Erstmals vor 80 Jahren:
Gewandhaus-„Neunte“ mit dem Leipziger Rundfunkchor [IX]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
Des Jahres letzte Stunde
Der Jahreswechsel war und ist für die Sängerinnen und Sänger des Leipziger Rundfunkchores immer eine Zeit enormer künstlerischer Inanspruchnahme.
Ein Grund dafür ist die Leipziger Tradition, am Silvesterabend Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie unter Leitung des jeweiligen Gewandhauskapellmeisters aufzuführen.
Sylvester 1939 – Eine halbe Stunde vor Mitternacht
Erstmals war der Leipziger Rundfunkchor als Chor des Reichssenders Leipzig im ersten Kriegs-Silvester 1939 an einer solchen Aufführung im Gewandhaus beteiligt.
Steffen Lieberwirth hat die Belege dafür gefunden:

Zeitungsartikel der „Leipziger Neuesten Nachrichten“
Weitere Leipziger Veranstaltungs-Anzeigen in dieser Silvesterausgabe 1939:
Neues Theater – Berlioz,
Oper „Carmen“
Alberthalle des Krystallpalastes – Beethoven, „Missa Solemnis“
Leipziger Krystallpalast – Paul-Lincke-Revue „Donnerwetter Tadellos“
Kino Capitol – Kristina Söderbaum im Tobis-Film „Die Reise nach Tilsit“, Drehbuch und Regie Veit Harlan
Kino City Promenadenstraße 8 – Kinofilm „Premiere der Butterfly“ mit Maria Cebotari, Lucie Englisch und Paul Kemp
Der Kalender zeigt uns mit dem 31. Dezember den letzten Tag des Jahres 1939 an.
Anders als in den Jahren zuvor erscheint kriegsbedingt nur noch eine Tageszeitung in Leipzig. Und in der scheint neben seitenfüllender markiger Kriegspropaganda und Traueranzeigen über Kriegsgefallene eine kleine Kultur-Meldung ziemlich unterzugehen, obwohl sie ob ihres Inhaltes wie ein Lichtblick neben Hitlers, Görings und Mutschmanns säbelrasselnden Parolen erscheint.
Es ist die Ankündigung, dass die „Neujahrsfeier des Großdeutschen Rundfunks“ in jenem ersten Kriegs-Silvester 1939 aus Leipzig kommen würde.
Für diese Rundfunkübertragung hat Abendroth mit der Sopranistin Lea Piltti von der Wiener Staatsoper, der gebürtigen Leipziger Altistin Charlotte Wolf-Matthäus, dem Tenor Heinz Matthéi aus Lübeck und dem dann wenige Jahre später in Bayreuth als Hunding gefeierten Bassisten Josef Greindl eine erstklassige Solistenbesetzung engagiert.
Apropos: Für Charlotte Wolf-Matthäus ist der Auftritt mit dem Gewandhausorchester fast schon Routine, hat die gefeierte Oratoriensängerin doch schon seit Anfang der 1930er Jahre bei den von Karl Straube geleiteten und vom Rundfunk europaweit übertragen Bach-Kantaten mitgewirkt (Edition Gewandhausorchester Vol. 3). Und die finnische Sängerin Lea Piltti hatte 1933 sogar im Gewandhaus ihre Europakarriere begonnen. Heinz Matthéi und Josef Greindl hingegen geben ihr Leipziger Debüt. Sie treten an diesem Silvesterabend erstmals im Gewandhaus auf.
„An die Freude“ als deutschlandweite Radio-Botschaft
Wie sich der Silvester-Abend für die Rundfunkhörer an ihren Radioapparaten gestalten würde, recherchieren wir in vergilbten Rundfunkzeitschriften.
Danach sendeten bis 23.30 Uhr alle deutschen Reichssender jeweils eigene Unterhaltungsprogramme.
Aus Leipzig gab es bis dahin „Tanzmusik in die Silvesternacht“.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht schaltet dann der Reichssender Leipzig als „Gebende Rundfunkanstalt“ die Übertragungsleitungen ins Neue Gewandhaus, wo der Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth und das Gewandhausorchester schon auf das Kommando „Ruhe! Sendung!“ warten. Die Übertragung von Beethovens „Freudenbotschaft“ in der Silvesternacht 1939 scheint dem Leipziger Radiosender so bedeutend und erhaltenswürdig, dass er die Live-Sendung gleichzeitig aufzeichnet.
1939 verwendet der Rundfunk zu Aufnahmezwecken sogenannte Plattenschneider, die das Tonsignal in erwärmte Wachs-Matrizen eingraviert.
Für den Mitschnitt des Finalsatzes der Neunten müssen bei einer Umdrehungsgeschwindigkeit von 76cm/s und bei einer Spieldauer von über fünfundzwanzig Minuten sieben solcher Matrizen bereitgehalten werden. Davon lassen sich dann Schellackplatten in einer Kleinstauflage von wenigen Stück zu Abhör- und Aufbewahrungszwecken pressen.
Glücklicherweise haben alle sieben Rundfunk-Schellackplatten die Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit überstanden und werden heute wohlbehütet als Originaltonträger im Deutschen Rundfunkarchiv im Frankfurt am Main aufbewahrt.
Eigens für unsere Recherchen wurden diese Unikate nach über siebzig Jahren wieder zur Hand genommen und mittels heutiger Rundfunktechnik abgetastet.
⇒ weitere Details zum Plattenschneideverfahren
Ludwig van Beethoven (1770 –1827):
Schlusschor über Schillers „Ode an die Freude“ aus der Sinfonie Nr. 9 d-Moll, op. 125
Lea Piltti Sopran
Charlotte Wolf-Matthäus Alt
Heinz Matthéi Tenor
Josef Greindl Bass
Gewandhausorchester Leipzig I Gewandhauschor Leipzig I Chor des Reichssenders Leipzig
Dirigent: Hermann Abendroth
Aufnahme einer Liveübertragung des Silvesterkonzertes aus dem Neuen Gewandhaus durch den Reichssender Leipzig am 31. Dezember 1939
Originalquelle: Sieben Rundfunkschallplatten von innen nach außen abtastend
(Matr.-Nr.: 56977-56983) aus dem DRA Frankfurt
„… die Nachwelt entscheidet darüber!“
Nach dem Zweiten Weltkrieg steht der Rundfunkchor Leipzig, zusammen mit dem Chor des Riedelvereins, dem Chor der Musikhochschule, dem Universitätschor, der Neuen Singakademie und dem Propsteichor, am 31. Dezember 1950 wieder in einer Aufführung von Beethovens Neunter auf dem Podium. Der Aufführungsort ist diesmal die Kongresshalle. Wieder wird das Konzert von Hermann Abendroth, nun Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig, geleitet.
Seither hat der Leipziger Rundfunkchor Beethovens bekanntestes Werk an vielen Silvesterabenden unter allen Gewandhauskapellmeistern gesungen: Franz Konwitschny, Václav Neumann, Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und nun, 2018, Andris Nelsons.
Seltener leiteten Gastdirigenten die traditionelle Aufführung: 1962 Otmar Suitner und 2017 Alan Gilbert.
Silvester- oder Neujahrskonzerte des DDR-Rundfunks gab es unter Mitwirkung des Rundfunkchores Leipzig nur ein Mal. Am Silvestertag 1987 führten die Leipziger Rundfunk-Klangkörper unter Herbert Kegels Leitung Ludwig van Beethovens Missa solemnis im Berliner Schauspielhaus auf.
Anders der Mitteldeutsche Rundfunk! In einem festlichen Konzert zur Sendepremiere des MDR wirkte der Leipziger Rundfunkchor, nun als MDR Chor, am 1. Januar 1992 mit. Es folgte an so manchem Neujahrstag ein festliches Konzert, in dem häufig der MDR Chor mitwirkte: 1994 (Orff: Carmina burana/Daniel Nazareth), 1997 (Operngala/Marcello Viotti), 1999 (Strauß: Die Fledermaus/Manfred Honeck), 2000 (Beethoven: Fidelio/Fabio Luisi), 2001 (Franz Lehár: Die lustige Witwe/Luisi), 2004 (Operngala/Luisi), 2005 (Virgilio Ranzato: Das Land der Glöckchen/Luisi), 2006 (Orff: Carmina burana/Luisi), 2008 (Werke skandinavischer Komponisten/Mario Venzago) und 2012 (Festkonzert „20 Jahre MDR“/Märkl).
Am 1. Januar 1997 stand der MDR-Rundfunkchor sogar zwei Mal auf der Chorempore des Leipziger Gewandhauses. Am Vormittag führte er Beethovens Neunte zusammen mit dem Gewandhausorchester auf, am Abend sang er in einer Operngala zusammen mit dem MDR-Sinfonieorchester.
Das Hörbeispiel am Schluss ist der Höllische Galopp aus Orpheus in der Unterwelt von Offenbach.
Es war die Zugabe eines Konzertes unter der Leitung von Fabio Luisi:
Jacques Offenbach: Höllengalopp aus Orpheus in der Unterwelt
MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor · Choreinstudierung Heiko Reintzsch
Dirigent: Fabio Luisi
Silvestergruß der FREUNDE UND FÖRDERER DES MDR-RUNDFUNKCHORES Leipzig e.V.
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