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Die 1980er Jahre

Eine neue Epoche für den Rundfunkchor [XVIII]

 

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

Arnold Schönberg dirigiert im Rundfunk 1927
Dokument: Deutsches Rundfunkarchiv . Historisches Archiv der ARD

 

Herbert Kegels Interpretationen der „Gurre-Lieder“ und des „War Requiems“  [XVIII-05]

Herbert Kegel fühlte sich am wohlsten, je größer die Masse an Musikern und Sängern war, die er “befehligen” konnte.
Neben Mahlers Sinfonie der Tausend, dem Requiem von Hector Berlioz, dem Wagnerschen Parsifal gehörten zu seinen bevorzugten “Schlachtfeldern” auch die Gurre-Lieder von Arnold Schönberg und Brittens War Requiem.

 

Schönbergs „Gurre-Lieder“ als DDR-Erstaufführung

In den Konzerten und der CD-Aufnahme der Gurre-Lieder gelang Herbert Kegel die Quadratur des Kreises:
Die drei gleichzeitig singenden vier- oder mehrstimmigen Männerchöre wurden plastisch voneinander abgesetzt und klangen transparent sowie prägnant.
Auch im Orchester und im Zusammenspiel von Chören und Orchester ging es ihm darum, möglichst alle Details hörbar zu machen.
„Im Hinblick auf klangliche Analytik haben Herbert Kegel und die Dresdner Philharmonie Überragendes geleistet: Es existiert keine Wiedergabe der Gurrelieder, die so sorgfältig und nachdrücklich noch dem geringsten Partiturhinweis Schoenbergs nachgeht. Jedes Sforzato einzelner Instrumente, jede gegenläufige Dynamik in verschiedenen Orchestergruppen, jeder Zwei gegen Drei – oder Drei gegen Vier – Rhythmus läßt sich hörend verfolgen.“

Was das FonoForum zur Orchesterbehandlung schreibt, lässt sich ebenso vom Umgang mit den Chören sagen.
Bis zum Jahr 2014 hat der Leipziger Rundfunkchor an 10 Produktionen bzw. 25 Konzerten der Gurre-Lieder mitgewirkt.
Immer noch darf die Kegelsche Produktion als Referenzaufnahme gelten. Unübertroffen in Ausdruck und musikalischem Duktus ist Gert Westphal als Sprecher.

 

Gert Westphal – „Der Vorleser der Nation“

Dankschreiben des Sprechers Gert Westphal an Herbert Kegel vom 8. Juni 1986
Dokument: Nachlass Herbert Kegel im Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Fotografie Gert Westphal aus einer Programmvorschau von Radio Bremen

 

„Was Ihnen da geglückt ist,
wissen nicht einmal Sie selber“
Gert Westphal an Herbert Kegel

 

Gert Westphal in einem Interview von Radio Bremen


 „Die Leidenschaft des lauten Lesens – Gespräch mit Gert Westphal“
Radio Bremen 1999 [Auszug]

 

„Der Vorleser der Nation“ ist nur eines der Prädikate, mit denen Gert Westphal bedacht wurde.
Thomas Manns Ehefrau Katia nannte ihn „ … des Dichters oberster Mund“.
Bezeichnungen wie „Der Caruso der Vorleser“ oder „Fischer-Dieskau des Wortes“ nehmen Bezug auf die musikalische Vortragsweise des Künstlers.
So war es ein Glücksfall, dass Kegel für seine CD-Produktion der Gurre-Lieder und für zwei Konzerte in Dresden und eines in Berlin diesen Sprachkünstler für die Partie des Sprechers gewinnen konnte. Beide, 1920 in Dresden geboren, haben sich wohl in ihrer Jugend niemals kennengelernt.

Schwärmerisch, beinahe verliebt, schreibt Westphal nach den Konzerten und der Aufnahme am 8. Juni 1986 an Kegel:
„ … es gab für mich ein einziges Manko bei unserer Arbeit, bei unseren Konzerten, daß sie zu Ende gingen. Deshalb muß ich heute noch einmal von Herzen und vom Kopfe Dankeschön sagen, dafür, daß Sie mich geholt haben, dafür, wie Sie mit mir gearbeitet haben, dafür, wie Sie die Arbeit getan haben. Das Berliner Konzert ist, da bin ich mir ganz sicher, das beste gewesen, was ich je als Mitwirkender, wie als Zuhörer von Gurre-Liedern gehört habe. Was Ihnen da geglückt ist, wissen nicht einmal Sie selber.“

 

Hörproben:

Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“


Gegrüßt, o König, an Gurre-Seestrand! (Waldemars Mannen)

 


Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht (Waldemars Mannen)

 


Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut (Sprecher)

 

 

Dankschreiben von Herbert Kegel an den Leipziger Rundfunkchor
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

Seht, die Sonne (Gemischter Chor)

Eva- Maria Bundschuh, Sopran (Tove)
Rosemarie Lang, Alt (Waldtaube)
Manfred Jung, Tenor (Waldemar)
Wolf Appel, Tenor (Klaus-Narr)
Ulrik Cold, Bass (Bauer)
Gert Westphal, Sprecher
Rundfunkchor Berlin · Einstudierung: Dietrich Knothe
Rundfunkchor Leipzig · Einstudierung: Jörg-Peter Weigle
Prager Männerchor · Einstudierung; Miroslav Košler
Dresdner Philharmonie
Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme: VEB Deutsche Schallplatte
in der Dresdner Lukaskirche am 5. August 1989
Recording Producer: Heinz Wegener
Balance Engineer: Claus Strüben
Recording Engineer: Horst-Dieter Käppler

 

Die erste Leipziger Rundfunk-Aufführung der „Gurrelieder“ 1929

Die Alberthalle des Leipziger Krystallpalastes
Foto: Stadtarchiv Leipzig

Als den Höhepunkt seiner Rundfunkdirigiertätigkeit benannte der Leipziger Rundfunk-Musikchef Alfred Szendrei in seinen „Lebenserinnerungen“ die Aufführung von Schönbergs „Gurre-Liedern“, die am 6. Mai 1929 in der Alberhalle  stattfand. Dazu schreibt er:

Saal der Alberthalle
Foto: Stadtarchiv Leipzig

„Ich lud dazu Schönberg ein, und in der Erwartung seiner Anwesenheit habe ich ausgezeichnete Solokräfte herangeholt:
Den Gurre sang der hervorragende Tenor Anton Maria Topitz, die Tove Lotte Mäder-Wohlgemuth, die Alt-Partie Martha Adam.

Auch die kleineren Rollen waren mit entsprechend guten Sängern besetzt.
Für den Sprecher aber habe ich aus Wien den Schauspieler Wilhelm Klitsch kommen lassen, der die schwierige Rolle bei der Uraufführung gesprochen hatte.

Szendreis Konzept der Orchester-, Solisten- und Choraufstellung zur Aufführung der Gurre-Lieder in der Alberthalle des Krystallpalastes
Dokument: Deutsches Rundfunk-Archiv, Frankfurt/Main

Mein Orchester wurde auf 100 Mann verstärkt, die halsbrecherisch schwierigen Chöre wurden von der Leipziger Singakademie, dem Leipziger Männerchor und der Leipziger Oratorienvereinigung bestritten: es war ein imposanter Chorkörper von mehr als 450 Sängern.

Das Podium war zu klein, um solche Massen unterzubringen, und es mußten eine Anzahl Logen im Zuschauerraum dafür herangezogen werden.
Die Aufführung war ein großer Erfolg sowohl für Schönberg wie für mich. Wir beide wurden sehr gefeiert, sogar die Presse war einstimmig im Lob, ein Umstand, der sich in Leipzig nur selten ereignete.
Obwohl die Funkübertragung einer solchen Massenaufführung ziemlich problematisch und riskant war, haben dennoch der Deutschland-Sender und die meisten anderen Sender die Aufführung übernommen. Wider Erwarten liefen in den nächsten Tagen eine Menge guter Urteile über den akustischen Teil der Übertragung bei uns ein.“

 

Nach der ersten Radio-Übertragung der Gurre-Lieder lagen die Noten Werkes mehr als ein halbes Jahrhundert mehr nicht auf den Pulten der Leipziger Rundfunk-Chormitglieder. Herbert Kegel war es, der das Werk auch im Osten Deutschlands bekannt macht und die DDR-Erstaufführung 1986 im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele leitete.
Seither vergingen kaum mehr als fünf Jahre zwischen den einzelnen Aufführungen. Die Gurre-Lieder verlangen einen sehr großen musikalischen Apparat: ein extrem stark besetztes Orchester (u.a. eine Kontrabaßtuba in C) und gleich drei Männerchöre! Was Wunder, dass es vorwiegend die Rundfunkanstalten waren, die Schönbergs Komposition in den Konzertsaal brachten und produzierten – und damit ihrem Auftrag gerecht wurden, sich schwer aufführbaren Werken zu widmen. Am Pult der Aufführungen standen die Dirigenten der ersten Reihe: Sir Simon Rattle, Mariss Jansons, Giuseppe Sinopoli, Marek Janowski, Kent Nagano, Esa-Pekka Salonen oder Michael Gielen.

 

Brittens War Requiem: Eine englisch-deutsche Zusammenarbeit

Dirigierte Herbert Kegel die Gurre-Lieder, den Großinquisitor von Blacher oder Porgy and Bess erstmals, bzw. erstmals unter Beteiligung des Leipziger Rundfunkchores, kam er auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt auf das War Requiem von Benjamin Britten zurück, das er schon so oft mit dem Chor aufgeführt hatte.

Herbert Kegel hatte fünf Jahre lang als Soldat den Zweiten Weltkrieg erlebt, eine Schussverletzung an der linken Hand erlitten und musste dadurch den Traum einer Pianistenkarriere aufgeben.
„Nach dem braunen Verbrechen war ich hellwach und versuchte, Wissen umzusetzen“, zitiert Kegel-Biografin Helga Kuschmitz den Dirigenten.
Verständlich, dass Kegel nicht von Brittens War Requiem lassen konnte!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zeitungskritiken der UNION und der ff-dabei
Dokumente: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Im April 1980 produzierte das DDR-Fernsehen zusammen mit der BBC Wales dieses Werk in der Dresdner Hofkirche.
Aus England kamen die Solisten und das BBC Welsh Symphony Orchestra, aus der DDR das Kammerorchester der Dresdner Philharmonie, der Rundfunkchor Leipzig, die Dresdner Kapellknaben und der Dirigent Kegel.
Sowohl für die deutschen als auch für die englischen Mitwirkenden war diese Produktion sehr bewegend.

In einem Zeitungsbericht wird mit John Brownlee ein Vertreter des BBC-Orchesters zitiert:
„Beeindruckt sind alle von der Zusammenarbeit mit einem so profilierten Dirigenten wie Prof. Herbert Kegel … und außergewöhnlich finden wir den Rundfunkchor Leipzig in seiner hohen Musikalität, Klangschönheit und -kultur. Für unser Orchester ist diese Zusammenarbeit … ein Höhepunkt, so daß sich alle eine Wiederholung solcher gemeinsamen Arbeit wünschten!“

1982 sollte diese Zusammenarbeit mit einer Fernsehproduktion des Händelschen Messias in der Kathedrale von Chester fortgesetzt werden.

Doch zurück zum War Requiem von Britten:
Herbert Kegel hatte das Requiem in Leipzig beinahe jährlich zu Gehör gebracht. Somit schließt sich mit der CD-Produktion des Werkes im Februar 1989 und zwei Konzerten im März 1989 im Berliner Schauspielhaus mit der Dresdner Philharmonie ein großer Bogen.

Es sollte dies die letzte bedeutende Zusammenarbeit Kegels mit dem Rundfunkchor Leipzig werden.
Lediglich im Frühjahr des Jahres 1990 folgten noch Aufnahmen mit kleineren Mozart-Messen in Leipzig.

 

LITERATURTIPP:
Helga Kuschmitz: Herbert Kegel – Legende ohne Tabu. Ein Dirigentenleben im 20. Jahrhundert
Eine spannende Dirigentenbiographie in Wort und Bild, dazu eine CD-Beilage mit Kompositionen und Mitschnitten aus dem Schaffen von Herbert Kegel

 


 

Kapitelübersicht

→ XVIII-01 Jörg-Peter Weigle – Vom Thomaner zum Chordirigenten
 → XVIII-02 Das Neue Gewandhaus: Lang ersehnt – endlich vollendet
 → XVIII-03 Und immer wieder: Peter Schreier
→ XVIII-04 Herbert Kegel und kein Ende
  Herbert Kegels Interpretationen der „Gurre-Lieder“ und des „War Requiems“
 → XVIII-06 Annäherungsversuch an den Menschen Herbert Kegel
 → XVIII-07 Der Schallplattenchor der 1980er Jahre
→ XVIII-08 Kurt Masur – Kaleidoskop einer langen Freundschaft
→ XVIII-09 Bekannte Namen

 


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