den Sopranpart übernahm für Barbara Bonney (Schallplattenproduktion) im Konzert Gisela Burkhardt
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Offiziell beginnt der Vertrag des neuen Chor-Chefdirigenten am 1. August 1988. Seine erste Probe in dieser Position leitet er am 7. September. Studiert wird Mendelssohns Lobgesang für Gewandhauskonzerte und eine Aufnahme des Werkes unter Gewandhauskapellmeister Kurt Masur.

CD-Cover des „Lobgesangs“ von Mendelssohn, der ersten Einstudierung Gert Frischmuths als Chefdirigent des Rundfunkchores Leipzig.

Die Produktion der 2. Sinfonie Lobgesang, fügte sich in die Aufnahmeserie der chorsinfonischen Werke Felix Mendelssohn Bartholdys mit dem Gewandhausorchester und dem Leipziger Rundfunkchor unter der Leitung von Kurt Masur ein:
schon 1972 wurde der Lobgesangs mit anderen Solisten produziert, 1973 folgte die Kantate Erste Walpurgisnacht und 1986 der Paulus.
Fortgesetzt wird diese Mendelssohn-Reihe 1990 mit der Schauspielmusik zum Sommernachtstraum und 1992 dem Oratorium Elias, diesmal mit dem Israel Philharmonic Orchestra.

Eingeführt wird Frischmuth schließlich am 8. September 1988.

 


 

Kapitelübersicht

→ XXI Geduld Trägt Rosen: Mit Gert Frischmuth einer neuen Zeit entgegen
Gert Frischmuth: Ein Mann der leisen Töne
→ XXI-02 Sommer 1988: Unterwegs zwischen Italien und Polen
→ XXI-03 Erste Aufgaben für den neuen Chefdirigenten
→ XXI-04 Max Pommer: Mozartiana
→ XXI-05 Brückenbau nach Israel: Mit Masur im Heiligen Land
→ XXI-06 Atemlos: Von Israel über Dresden nach Gloucester
→ XXI-07 A cappella in Swansea
→ XXI-08 Die „Ruhe“ vor dem Sturm – Normalität im Wendejahr 1989
→ XXI-09 Leipzig im Fokus der Welt: Der Rundfunkchor in Flandern

 


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