Vergessene Jahre …
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1924 bis 1933
von Rüdiger Koch
Ein frühes Foto von Helmuth Weise [r.] und seinem Freund Siegfried Müller als Thomaner, 1914
Helmuth Weise: Rundfunkchorsänger der zwanziger und fünfziger Jahre [06]
Auf den Sänger und Lehrer Dr. Helmuth Weise soll an dieser Stelle etwas näher eingegangen werden:
Weise stellt nicht nur das einzige bisher bekannt gewordene Bindeglied zwischen der Leipziger Oratorienvereinigung, also der Gründungszeit des Rundfunkchores in Leipzig, zum 1946 neu gegründeten Rundfunkchor Leipzig dar, er ist auch ein Beispiel für die engen Beziehungen der Leipziger Kulturinstitutionen Thomanerchor, Gewandhaus und Rundfunk.
Weise wurde am 18. September 1902 in Leipzig-Leutzsch geboren, wäre also im Jahre 2002 100 Jahre alt geworden. Nach dem frühen Tod seines Vaters gab die Mutter den Knaben zu Ostern 1914 in den Thomanerchor, wohl um ihm eine gute Ausbildung zu sichern und seine musikalischen Gaben weiter zu fördern.
Weise sagte zur Aufnahmeprozedur in den Thomanerchor:
„Von 111 Bewerbern schieden bereits 88 in der Vorprüfung aus. Von den restlichen 23 wurden in der Hauptprüfung noch 16 ausgeschieden; denn nur 7 konnten in den Chor aufgenommen werden, unter denen ich mich befand… Bereits im Thomanerchor war ich die letzten beiden Jahre meiner Zugehörigkeit Baßsolist.“
Karl Straube, der kurz nach Weises Eintritt in den Chor Gustav Schreck im Amt des Thomaskantors folgte, wurde für den jungen Thomaner zu einer väterlichen und prägenden Gestalt.

Dr. Helmuth Weise als Sänger der Leipziger Chorvereinigung, aufgenommen am 1. Mai 1926 …
© Foto: Johannes Mühler – MDR Chorarchiv
„Was nun meine Mitwirkung im Gewandhaus-Chore betrifft“, heißt es bei Weise weiter, „so ist folgendes zu berichten: Es war zu meiner Thomanerzeit üblich, daß die Männerstimmen der Thomaner den Gewandhauschor unterstützten. Sie sehen, auch damals schon waren Männerstimmen ‚Mangelware’. Nach dem Stimmwechsel, der aus dem Sopranisten einen Baß-Bariton machte, legte ich im Jahre 1918 zum ersten Male den Weg von der Hillerstraße, in der auch heute noch das Alumnat des Thomanerchores steht, zur Grassistraße, zum Gewandhausgebäude, zurück.“
Als Alfred Szendrei Ende 1924 seinen Rundfunkchor zu gründen trachtete, studierte Weise Geografie, Mathematik und Physik an der Leipziger Universität – und sang daneben weiter in der Gewandhaus-Chorvereinigung. Weil die Musik, und ganz speziell das Singen, sein Leben bisher stark geprägt hatte, er ledig war und als Student ohnehin über genügend Zeit verfügte, gehörte er zum Kreis jener 32 Sänger, die Szendrei im Herbst des Jahres 1924 zur Leipziger Oratorienvereinigung zusammenfügte. Weise dürfte von Beginn an Mitglied der Oratorienvereinigung gewesen sein, bis er im Sommer 1927 als Studienreferendar zunächst nach Nossen und kurz darauf nach Auerbach beordert wurde. Ob Weise auch, nachdem er im Frühjahr 1929 als Studienassessor nach Leipzig zurück gekehrt war, wieder in der Leipziger Oratorienvereinigung gesungen hat, ist nicht bekannt. Es ist jedoch denkbar, dass er an der erwähnten Aufführung der „Gurre-Lieder“ von Schönberg im Mai 1929 mitgewirkt hat.

… und hier Mitte der 1950er Jahre als Sänger des Rundfunkchores Leipzig.
Fotos: Privat – Nachlass Dr. Weise
Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch für Dr. Weise einen spürbaren Einschnitt. Nach dem Kriege konnte er schon bald wieder in seine Heimatstadt zurückkehren, musste sich und seine Familie jedoch durch sängerische Gelegenheitstätigkeiten und als Elektriker über Wasser halten. Die Arbeit in seinem Beruf als Lehrer blieb ihm unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen lange Zeit verwehrt. Als Herbert Kegel im Jahre 1950 sein Ensemble vergrößerte, war dieses der Zeitpunkt für Dr. Weise, zum Chor zurückzukehren. Von 1950 bis zum Sommer 1955 war er dann festes Mitglied (1. Bass) im Rundfunkchor Leipzig. Darüber sagte er rückblickend:
„Im Rundfunkchor, der im Gegensatz zu den anderen genannten Chören nicht aus Laien besteht, sondern aus Berufssängern, habe ich den steilen Aufstieg zum anerkannten Spitzenchor unter Kegels strenger und fordernder Leitung miterlebt und auch mitgestaltet.“
Dem Gewandhauschor hat Weise am längsten von allen Chören angehört: mehr als 60 Jahre lang! Dafür verlieh ihm dieses Ensemble die Ehrenmitgliedschaft. Ein letztes Mal – als Gast in den Reihen des Gewandhauschores – stand Dr. Helmuth Weise bei der Eröffnung des Neuen Gewandhauses auf dem Podium, gemeinsam mit den anderen Chören, die sein Leben weitgehend geprägt hatten: dem Thomanerchor und dem Rundfunkchor. So beweist dieses letzte Konzert, genau wie sein gesamtes Chorsängerleben, wie eng verflochten die einzelnen Leipziger Kulturinstitutionen waren und sind und dass erst aus diesen ganz engen Beziehungen das besondere Wesen Leipzigs als Kulturstadt erwachsen konnte.
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