Vergessene Jahre …
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1924 bis 1933
von Rüdiger Koch
Das Ende der Ära Szendrei und das Ende der Leipziger Oratorienvereinigung [07]
Die Jahre von 1924 bis zu Szendreis Entfernung aus dem Mitteldeutschen Rundfunk im November 1931, oder wohl besser bis zum Amtsantritt des neuen Intendanten Prof. Dr. Ludwig Neubeck, dürfen mit Recht als die Aufbauphase des Leipziger Senders bezeichnet werden.
Bis zum Ende der 20-er Jahre hatte Alfred Szendrei als musikalischer Direktor der MIRAG eine gewaltige Leistung vollbracht. Das Leipziger Sinfonieorchester war als zweites Orchester der Stadt und als Klangkörper des Mitteldeutschen Rundfunks etabliert und mit der Leipziger Oratorienvereinigung ein leistungsfähiger Konzertchor geschaffen worden.

Der Jugend-Singkreis der MIRAG unter Ernst Smigelski 1927
© Foto: Archiv der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, Leipzig (Nachlass Ernst Smigelski)
Sogar ein Kinderchor der MIRAG trat ab und zu im Programm auf, beispielsweise in der konzertanten Aufführung von Pfitzners Oper „Das Christelflein“.
Dabei dürfte es sich um den Jugend-Singkreis der MIRAG gehandelt haben, der unter Leitung von Ernst Smigelski arbeitete.
Berücksichtigt man noch, dass es auch ein kleineres Unterhaltungsorchester gab, das Szendrei für größere Projekte mit hinzuziehen konnte, hatte er aus dem Nichts Strukturen geschaffen, wie sie ähnlich auch im Jahr 2004 dem Mitteldeutschen Rundfunk zur Verfügung standen.
Der Name der Leipziger Oratorienvereinigung ist 1929 und 1930 immer seltener im Programm zu finden. Für das Jahr 1931, das mit Szendreis Entfernung aus der MIRAG enden sollte, ist eine Mitwirkung des Chores nur noch einmal nachgewiesen, und zwar für Gründonnerstag, den 2. April. Was mögen nun die Gründe für dieses doppelte Ende gewesen sein?
Während der ersten fünf Jahre hatten der Leipziger Sender MIRAG und der gesamte deutsche Rundfunk eine enorme Entwicklung durchgemacht. Die Übertragungsmöglichkeiten wurden im Laufe der Zeit so weit verbessert, dass auch aus öffentlichen Sälen und Theatern mit befriedigenden Ergebnissen gesendet werden konnte. So waren die Übertragungswagen der MIRAG häufig in Mitteldeutschland unterwegs und übertrugen öffentliche Konzerte und Opernaufführungen. Eine Zeit lang wurden sogar regelmäßig Rundfunktage in mitteldeutschen Städten veranstaltet, zum Beispiel in Weimar oder Bautzen, für deren Programm ortsansässige Orchester und Chöre angeworben wurden.
Aussagen über die künstlerische Qualität dieser Übertragungen lassen sich nicht mehr machen. Auch der Programmaustausch mit den anderen deutschen Sendern, die sich 1925 in der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft zusammengeschlossen hatten, kam in Gang und gestaltete das Programm abwechslungsreicher.
Aus diesen beiden Gründen war die Existenz eines eigenen Chores nicht mehr zwingend notwendig. Zum Anderen vergrößerte die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ständig ihre Macht und ihren Personalbedarf. In ohnehin wirtschaftlich schlechten Zeiten wurden deshalb die regionalen Gesellschaften zum rigorosen Sparen aufgefordert.
Doch die größte Veränderung erfuhr die Rundfunk-Hörergemeinde: Niedriger werdende Rundfunkgebühren, eine bessere technische Übertragungsqualität und eine sich ständig ausweitende Sendezeit ließen schon bald die Hörerzahlen zunehmen. So war aus einer Rundfunk hörenden Elite ein Volk von Rundfunkhörern geworden.
Diese Veränderungen schlugen sich auch im Programm und in der Besetzung von Führungspositionen nieder.
Das Sendeprogramm musste dem Geschmack einer vergrößerten Hörerschar gerecht werden und elitäre Züge vermeiden.
Neue Führungskräfte wurden eingestellt, um dieses Programm zu realisieren.
Neue Wege zur Programmgestaltung …
Ab dem Sommer des Jahres 1929 wurden die Geschicke der MIRAG in die Hände eines neuen Programmleiters gelegt, der den Titel Intendant bekam.
Prof. Dr. Ludwig Neubeck, dieser neue Mann, war Kapellmeister und zuletzt als Intendant des Braunschweiger Hoftheaters tätig gewesen.
Was bewog wohl die Führungsgremien der MIRAG, gerade diesen Mann aus etwa 200 Bewerbern ausgewählt haben?
Wollte man dem auf musikalischem Gebiet sehr erfolgreichen Sender auch einen Musiker als obersten Repräsentanten geben? Oder wollte man gar die Macht Szendreis eindämmen, indem man ihm einen Dirigenten als Chef vorsetzte?
Auf jeden Fall dürfte die starke Position des musikalischen Direktors, wie sich Szendrei schon bald nicht mehr nennen durfte, manchem Vorstandsmitglied suspekt gewesen sein.
Szendrei war ehrgeizig, klug, ein Mann mit Grundsätzen. Und diese Grundsätze waren weit entfernt von populären Tendenzen.
Szendrei setzte bei allen Hörern das Bedürfnis voraus, sich durch den Rundfunk weniger unterhalten als vielmehr bilden und bereichern zu lassen.
Vieles deutet darauf hin, dass die Führung der MIRAG ihr Programm weniger anspruchsvoll gestalten wollte und Szendrei in diesem Bestreben als Hindernis empfand.
So lassen Neubecks Worte aufhorchen, die er zum Programm äußerte:
„Der Rundfunk besitzt heute eine so große Hörerschaft, daß er nur d a s in sein Programm aufnehmen kann, was entweder auf breiteste Teilnahme rechnen kann oder was an sich bedeutungsvoll genug ist, um über den Augenblick und einen engen Kreis hinaus zu interessieren.“
Zu diesen bedeutungsvollen Kulturgütern mag der Intendant seine Interpretationen Wagnerscher Programme gerechnet haben, die er fortan mit dem Leipziger Sinfonieorchester aufführte. Sehr groß scheint das Repertoire Neubecks nicht gewesen zu sein: Bis auf zwei Unterhaltungskonzerte, die er dirigierte, finden sich außer Wagner nur die Namen Beethoven, Verdi, Puccini und Humperdinck in seinen Programmen …
→ 08 „AN DEN PRANGER MIT DR. SZENDREI
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• 07 Das Ende der Ära Szendrei und das Ende der Leipziger Oratorienvereinigung
→ 08 „An den Pranger mit Dr. Szendrei!“
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