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Die 1980er Jahre

„Aufgaben“ zwischen 1985 und 1988  [XX]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

Wolf-Dieter Hauschild
Fotos: Rundfunk der DDR, Konzertreport 1984/85

 

„Herr mache dich auf“
Der sogenannte „Vertragsbruch“ Wolf-Dieter Hauschilds  [XX-01]

Ausschnitte aus einem Zeitungsbericht und dem Programmheft der Ballett-Uraufführung „Brennender Friede“
Dokument: Chortagebuch im Archiv des Leipziger Rundfunkchores

Warum leitete nicht auch auf den Gastspielen 1985 nach Florenz und Jugoslawien Chefdirigent Wolf-Dieter Hauschild sein Orchester und seinen Chor? Was war geschehen?
In der laufenden Spielzeit hatte der Chef in Leipzig und Berlin sowohl Gustav Mahlers Kantate Das klagende Lied und Siegfried Matthus‘ Oratorium Laudate pacem dirigiert, in Dresden aus Anlass der Wiedereröffnung der Semperoper die Ballett-Uraufführung Brennender Friede nach Udo Zimmermanns Pax questuosa mit dem Rundfunkchor Leipzig, der Staatskapelle Dresden und dem Ballettensemble der Semperoper.
Im Februar stand er bei den Händelfestspielen in Halle und tags darauf im Gewandhaus am Pult seiner Klangkörper. Aufgeführt wurde Händels Samson, allerdings aus aufführungspraktischen Gründen nur in einer Besetzung mit 19 Frauen- und 12 Männerstimmen.
Am 19. März 1985 dirigiert er ein letztes Mal in einem Rundfunk-Anrechtskonzert, das im Rahmen des Bachfestes stattfand, Chor und Orchester mit Werken von Bach und Händel.
Die Zahl der Konzerte ist 1984/85 zwar nicht sehr hoch gewesen, doch waren sie dafür recht „hoch angebunden“.

 

Kritik von Werner Wolf aus der Leipziger Volkszeitung
Dokument: Chortagebuch im Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Zwei Wochen vor dem für den 19. März geplanten Anrechtskonzert wird den Klangkörpern mitgeteilt, dass Chorleiter Jörg-Peter Weigle das Konzert wegen einer Erkrankung Hauschilds dirigieren wird. Wenige Tage später heißt es dann, dass Weigle die Orchesterproben leitet und Hauschild für die Generalprobe sowie das Konzert nun doch zur Verfügung steht. In der Rückschau des 1986er Rechenschaftsberichtes meint Horst-Dieter Knorrn:
„Er dirigierte mit sichtbarem Widerwillen, zumal er durch diese Verpflichtung auf ein Gastspiel verzichten musste. Die geringe Besucherzahl verärgerte ihn zusätzlich. Offensichtlich hat er nicht nur den Textanfang des Händel-Anthems Herr mache dich auf sondern auch die Worte des Duetts aus der Bachkantate 78 Wir eilen mit schwachen doch emsigen Schritten auf eigenwillige und uns gegenüber sehr unfaire Weise für sich ausgedeutet und befolgt.“
Wolf-Dieter Hauschild hatte also der DDR den Rücken gekehrt!

 

Aus dem Rechenschaftsbericht des AGL-Vorsitzenden Horst-Dieter Knorrn
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Hörbeispiel

Georg Friedrich Händel: Anthem Let God arise, HWV 256a


Let God arise. Allegro ma non troppo

 


O sing unto God. Allegro · Praised be the Lord. Adagio · At thy rebuke, o God. Allegro · Blessed be God. Andante

Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor  Leipzig · Choreinstudierung: Jörg-Peter Weigle
Aufnahme: Sender Leipzig am 19. März 1985 im Neuen Gewandhaus Leipzig
Künstlerische Aufnahmeleitung: Günter Neubert
Technische Aufnahmeleitung: Manfred Weber

 

In der Chronik des Sinfonieorchesters beschreibt Jörg Clemen die Vorgänge folgendermaßen:
„Mehrfach hatte Wolf-Dieter Hauschild die Stuttgarter Philharmoniker schon dirigiert. Nun sollte er – zusätzlich zum RSO – zu ihrem Chefdirigenten ernannt werden. Der Vertrag sah vor, dass Hauschild seine Chefdirigententätigkeit in Leipzig ohne Einschränkungen fortsetzten konnte. Praktisch hätte das ein ständiges, sicherlich strapaziöses Pendeln zwischen Leipzig und Stuttgart bedeutet. Wolf-Dieter Hauschild war bereit dazu und wartete auf die Genehmigung der DDR-Behörden. Doch die ließ auf sich warten. Immer wieder wurde er mit fadenscheinigen Begründungen vertröstet. Die Zeit wurde knapp. Während eines erneuten Gastspiels in Stuttgart im Frühjahr 1985 traf Wolf-Dieter Hauschild eine folgenschwere Entscheidung: Er kehrte der DDR den Rücken. In Leipzig herrschte helle Aufregung. Ab sofort war Wolf-Dieter Hauschild eine persona non grata. Mit allen Konsequenzen: Auf die Ausreise seiner Familie beispielsweise musste er zwei Jahre warten.

Dass wiederum etliche Orchestermusiker Wolf-Dieter Hauschilds Entscheidung für einen Verrat am Orchester hielten, ist nur verständlich. Aus ihrer Sicht war es ein eigennütziger Schritt ihres Chefdirigenten. Allerdings erfuhren sie nicht die ganze Wahrheit, sondern eine, die von der Rundfunk-Intendanz und vom Ministerium verbreitet wurde und aus ihm einen Klassenfeind machte.“

Im offiziellen Sprachgebrauch des Rundfunks war Hauschild nun ein Vertragsbrüchiger. Die Mitarbeiter des DDR-Rundfunks hatten sich, zumindest in offiziellen Äußerungen, auch dieser Terminologie zu bedienen. So muss natürlich auch der AGL-Vorsitzende Horst-Dieter Knorrn in seinem Rechenschaftsbericht 1986 von Vertragsbruch sprechen und den Weggang Hauschilds verurteilen. Dass er jedoch zwei Textpassagen aus den beiden im Konzert vom 19. März 1985 aufgeführten Werken gewissermaßen parodiert, auf die Entscheidung des Chefdirigenten bezieht – und den ganzen Vorgang dadurch vorsichtig auf die lächerliche Ebene zieht – ist beispielhaft für die Gabe Knorrns, ganz subtil Kritik auszudrücken. Selbst der stellvertretende Hauptabteilungsleiter der Ernsten Musik, Klaus Linke, soll sich über Knorrns Formulierungen vor Lachen gebogen haben.

Als das Orchester einige Zeit später in die Bundesrepublik reiste, gab es die Order, Wolf-Dieter Hauschild bei einem möglichen Zusammentreffen zu ignorieren und ihm noch nicht einmal die Hand zu geben. Selbst in den Reihen der SED-Parteigruppe gab es Widerstand gegen ein solch kleinliches und wenig souveränes Ansinnen.

Den Chor bewegte nach Hauschilds Weggang die Frage, „inwieweit gute Funkaufnahmen und Schallplatten unter Hauschilds Leitung der Öffentlichkeit weiter zugänglich gemacht werden können. Warum nicht sogar mit Namensnennung des Dirigenten? Wir sind selbstbewußt genug, um uns solche Toleranz leisten zu können.“ (Rechenschaftsbericht 1986, S. 5)

 

Leipziger Volkszeitung vom 21. November 1985
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Die Besorgnis der Chormitglieder war nicht ganz unbegründet:
Am 21. November 1985 berichtet die Leipziger Volkszeitung von einer Neueinspielung des Mansfelder Oratoriums von Ernst Hermann Meyer.
Obwohl Hauschild zusammen mit den Leipziger Rundfunk-Klangkörpern im Juni 1983 das Werk aufgenommen hatte, wurde sein Name nicht erwähnt. Auf der Schallplatte jedoch ist Wolf-Dieter Hauschild dann genannt.

Abdruck eines Briefs von Wolf-Dieter Hauschild an die Deutsche Künstleragentur vermutlich in der „Freien Presse“ Karl-Marx-Stadt
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

Nach der friedlichen Revolution bietet die inzwischen umbenannte ehemalige DDR-Künstleragentur Hauschild eine Zusammenarbeit an.
In seinem verständlicherweise ablehnenden Antwortbrief erläutert der ehemalige Chefdirigent die Situation, in der sich sowohl er als auch andere Künstler aus der DDR befunden hatten:
„Die willkürliche Herrschaft des Zentralkomitees und des Kulturministeriums
legte uns Fesseln an, deren wir uns damals nur durch Weggang entledigen konnten.
Viele Gastspiele, die uns durch westdeutsche Agenturen angeboten wurden, durften wir nicht annehmen. Manche Angebote erreichten uns nie, und bewußte bürokratische Verzögerungstaktik machte uns häufig ein Gastieren in Opernhäusern und Orchestern der westlichen Welt unmöglich.

Das monatelange Hinauszögern der endgültigen Genehmigung der mir von höchster Instanz zugesicherten vertraglichen Bindung als Gastdirigent der Stuttgarter Philharmoniker und des Staatstheaters Hannover war letztlich der entscheidende Anlaß meines Weggangs aus Leipzig.

Nie war auch von Ihrer Seite Interesse an wirklicher Weiterentwicklung künstlerischer Persönlichkeiten vorhanden. Es ging ausschließlich um die Erfüllung materieller und ideologischer Vorgaben höchster staatlicher Stellen.“

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