
Die 1980er Jahre
Nach Westen und Osten: Paris und Kiew [XIX]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Die Pfarrkirche Saint-Eustache an der Rue Rambuteau im 1. Arrondissement der Seinestadt Paris
Foto: Rüdiger Koch
Paris XIX-01
Im September 1979 reisen Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig nach Paris, um in der Kirche St. Eustache Strawinskys Bläsermesse und die As-Dur-Messe von Franz Schubert aufzuführen. Eigentlicher Anlass der Reise war jedoch ein Konzert im Rahmen des Pressefestes der L´Humanité.
Es wird ein buntes Programm mit Werken von Wagner, Dessau, Haydn, Schönberg, Weber und Beethoven gegeben. Der Dirigent beider Konzerte ist Chefdirigent Hauschild.
Und alle acht Chormitglieder, die ein Jahr zuvor ins Ensemble eingetreten waren, durften an der Reise teilnehmen.
Reisebericht


















Das Chortagebuch des Leipziger Rundfunkchores vermerkt unter dem Datum des 5. September 1979, einem Mittwoch: „19.44 Uhr Abfahrt mit Sonderzug von Bahnsteig 1 in Schlaf- und Liegewagen nach Paris. Über die Reise 6. – 11. IX. erfolgt Sonderbericht.“
Jedoch hat ein Reisebericht über das Paris-Gastspiel nie seinen Weg ins Chortagebuch gefunden. Deshalb möchte ich – im Abstand von 39 Jahren – den Versuch unternehmen, einige Eindrücke von dieser Reise zu einem Bericht zusammenzufassen.
Bis in die 1970er Jahre hinein gehörten dem Rundfunkchor Leipzig 60 Mitglieder an. Im September 1974 beschloss der Rundfunk, die Stellenzahl in zwei Schritten zu erhöhen, zunächst auf 70 und später auf 80. Als Folge dieser Aufstockung kamen im Jahr 1978 neun junge Chormitglieder in das Ensemble.
Ein Jahr später, im September 1979, fand eine Konzertreise in den „Westen“ statt. Alle 1978 engagierten Kolleginnen und Kollegen durften mitfahren, darunter auch ich.
Der Reiseplan sah zwei Konzerte vor: die Aufführungen der As-Dur-Messe von Schubert sowie der Bläsermesse von Strawinsky in der Kirche St. Eustache und – wohl der eigentliche Anlass der kleinen Tournee – das Abschlusskonzert des Pressefestes der „L’Humanité“ mit einem eher bunten Programm, das Ausschnitten aus „Fidelio“, dem „Freischütz“, den „Jahreszeiten“, einen Chor von Paul Dessau und Schönbergs „Überlebenden von Warschau“ brachte.
Der späten Abfahrt geschuldet, fuhren wir in der Nacht durch die Bundesrepublik Deutschland und mussten Einblicke in das Land hinter dem Eisernen Vorhang auf die Rückfahrt verschieben. Am Vormittag kam der Sonderzug auf dem Gare de l’Est in Paris an.
Groß war die Enttäuschung, als wir erfuhren, nicht in der Stadt Paris, sondern in einem Motel etwa 40 Kilometer von der Pariser Stadtgrenze entfernt, untergebracht zu sein. Einmal in dieser Metropole, wollte doch jeder zwischen den Proben und Konzerten möglichst viel vom Flair der Stadt mitbekommen.
Am nächsten Tag gab es dann aber zwischen der Busankunft und der Probe in der Kirche St. Eustache schon einmal Gelegenheit, die nähere Umgebung der Kirche zu erkunden und sich beispielsweise das Centre Georges Pompidou anzusehen.
In der Eustache wurden am Abend Schuberts As-Dur-Messe und die kleine Bläsermesse von Igor Strawinsky zu Gehör gebracht. Die Busse fuhren nicht sofort nach dem Konzertende zurück in das Motel. So blieb noch kurze Zeit, in das abendliche Fluidum der Metropole einzutauchen.
Nach dem Konzert gab es einige „Abgänge“. Zwei Fagottisten und zwei Kontrabassisten hatten es vorgezogen, nicht in die DDR zurückzukehren.

l’orchestre symphonique:
Ausschnitt aus dem Programmheft des Kirchenkonzertes in der St. Eustache
Dokument: Chortagebuch im Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Der genaue Ablauf des 8. September, einem Sonnabend, ist mir nach 39 Jahren nicht mehr erinnerlich. Vermutlich brachten die dem Chor zur Verfügung gestellten Busse die an einem Stadtbummel interessierten Chormitglieder vormittags in die Stadt, wovon sicher rege Gebrauch gemacht wurde.
Von der Kirche La Madeleine, unweit der Place de la Concorde, ging es am Abend wieder zurück ins Hotel. Zuvor hatten wir die Kathedrale Notre-Dame de Paris, die Seine-Insel Île de la Cité, den Jardin des Tuileries, den Louvre und viele andere Sehenswürdigkeiten besucht – sowie Mitbringsel für die Zu-Hause-Gebliebenen eingekauft.
Wie bei Reisen in das westliche Ausland üblich, war das Reisegepäck gefüllt mit Lebensmitten: Wurstbüchsen, Käse, Dauerwurst Knäckebrot … Schließlich wollte niemand die kostbaren Francs für die Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben.
Am dritten Tag der Reise, einem Sonntag, war der Vormittag frei. Das Konzert auf dem Pressefest war für den Abend angesetzt. Zuvor fand die Anspielprobe statt.
Um dem Chor die Möglichkeit zu geben, wenigstens etwas von Paris zu sehen, fuhren die Chorbusse am Morgen dieses Tages für interessierte Kollegen noch einmal nach Paris, um sie mittags wieder zum Motel zurück zu bringen. Zwei Chorsänger hatten vorher schon beschlossen, zwar mit in die Stadt zu fahren, jedoch in Paris zu bleiben, die Konzertkleidung im Bus zu lassen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln an den Konzertort zu fahren. Sie fanden den „Parc de la Corneufe“ auf Anhieb. Es schien, als hätte sich auf diesem riesengroßen Gelände ganz Paris eingefunden! Dennoch erreichten die beiden pünktlich vor der Probe die Bühne für das Open-air-Konzert und auch die Busse. Doch diese waren verschlossen – und die Busfahrer in dem Ameisenhaufen zehntausender Menschen nicht zu finden. Nun war guter Rat teuer. Der eine Kollege hatte seinen schwarzen Anzug schon an. Lediglich schwarze Schuhe fehlten zur perfekten Ausstattung. Diese hatte der andere an den Füßen, jedoch weder eine schwarze Jacke noch eine schwarze Hose. Ein weißes Campinghemd war das einzige einigermaßen „konzerttaugliche“ Kleidungsstück.
Zum Glück hatten sich nach dem Konzert in der Kirche St. Eustache zwei Tage zuvor einige Orchestermusiker abgesetzt. So sang der eine Kollege im Frack eines abgehauenen Fagottisten. Die Bühne war sehr weit von den Zuhörern entfernt, sodass wohl niemand diesen Chorsänger bemerkte, dessen Outfit man wohl als „over-dressed” bezeichnen konnte.

Symphonie en plein air:
Eine ungenannte französische Zeitung, vermutlich die L’Humanité, berichtet über das Konzert der Leipziger Rundfunk-Klangkörper auf dem Pressefest der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité
Dokument: Chortagebuch im Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Der 9. September 1979 war ein warmer Spätsommertag. Am Nachmittag bezog sich der Himmel.
Nach der Probe wurden die Wolken dunkler und ein Gewitter zog heran. Die Wartezeit bis zum verspätet beginnenden Konzert vertrieben sich die Chor- und Orchestermitglieder hinter der Bühne. Dort waren – ursprünglich für die Zeit nach dem Konzert – Zelte aufgebaut, in denen es reichlich zu Essen und zu Trinken gab. So wurde das Konzert (nicht nur wegen des Regens!) eine feucht-fröhliche Veranstaltung.
Einem Bassisten müssen „liebe“ Kollegen zu viel Whisky in den Orangensaft gemischt habe. Er sagte später: „Wisst ihr, dass ich das ganze Konzert auswendig gesungen habe?“ Also auch Schönbergs „Überlebenden von Warschau“ in der hebräischen Originalsprache!
Nachdem die während der Wartezeit nicht alle gewordenen Speisen und Getränke nach dem Konzert „vernichtet“ wurden, ging es mit den Bussen zurück ins Motel.
Beim Aussteigen gab es eine gewisse Unruhe, weil sich ein Kollege vor dem Bus der zu viel genossenen Speisen und Getränke entledigen musste. Im Zimmer angekommen, wartete ein Chorsänger auf seinen Zimmergenossen.
Als der nicht kam, forschte er in der Lobby nach ihm – vergeblich. Auch die Busse waren inzwischen abgefahren.
Die Suche nach dem Vermissten blieb nicht unbemerkt. Nach den „Abgängen“ zwei Tage zuvor befürchteten die Verantwortlichen der Reiseleitung in ihm schon den nächsten „Republikflüchtigen“.
Mir war allerdings klar: Der kurz zuvor Vater gewordenen Kollege würde sich wieder anfinden. So war es auch. Am nächsten Morgen kam er vergnügt und voller „Erlebnisse“ wieder im Hotel an.
Auf einer der letzten Bänke des Busses war er eingeschlafen, hatte sich auf die Seite gelegt und wurde – wegen des sich vorn übergebenden Kollegen – ganz einfach übersehen. Er wachte im Depot in einem verschlossenen Bus auf. Mitten in der Nacht kamen einige farbige Reinigungskräfte, die den „blinden Passagier“ freudig begrüßten. Auch das Problem, die Notdurft verrichten zu müssen, konnte irgendwie gelöst werden.
Glücklicherweise holte eben dieser Bus am frühen Morgen den Dirigenten Wolf-Dieter Hauschild und die Solisten vom Hotel ab, um sie zum Flughafen zu bringen. So kam der „Flüchtling“, dessen Aufgreifen schon per Telefon gemeldet worden war, wieder bei der Reisegruppe an.
Die Namen aller hier genannten Chormitglieder verschweigt des Sängers Höflichkeit!
Am Vormittag des 10. September fuhren das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor Leipzig wieder mit dem Sonderzug zurück in die DDR. Auf dem Zwischenhalt in Saarbrücken wird sich wohl der eine oder andere Reisende die Frage gestellt haben: „Aussteigen – oder weiterfahren?“.
Kapitelübersicht
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