Rundfunkchor-Alltag in der DDR [XIII]
oder: Die Kunst, mit Schwierigkeiten fertig zu werden
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Räumliche Enge im Chorbus …
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores Album Gleisberg
Der Einzelne und die Gemeinschaft XIII-10
Die bisher aufgezeigten Aufgaben der Chorvertretung waren mehr organisatorischer Art und vorwiegend nach außen gerichtet.
Allerdings haben sich alle Vorsitzenden nicht minder um die inneren Angelegenheiten des Chores gekümmert, also um den Ensemblegeist, den Zusammenhalt und die interne Kommunikation.
Wo 60 bis 70 Sängerinnen und Sänger beinahe täglich auf engstem Raum an ein und demselben Vorhaben arbeiten, wo diese Chormitglieder sehr gut ausgebildet sind und zumeist auch solistische Fähigkeiten haben, wo von diesen unterschiedlichen Individuen naturgemäß ein hohes Maß an Einordnungsfähigkeit verlangt werden muss, wo der Dirigent immer Recht hat (und haben muss!) und wo der Einzelne relativ geringe Möglichkeiten besitzt, das Arbeitsergebnis des Klangkörpers wesentlich und richtungsweisend zu beeinflussen und wo die Arbeitsbedingungen alles andere als gut waren, müssen zwangsläufig Frustrationen entstehen.
Die Vorsitzenden der Chorvertretung haben immer wieder versucht, mäßigend und ausgleichend in das Ensemble hineinzuwirken. Besonders wichtig war dies in Phasen ohne festen Chorleiter, also nach der fristlosen Entlassung Dietrich Knothes oder im Interregnum nach Horst Neumanns Wechsel zum Rundfunkorchester.
Fehlt ein Chef als wesentlicher Ideengeber und Motivator, dann verselbständigen sich zu leicht die individuellen Meinungen und Empfindlichkeiten Einzelner, dann besteht die Gefahr, dass sich ein Ensemble in Gruppen spaltet und die Qualität leidet.
So zitiert Joachim Preiß 1989, im letzten Rechenschaftsbericht zu DDR-Zeiten, aus den Worten seines Vorgängers Knorrn von 1986:
„Es fällt immer der gesamten Gemeinschaft zur Last, wenn auch nur einem die Bereitschaft fehlt, das Notwendige aus Überzeugung zu machen und nicht erst durch erniedrigendes Exerzieren, wenn auch nur einer eine nachlässige innere wie äußere Haltung einnimmt. Der ‚Liegestuhlsitz‘ ist Zeichen von Überheblichkeit und Desinteresse. Hierher gehört auch die Art, wie wir mit unserer kostbaren Zeit umgehen. Die Angst, zu kurz zu kommen, … die Angst vor Zurücksetzung, das Mißtrauen denen gegenüber, die als gewählte gewerkschaftliche Interessenvertreter eigentlich das Vertrauen des Kollektivs besitzen müssten, die Frustration derer, die glauben, alles besser zu wissen aber nicht genügend beachtet werden, all das droht mehr Gewicht zu erlangen als die Angst, das Leistungsniveau des Rundfunkchores könnte Schaden nehmen.“
Und Preiß fügt dem noch hinzu:
„Nicht nur die Art, wie wir mit unserer Zeit umgehen, sondern die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen ist Maßstab für die Qualität unseres Kollektivs … Ich hänge nicht der Illusion nach, daß 70 Chorsängerinnen und Sänger immer einer Meinung sein werden über d i e richtige Methode zu probieren, über d i e richtige Interpretation, über d e n richtigen Dirigenten …
Wozu wir aber kommen müssen ist die Frage des richtigen Umgangs mit den individuellen Ansichten eines jeden, ist das Begreifen, wann wir uns als Chorsänger dem Kollektiv und dem, was von vorn gefordert wird unterzuordnen haben. Wer mit seiner scheinbar einzigen richtigen Meinung dann noch versucht, Stimmung zu machen, schadet dem Kollektiv.“
Knorrn definierte 1986 – allerdings bezogen auf die sängerische Seite – den Dualismus von Individuellem und Allgemeinem folgendermaßen:
„Idealer Chorgesang ist die Summe von vielfacher individueller Leistung, aus der man nichts Individuelles heraushört.“
Seinen letzten Rechenschaftsbericht beendete Horst-Dieter Knorrn 1986 mit den Sätzen:
„Vergessen wir bei aller Arbeit nicht das, was man als ‚kollektives Klima‘ bezeichnet. Denn sonst wird nichts aus unserer Arbeit. Achten wir auf ein gesundes Verhältnis zwischen kollektiven und privaten Interessen. Eigentlich dürften diese beiden Bereiche nichts Gegenteiliges sein: unser persönlichstes Interesse sollte dem Rundfunkchor Leipzig gelten!“
Damit formulierte er eine Erkenntnis der modernen Soziologie, „dass man auf der Ebene des Sozialen ansetzen muss, wenn man Dinge in Bewegung bringen will. Wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, einen Job, ein Geschäft, eine Initiative als etwas Eigenes betrachten zu können, dann setzen sie sich dafür ein, entwickeln es weiter und kultivieren es. Bei fremdbestimmten Aktivitäten erfüllen die Leute eine Aufgabe, nicht mehr, und über die Bezahlung hinaus haben sie wenig davon. Selbstbestimmtes Wirtschaften befördert Achtsamkeit, Sorgfalt und Engagement – und das zu ermöglichen ist allerdings eine Kunst: Menschen etwas Eigenes zu geben.“

… und räumliche Enge auch auf dem Podium
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Wenn sich der Leipziger Rundfunkchor im hier betrachteten Zeitabschnitt zu einem führenden europäischen Chor entwickeln konnte – trotz vieler organisatorischer und materieller Schwierigkeiten, trotz mangelnder Reisemöglichkeiten, trotz zahlreicher dem DDR-System geschuldeter Zwänge und Formalien, trotz einiger Phasen ohne Chorleiter und trotz des jedem Ensemble innewohnenden Gegensatzes von Einzelnem und Gruppe – dann wohl auch deshalb, weil es den Chormitglieder immer wieder gelang, sich mit dem Chor zu identifizieren und ihn als etwas Eigenes zu betrachten. Ohne die zahlreichen Schallplatten-Co-Produktionen, die der Chorvorstand außerhalb des Rundfunks organisierte, ohne die daraus resultierenden internationalen Erfolge und ohne eine Chorvertretung, die den Chormitgliedern immer wieder deutlich machte, dass sie die Interessen des Chores und seiner einzelnen Mitglieder dem Rundfunk gegenüber konsequent vertrat, wären die Sängerinnen und Sänger wohl schwerlich in der Lage gewesen, sich so stark mit dem Ensemble zu identifizieren.

Rechenschaftsbericht der AGL des Rundfunkchores Leipzig über den Zeitraum von Oktober 1986 bis Februar 1989
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
→ WEITER: Staatsnah – und doch Staatsfern
Kapitelübersicht
← | Kapitel-Startseite |
→ XIII-01 | Der Leipziger Rundfunkchor im Geflecht der gesellschaftlichen Strukturen |
→ XIII-02 |
Die Gremien des Chores: AGL und KöAG |
→ XIII-03 | Rechenschaftsberichte – Die Kunst der subtilen Kritik |
→ XIII-04 | Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen |
→ XIII-05 | Fluch und Segen des sozialistischen Wettbewerbs |
→ XIII-06 | Geselligkeit |
→ XIII-07 | Der am schlechtesten bezahlte Rundfunkchor |
→ XIII-08 | Im Nebenberuf GGL/AGL-Mitglied |
→ XIII-09 | Hinter der Bühne: Die unsichtbaren Helfer |
• | Der Einzelne und die Gemeinschaft |
→ XIII-11 | Staatsnah – und doch Staatsfern |
→ XIII-12 | Die „Drossel“. Gab es „Inoffizielle Mitarbeiter“ im Rundfunkchor? |
→ XIII-13 | Ein staatlicher Chor in kirchlichen Räumen |
← |
ZURÜCK ZUR STARTSEITE: DER MDR RUNDFUNKCHOR |
Sorry, the comment form is closed at this time.