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Vergessene Jahre …

Chronik des Leipziger Rundfunkchores  Die Jahre 1924 bis 1933

von Rüdiger Koch

 

www Szendrei Arbeitszimmer

Alfred Szendrei in seinem MDR-Dienstzimmer im Leipziger Funkhaus in der „Alten Waage“, um 1925
© Foto: MDR Orchesterarchiv

 

Alfred Szendrei: Rundfunkmusik und Praxis  [I-03]

Wer war dieser Alfred Szendrei, der schon seit 1918 als 1. Kapellmeister in Leipzig wirkte und sich nun für eine längere Zeit fest an diese Stadt binden sollte?
Am 29. Februar 1884 in Budapest geboren, studierte er von 1901 bis 1905 in seiner Heimatstadt Musik, absolvierte danach die üblichen Stationen im Werdegang eines Kapellmeisters und war als Korrepetitor sowie Kapellmeister an verschiedenen kleineren und größeren Bühnen im In- und Ausland tätig.

Der New Growe nennt folgende Stationen:
1905-1907 Köln
1907-1909 Mülhausen
1909-1911 Brünn
1911-1912 Philadelphia und Chicago
1912-1913 Hamburg
1913-1914 New York (Century Company)
1914-1916 Berlin-Charlottenburg
1916-1918 Wien (Volksoper)
1918-1924 Leipzig

Diese Etappen müssen während des 1. Weltkrieges durch einen Einsatz in der österreichisch-ungarischen Armee unterbrochen worden sein, denn der Rezensent von Szendreis Dissertation bemerkt, er lernte Szendrei kennen als hervorragenden Organisator der deutsch-österreichischen Musikpropaganda in Konstantinopel während des Weltkrieges.
Im Jahre 1924, also 40-jährig, hatte der Dirigent genug Erfahrungen gesammelt und auch das entsprechende Alter erreicht, um die Chefposition an einer Bühne oder einer anderen Kulturinstitution übernehmen zu können.
Vom Frühjahr 1924 bis zum November 1931 (offiziell endete der Vertrag jedoch erst im Sommer 1932) war Alfred Szendrei als Direktor der Musikabteilung des Mitteldeutschen Rundfunks ständiger Dirigent des Leipziger Sinfonieorchesters.

Nach seiner Entlassung aus der MIRAG werden seine Spuren undeutlich. So soll er kurzzeitig als Musikdirektor des Berliner Rundfunks gewirkt und am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin unterrichtet haben. Schon in dieser Zeit begann er, Material über die Geschichte der jüdischen Musik zu sammeln.

Bevor Szendrei Anfang der vierziger Jahre in die Vereinigten Staaten emigrierte, war er von 1933 bis 1940 als Programmdirektor beim Rundfunk in Paris tätig.
In einem Brief an den Komponisten, Musikwissenschaftler und Dirigenten Fritz Reuter, mit dem ihn seit seiner Leipziger Zeit eine gute Freundschaft verband, schildert Alfred Sendrey (diese Schreibweise seines Namens hatte sich der Dirigent in den USA zugelegt) seine abenteuerliche Flucht aus Paris einen Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen, die Erlebnisse zwischen den Frontlinien, die Rückkehr in die besetzte französische Hauptstadt, seine nochmalige und diesmal erfolgreiche Flucht in den unbesetzten Teil Frankreichs sowie die gefährliche Überfahrt in die Staaten. In den USA begann Szendrei eine intensive Forschungs- und Lehrtätigkeit an verschiedenen, größtenteils jüdischen Hochschulen, zuletzt an der Universität für Jüdische Wissenschaften, die ihm 1967 die Ehrendoktorwürde verlieh. Von 1952 bis 1964 wirkte er zudem als musikalischer Direktor an mehreren Synagogen.
Am 3. März 1976 starb Alfred Szendrei in Los Angeles.

www-Szendrei-Dissertation

„Rundfunk und Musikpflege“
Schutzumschlag der Dissertation von Alfred Szendrei, erschienen im Verlag Kistner & Siegel 1931
Dokument: Archiv Rüdiger Koch

Der Dirigent ist auch mit Kompositionen an die Öffentlichkeit getreten: Seine Oper „Der türkisenblaue Garten“ (1920) wurde 1931 von der MIRAG gesendet. Ferner werden eine ungarische Ouvertüre, eine Sinfonie (1923), sowie Lieder, Kammermusik und weitere Vokalkompositionen genannt.

Seit Beginn seiner MIRAG-Tätigkeit hatte sich Szendrei häufig publizistisch geäußert und in verschiedenen Musik- und Rundfunkzeitschriften das neue Medium Rundfunk sowie die Bedeutung der Musik für den Funk leidenschaftlich propagiert. Er dürfte auch der erste gewesen sein, dessen Promotion ein Rundfunkthema zum Gegenstand hatte. Unter dem Titel „Rundfunk und Musikpflege“ ist diese Arbeit 1931 in Leipzig veröffentlicht worden. Als wichtigstes seiner Nachkriegswerke erschien 1969 „Die Musik Alt-Israels“. Durch Vermittlung von Fritz Reuter wurde dieses Werk 1970 auch in Leipzig verlegt.
Erwähnt sei ferner seine „Dirigierlehre“ (1932), deren 3. Auflage Fritz Reuter noch 1953 in Leipzig besorgte.

Dieser kurze Blick auf die Lebensstationen und Tätigkeitsfelder Szendreis lässt erkennen, welch vielfältig begabte Persönlichkeit dieser Mann gewesen ist. So ist er sowohl ein versierter Praktiker gewesen als auch ein kluger und weitsichtiger Theoretiker. Aus dem Zusammenspiel dieser gegensätzlichen Gaben erwuchs sein hervorragendes Organisationstalent.

Zeitgenossen stellten ihn zwar nicht in eine Reihe mit so berühmten Dirigenten wir Carl Schuricht, Hermann Scherchen oder Bruno Walter, betonten jedoch immer wieder seine Qualitäten als Orchestererzieher.
Er stellte Igor Strawinskys ‚Feuervogel-Suite’ so zwingend ursprünglich hin, daß ihn lauter Beifall verdient lohnte… Das Orchester bewies auch in diesem Konzert höchste Leistungsfähigkeit; es ist durch Schuricht (Szendreis Verdienste sollen dadurch nicht geschmälert werden!) zu einem Kulturfaktor ersten Ranges geworden“, schreibt der Rezensent der Kulturzeitschrift „Das Neue Leipzig“, Heinrich Werlé, der uns später in anderem Zusammenhang wieder begegnen wird.

Ähnlich klingt es in der Zeitschrift für Musik: Einen glanzvollen Abschluß des Konzertwinters bedeutete der Straussabend unter Dr. Szendrei, der unsere städtische [Chemnitzer] Kapelle und sein Rundfunkorchester vereinigte, um die Alpensinfonie und das Heldenleben aufzuführen.

Noch einmal soll Werlé zu Wort kommen:
Dr. Szendrei, dem Orchester ein eigenwilliger, ja fast autokratischer Führer, verriet nicht nur gestisch, sondern auch durch das überaus scharfe Herausarbeiten der dynamischen und der metrisch-rhythmischen Gegensätze, daß er einstens am Theater gewirkt hat… Der starke Beifall am Schluß war verdient.

Unbenannt1

Alfred Szendrei in seinem Arbeitszimmer im MIRAG-Funkhaus
Foto: Mitteldeutsche Monatshefte, 10. Jahrg., Heft 7, April 1927 (Archiv Rüdiger Koch)

Die Bemerkungen über einen geradezu autokratischen Führungsstil Szendreis passen sehr gut zu Bemerkungen von Fred Malige, Geiger und Vorstandsmitglied im Leipziger Sinfonieorchester. Malige äußerte, dass die Musiker über die bevorstehende Entfernung ihres Chefs aus der MIRAG insgeheim froh waren, weil sie seine Strenge fürchteten. Alfred Szendrei wusste, dass sich das Leipziger Sinfonieorchester neben dem Gewandhausorchester nur dann würde bestehen können, wenn es gelänge, dessen Leistungsfähigkeit ständig zu steigern. Aus diesem Grund war er unerbittlich und nutzte Vorspiele zur Vertragsverlängerung seiner Musiker, um auch den einen oder anderen aus dem Orchestern zu entfernen und durch einen besseren zu ersetzen.

Eine detaillierte Interpretation von Szendreis Dissertation muss in diesem kurzen Abriss unterbleiben. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, mit welchem Weitblick er schon in den dreißiger Jahren Grundsätze für den Rundfunk aufstellte, die heute von den öffentlich-rechtlichen Anstalten als Teile ihres Kulturauftrages angesehen werden: die Pflicht zur Pflege wenig bekannter Werke, die Förderung der neuen Musik (auch durch gezielte Kompositionsaufträge), sowie der Auftrag, das Publikum zu bilden. Alles in allem nimmt Szendrei einen didaktischen Standpunkt ein. Er will bessern, belehren, Musikalität erhöhen und musikalisches Erleben vertiefen. Interessant und modern ist seine Auffassung, dass die Güte eines Konzertprogramms in dem geistigen Zusammenhang der zu Gehör gebrachten Werke“ liege „und daß dieser Zusammenhang ebenso zwischen den Konzerten einer Saison … liegen müsse. Diese Forderung gilt noch in erhöhtem Maße für das unendlich erweiterte Rundfunkprogramm.
Diese Aussagen klingen sehr modern und ähneln den Programmvorstellungen von Howard Arman, dem langjärigen Chordirektor des MDR Rundfunkchores. Szendreis Persönlichkeit ist hier etwas näher beleuchtet worden, weil in seiner Vielseitigkeit und seinem Weitblick die Ursachen für die großen, erfolgreichen Leistungen dieses Mannes für den Leipziger Rundfunk in den zwanziger Jahren zu suchen sind.

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