Vergessene Jahre …
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1924 bis 1933
von Rüdiger Koch

„Funkdirigenten“
Charakterbild über Alfred Szendrei in einem Beitrag der Zeitschrift „Die Sendung“ von 1931
Die MIRAG mausert sich: Von der Hauskapelle zum Symphonieorchester [04]
Zurück in das Jahr 1924. Am 1. März wurde die erste MIRAG-Sendung ausgestrahlt.
Schon im Februar hatte Szendrei in Berlin die Arbeitsweise des dortigen Senders studiert. Auf den Berliner Erfahrungen konnte der junge Leipziger Sender aufbauen, aus den Berliner Fehlern konnte gelernt werden.

Alfred Szendrei mit dem Ersten Konzertmeister Emil Luth und weiteren Mitgliedern der MIRAG-Hauskapelle sowie Sängern während einer Tonaufnahme mit dem Kathodophon, vermutlich 1924 .
© Foto: DRA Frankfurt/Main
Zunächst wurden kleinere musikalische Beiträge im Programm der MIRAG gesendet.
Die Rundfunk-Hauskapelle spielte in einer Besetzung mit je einer 1. und 2. Violine, einem Cello und Klavier kleinere unterhaltende Stücke.
Verschiedene Qartettvereinigungen waren im Programm vertreten, darunter das Leipziger Vokalquartett, das Leipziger Männerquartett und das Leipziger Siegenbachsche Vokalquartett. Als Altistin der letztgenannten Quartettvereinigung wird Annemarie Schöbel genannt, die als Annemarie Claus-Schöbel nach 1946 dem Rundfunkchor angehören wird. Auch Szendrei war als Begleiter seiner Ehefrau, der Opernsängerin Eugenie Wilms, im Programm vertreten.
Bald wurden erste Versuche mit Kammerorchester- und Chorbesetzungen unternommen. Am 30. März spielte ein aus Mitgliedern des Theater- und Gewandhausorchesters zusammengesetztes Kammerorchester unter der Bezeichnung „Ein Kammerorchester“ unter der Leitung des musikalischen Direktors der MIRAG einen Melodienkranz aus Webers „Freischütz“.
Für Karfreitag, den 18. April 1924, war ein geistliches Abendkonzert mit dem Leipziger Madrigalchor verzeichnet.
Der Rezensent der „Radio-Rundschau“ schrieb über eine Sendung mit diesem Chor in einer Fernkritik, so die Bezeichnung der neuen journalistischen Gattung:
„Der Leipziger Madrigalchor, der unter der Leitung des Kantors Albert Kranz am Donnerstag abend sang, hinterließ gemischte Eindrücke. Teilweise ließ die Intonation zu wünschen übrig, und manchmal fehlte es an Ausgeglichenheit der Stimmen.“
Die Orchesterbesetzungen wurden entsprechend den gewachsenen Aufnahmemöglichkeiten immer größer. Mehrfach fanden sich Sendungen mit dem „Rundfunk-Orchester“ unter Szendrei im Programm.
Am 17. August dirigierte Szendrei ein „Klassisches Symphoniekonzert“ mit einem „Das Rundfunk-Symphonieorchester“ bezeichneten Klangkörper, eine Woche später „Das Philharmonische Rundfunkorchester“.
Mendelssohns „Sommernachtstraum“ erklang am 11. September in Szendreis Einrichtung mit dem „Verstärkten Rundfunk-Orchester“.
Im Oktober wurden sogar mehrfach die Orchesterstärken in der „Radio-Rundschau“ genannt.
Am 12. Oktober spielte das Philharmonische Rundfunkorchester mit 22 Musikern, für den 26. Oktober hieß der Programmeintrag: „Mitglieder des Leipziger Sinfonieorchesters (30 Musiker)“.
Dieses war die erste Nennung des Namens „Leipziger Sinfonieorchester“ im Programm des Mitteldeutschen Rundfunks. Der Orchester-Chronist Jörg Clemen gibt hierfür erst den 23. November 1924 an.
Für den mitteldeutschen Sender war es notwendig, auf kurz oder lang ein eigenes Orchester zur Verfügung zu haben. Alle Programmbeiträge gingen original über den Sender, und zuvor musste geprobt werden. In dieser Situation hätte es eines kaum zu meisternden Organisationsaufwandes bedurft, das Programm mit Honorarkräften zu bestreiten. So bestand langfristig das Ziel, ein eigenes Orchester aufzustellen und sich bis zu diesem Zeitpunkt mit der kleinen Hauskapelle und einem fremden Orchester für herausgehobene Konzerte zu behelfen.
Am Beginn der Konzertsaison hatte Alfred Szendrei versucht, das Dresdner Philharmonische Orchester für sechs große Sinfoniekonzerte nach Leipzig zu holen.
Am 6. Oktober titelte die in „Auf Wiederhören!“ umbenannte „Radio-Rundschau“ auf ihrem 35. Heft neben einem Portrait Szendreis:
„Zoologischer Garten (Großer Festsaal) – 6 große Sinfoniekonzerte mit dem Dresdner Philharmonischen Orchester“.
Es ist aus der Geschichte des MDR Sinfonieorchesters hinlänglich bekannt, dass nur das erste dieser Konzerte am 6. Oktober 1924 stattfand, dass der Leipziger Lokalpatriotismus dadurch angestachelt wurde und dass Szendrei diese Situation mit Erfolg nutzte, das Leipziger Sinfonieorchester als das Orchester der MIRAG zu etablieren.
Wie schon mit seiner Hospitation bei der Berliner Funkstunde, so hatte Szendrei auch bei der Bindung des Leipziger Sinfonieorchesters an die MIRAG eines seiner Erfolgsrezepte, das sich auch später als hilfreich erweisen sollte, angewandt, nämlich auf Bewährtes zurückzugreifen und es sich, seinen Intentionen und Zwecken gemäß, zu Nutze zu machen.
→ 05 VOM „FUNKISCHEN SINGEN“: DIE LEIPZIGER ORATORIENVEREINIGUNG – SZENDREIS RUNDFUNKCHOR
← CHOR-CHRONIK STARTSEITE
Weitere Chor-Chronikthemen 1924-1933
→ 01 Das Geheimnis eines alten Bildes
→ 02 Rundfunk – das neue Medium der zwanziger Jahre
→ 03 Alfred Szendrei: Rundfunkmusik in Theorie und Praxis
• 04 Die MIRAG mausert sich: Von der Hauskapelle zum Symphonieorchester
→ 05 Vom „funkischen“ Singen: Die Leipziger Oratorienvereinigung
→ 06 Dr. Helmuth Weise: Rundfunkchorsänger der zwanziger und fünfziger Jahre
→ 07 Das Ende der Ära Szendrei und das Ende der Leipziger Oratorienvereinigung
→ 08 „An den Pranger mit Dr. Szendrei!“
Sorry, the comment form is closed at this time.