Vergessene Jahre …
Chronik des Leipziger Rundfunkchores Die Jahre 1924 bis 1933
von Rüdiger Koch

Der MIRAG-Musikchef Alfred Szendrei mit dem Leipziger Sinfonieorchester und dem Rundfunkchor anlässlich einer Rundfunkübertragung im Saal der Alten Handelsbörse, 1924
In Bildmitte ist auf einem Stativ eines der für die Mitteldeutsche Rundfunk-AG typischen weißen Reisz-Mikrofone zu sehen.
Rundfunk – das neue Medium der zwanziger Jahre [I-02]
Die technischen Voraussetzungen für die Übertragung der menschlichen Stimme und von Musik hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr schnell vervollkommnet.
In Amerika wurde schon 1909 versuchsweise die Stimme Carusos aus der Metropolitan Opera übertragen, allerdings an einen noch nicht sehr weit entfernten Ort.
Der spätere Rundfunkkommissar Hans Bredow unternahm 1917 in seiner Funktion als Telefunken-Direktor Versuche mit einem Röhrensender: Er übertrug an der Westfront Musik in die Schützengräben.
Weitere Versuche gab es durch Mitarbeiter der Reichspost in den Jahren 1920 und 1921.
Wie bei der Entstehung jedes neuen Mediums drängten auch beim Rundfunk die technischen Möglichkeiten nach einer baldigen Umsetzung in die Praxis.
Nachdem sich 1920 in Detroit der erste Rundfunksender der Welt etablierte und 1922 die BBC und der Dänische Rundfunk ihren Sendebetrieb aufnahmen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Unterhaltungsrundfunk – so der damalige Sprachgebrauch – auch in Deutschland Einzug hielt. Am 29. Oktober 1923 begann die Berliner Funkstunde ihr Programm.
Von den Stationen, die sich darauf im Jahr 1924 in Deutschland bildeten, war der Leipziger Sender nach dem Fox-Haus in Berlin der zweite.
Die sächsische Stadt war durch ihre zentrale Lage in Mitteldeutschland, ihre deutliche Entfernung von Berlin und ihre Bedeutung als Kultur-, Handels- und Industriemetropole als Standort für den mitteldeutschen Sender bestens geeignet.
Im Januar wurde das Unternehmen „Mitteldeutsche Rundfunk-A.-G.“ gegründet. Als Sendestart war der Beginn der Frühjahrsmesse Anfang März ins Auge gefasst worden, ein Zeitpunkt, zu dem Leipzig sowieso die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zog.
Die Gründer des mitteldeutschen Senders standen also unter erheblichem Zeitdruck und hatten in der verbleibenden kurzen Zeit ein enormes organisatorisches Pensum zu bewältigen.
Zunächst mussten die technischen Voraussetzungen geschaffen und geeignete Mitarbeiter für die Programmbereiche Wort und Musik gesucht und gefunden werden. Eine Firma zu gründen und auf sichere finanzielle Füße zu stellen mochte für die Gründungsväter des neuen Senders nicht die größte Hürde gewesen sein. Schwieriger war es hingegen schon, die technischen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen.
Wie jedoch ein Programm auszusehen hatte, wie ein Rundfunksender strukturiert sein musste und welche Eigenschaften und Qualifikationen die künstlerischen Leiter mitzubringen hatten, waren Fragen, bei deren Beantwortung man nicht auf frühere Erfahrungen zurückgreifen konnte.
Da aus technischen Gründen zunächst nur Musik in kleinen Besetzungen gesendet werden konnte, das Ziel jedoch sein musste, die Anzahl der Mitwirkenden bis hin zur Orchesterstärke auszuweiten, war es sinnvoll, einen Dirigenten für die Leitung der Musikabteilung zu gewinnen. Wenn sich dieser auch noch in der Leipziger Musikszene auskannte, wäre dies ein unschätzbarer Vorteil für die neue Sendeanstalt gewesen.
Anfang Januar las Alfred Szendrei in einer Leipziger Zeitung vom Plan, einen Sender zu gründen. Weil er als 1. Kapellmeister der Leipziger Oper keinen festen Vertrag hatte, sondern nur auf Honorarbasis tätig war, hätte ihm eine leitende Position im neuen Rundfunksender natürlich eine deutlich größere materielle Sicherheit gegeben. Auf Drängen seiner Frau stellt sich Szendrei bei Dr. Jäger, dem Leiter der neuen Gesellschaft, vor und wird nach nur kurzen Vertragsverhandlungen als Leiter der Musikabteilung des Mitteldeutschen Rundfunks eingestellt.
Das schnelle Engagement und die problemlosen Verhandlungen lassen darauf schließen, dass sich beide Seiten sofort sympathisch waren und Vorteile aus der gegenseitigen Bindung zu ziehen erhofften. In der Tat hatte die MIRAG einen erfahrenen Dirigenten gewonnen und noch dazu einen Künstler, der im Leipziger Musikleben schon lange zu Hause war.
„Deswegen war schon meine erste Fühlungnahme mit Dr. Jäger für ihn von großer Wichtigkeit. Ich kam direkt von der Oper, stand in freundschaftlichen Beziehungen mit allen Solisten, teils auch mit konzertierenden Künstlern, und Dr. Jäger hat davon für die neue Gesellschaft nicht zu unterschätzende Vorteile erspäht.“
→ WEITER [I-03] SZENDREI: RUNDFUNKMUSIK IN THEORIE UND PRAXIS
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