Rundfunkchor-Alltag in der DDR [XIII]
oder: Die Kunst, mit Schwierigkeiten fertig zu werden
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Chormitglieder während einer Betriebsbesichtigung im Reichsbahn-Ausbesserungswerk (RAW) in Dresden, ca. 1985
v.l.n.r.: Hanjo Ribbe, Eveline Reichert, Thomas Neumann, Joachim Dütsch, Elena Geneva-Müller, Gerhard Richter, Gisela Kaltofen, Wener Köhler, Dietmar Unger, Günther Schmidt, Ehrenfried Schubert, Wolfgang Rößner, Peter Bachstein, Kollege vom RAW, Horst-Dieter Knorrn
Foto: privat – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Fluch und Segen des sozialistischen Wettbewerbs XIII-05
Ein zentraler Begriff des Arbeitslebens in der DDR war der des sozialistischen Wettbewerbs.
Folglich ist vom Wettbewerb in den hier näher betrachteten Rechenschaftsberichten, wie auch in denen der anderen Jahre, immer wieder zu lesen.
Gelang es, mehr zu produzieren, die Pläne (über) zu erfüllen, die Ressourcen effektiver zu nutzen und die politisch-gesellschaftlichen Vorgaben zu realisieren, winkten Ehrentitel und Prämien.
Im Sender Leipzig stand der Rundfunkchor im Wettbewerb mit den vier andern Klangkörpern: dem Rundfunk-Sinfonieorchester, dem Großen Rundfunkorchester, dem Unterhaltungsorchester und dem Blasorchester.
Wo in Produktionsbetrieben die Arbeit nach Stückzahlen oder Arbeitszeiten quantitativ zu erfassen war, konnten Arbeitskollektive durchaus miteinander verglichen werden.
Doch wie sollte künstlerische Tätigkeit „gemessen“ werden?
Wie sollten Klangkörper mit unterschiedlichen Profilen miteinander konkurrieren?
Den Wettbewerbsgedanken auf die Klangkörper des Leipziger Rundfunks zu übertragen, war also von vornherein fraglich. Doch Wettbewerb musste in der DDR nun einmal sein!
Der Wettbewerb war in drei Bereiche gegliedert: sozialistisch arbeiten, sozialistisch leben, sozialistisch lernen.
In das „sozialistische Leben“ flossen Beziehungen des Chores zur Arbeiterklasse ein sowie gesellschaftliche Tätigkeiten des Kollektivs: Patenschaften, Teilnahme an Einsätzen oder die Ausgestaltung von politischen Feierlichkeiten.
Aber auch die Aktivitäten einzelner Ensemblemitglieder, beispielsweise Tätigkeiten im Volkskunstschaffen, die Mitgliedschaften in Parteien und Massenorganisationen, die Pünktlichkeit der FDGB-Beitragszahlung sowie die Höhe der Solidaritätsbeiträge und -spenden „punkteten“ im Wettbewerb für den Chor.
„Sozialistisch zu lernen“ bedeutete, an den „Schulen der sozialistischen Arbeit“ und sonstigen gesellschaftlichen Bildungszirkeln teilzunehmen.

Eine Kammerchorbesetzung des Leipziger Rundfunkchores singt am 13. Dezember 1972 unter der Leitung von Horst Neumann für den Patenbetrieb MAB Schkeuditz im Kulturhaus Zur Sonne in Schkeuditz
Foto: Kalkbrenner/MAB Schkeuditz – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Der Wettbewerb wurde geplant, zwischenausgewertet und schließlich abgerechnet. Das bedeutete eine recht große Belastung für die GGL/AGL.
So moniert Wünsche, dass der Chor bei der Wettbewerbsauswertung Ende 1969 nur Platz 4 unter den Leipziger Klangkörpern erreichte:
„Wir sind der Meinung, dass bei der Beurteilung der Wettbewerbsergebnisse … die Ergebnisse der künstlerischen Arbeit unterbewertet werden.“

Unterzeichnung des Patenschaftsvertrages zwischen dem Rundfunkchor Leipzig (vertreten durch Rudi Wünsche [links]) und dem Meisterbereich Völkerfreundschaft des MAB Schkeuditz am 25. Februar 1970
© Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Vermutlich war es auch eine Folge des Wettbewerbs, dass der Chor im Februar 1970 einen Patenschaftsvertrag mit dem Meisterbereich Völkerfreundschaft des VEB Maschinen- und Apparatebau Schkeuditz (MAB) abschloss.
So konnte einerseits der Rundfunkchor seine Verbundenheit mit der Arbeiterklasse dokumentieren und dadurch im Wettbewerb Punkte sammeln. Andererseits entstanden für den Meisterbereich Vorteile im „Ökulei“, dem ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleich, denn der Rundfunkchor hatte sich bereiterklärt, der Kulturgruppe zu helfen, ein neues Repertoire einzustudieren. Außerdem wollte man sich gegenseitig die Arbeitsfelder erläutern, die Brigademitglieder zu jährlich einem Konzert des Chores einladen und das Rahmenprogramm des Ökulei durch ein kleines Konzert bereichern.
Mehr noch: Für ein Konzert am 23. April 1971 im Leipziger Haus Auensee komponierten die Chormitglieder Horst-Dieter Knorrn, Heinrich Koch und Johannes Schulz das Werk Und dann marschierten zwei Kolonnen für die Chöre des VEB MAB Schkeuditz. Mitglieder des Rundfunkchores wirkten zur Unterstützung bei der Uraufführung mit. Dirigent der Aufführung war Erich Donnerhack. Es spielte das Große Unterhaltungsorchester Halle.
Zum 25-jährigen Gründungsjubiläum des Chores zeichnete die Patenbrigade das Ensemble sogar mit einem eigens gestifteten und auf 500 Mark dotierten Kunstpreis aus. Allerdings schliefen die freundschaftlichen Beziehungen bald wieder ein.
Im August 1975 wurde ein neuerlicher Versuch für einen Freundschaftsvertrag gestartet, diesmal mit dem Leipziger Betriebsteil des VEB MAB Schkeuditz. Doch auch dieser Vertrag kränkelte und kam nie wirklich in Fahrt.

Die Bassisten Horst-Dieter Knorrn und Günther Schmidt lesen in der RAW-Betriebszeitung „Güter-Wagen-Express“ 1983. Das Interesse an der Betriebszeitung scheint sich dabei wohl in Grenzen zu halten …
Foto: privat – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Thodor Hlouschek: Ein Bergmann singt Lieder
Otto Köppe, Tenor
Dieter Knorrn, Bass (Beide Solisten waren Chormitglieder)
Volksmusikgruppe des Senders Leipzig
Aufnahme: Rundfunk der DDR Sender Leipzig
Horst-Dieter Knorrn berichtet 1986 von einer durchaus lebendigen Freundschaft zu den Angehörigen eines Betriebes: „Ein zufälliges Zusammentreffen (die Direktion der Dresdner Musikfestspiele erteilte dem Raw [Reichsbahn-Ausbesserungswerk] die Auflage, den Rundfunkchor Leipzig zu betreuen) entwickelte sich über 6 Jahre zu echter freundschaftlicher Verbundenheit. Wir bewundern des Enthusiasmus der Raw-Kollegen, die nach oftmals schwerem Arbeitstag unsere anspruchsvollen Konzerte nicht nur in Dresden, sondern auch in Leipzig besuchen, anschließend an Künstlergesprächen … teilnehmen und die nächtliche Rückfahrt nach Dresden nicht scheuen …“. Die zwanglose Begegnung – ohne den Wettbewerbsdruck – war wohl geeigneter, echte freundschaftliche Beziehungen wachsen zu lassen, als die vertraglich geregelten Beziehungen zum VEB MAB Schkeuditz.

Viele Chormitglieder waren auch im Volkskunstschaffen tätig: Hier probt Wolfgang Rössner mit dem Chor des CENTRUM-Warenhauses in der Leipziger Peterstraße
© Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Allerdings hat der sozialistische Wettbewerb in einigen Bereichen das kulturelle Leben auch befruchtet:
Im Frühjahr 1969 schloss der Rundfunkchor einen Vertrag mit dem Kreiskabinett für Kulturarbeit beim Rat des Kreises Leipzig sowie mit der Kreisarbeitsgemeinschaft Chor des Kreises Leipzig ab.
Die Ziele bestanden darin, die Laienchorbewegung durch Qualifizierungsmaßnahmen der Chorleiter zu fördern und Konzerte für Schüler durchzuführen.
Insbesondere in Vorbereitung des Massenchores für das V. Deutsche Turn- und Sportfest arbeiteten Chormitglieder mit Laienchören und deren Leitern zusammen.

Ein Schülerkonzert des Rundfunkchores in der Leipziger Alten Handelsbörse. Die Leitung hatte Gerhard Richter übernommen.
© Foto: Werner Säubert

Die „Leipziger Volkszeitung“ würdigte in iher Ausgabe vom 12. April 1972 das Chorengagement für die Schülerkonzerte
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Nachhaltiger und wichtiger aber wurden über einen Zeitraum von 17 Jahren jedoch die Schülerkonzerte. 1970 berichtet Rudi Wünsche, dass bereits die ersten fünf Konzerte stattfanden.
1986 kann Horst-Dieter Knorrn bereits auf 160 derartige Veranstaltungen zurückblicken, die der Chor in eigener Regie und in Zusammenarbeit mit Leipziger Schulen durchgeführt und organisiert hat.
Die musikalischen Programme wurden von Chormitgliedern in Abstimmung auf den Lehrplan bestimmter Klassenstufen zusammen mit den Musiklehrern erarbeitet, vom Chor in einer Kammerchorbesetzung vor und mit den Schülern gesungen, von Kollegen moderiert, von Kollegen am Klavier begleitet und von Kollegen dirigiert.
Diese Schülerkonzerte fanden einen großen Anklang bei den Kindern und Jugendlichen, wovon noch heute zahlreiche Briefe und Schülerzeichnungen ein Zeugnis abgeben.
Mögen diese Projekte auch nicht so modern wie die heutigen Angebote gewesen sein, haben sie den Schülern dennoch musikalische Erlebnisse vermittelt und dazu beigetragen, sie zu zukünftigen Konzertbesuchern heranwachsen zu lassen.
Kapitelübersicht
← | Kapitel-Startseite |
→ XIII-01 | Der Leipziger Rundfunkchor im Geflecht der gesellschaftlichen Strukturen |
→ XIII-02 |
Die Gremien des Chores: AGL und KöAG |
→ XIII-03 | Rechenschaftsberichte – Die Kunst der subtilen Kritik |
→ XIII-04 | Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen |
• | Fluch und Segen des sozialistischen Wettbewerbs |
→ XIII-06 | Geselligkeit |
→ XIII-07 | Der am schlechtesten bezahlte Rundfunkchor |
→ XIII-08 | Im Nebenberuf GGL/AGL-Mitglied |
→ XIII-09 | Hinter der Bühne: Die unsichtbaren Helfer |
→ XIII-10 | Der Einzelne und die Gemeinschaft |
→ XIII-11 | Staatsnah – und doch Staatsfern |
→ XIII-12 | Die „Drossel“. Gab es „Inoffizielle Mitarbeiter“ im Rundfunkchor? |
→ XIII-13 | Ein staatlicher Chor in kirchlichen Räumen |
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