Rundfunkchor-Alltag in der DDR [XIII]
oder: Die Kunst, mit Schwierigkeiten fertig zu werden
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Während einer Rundfunkproduktion des Leipziger Rundfunkchores mit Jörg-Peter Weigle in der Leipziger Bethanienkirche im September 1980. Aufgenommen wurden Lieder von Max Reger.
© Foto: Barbara Stroff – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen XIII-04
In den beiden im vorhergehenden Abschnitt behandelten Rechenschaftsberichten werden die schlechten Arbeitsbedingungen gerügt.
Wünsche kritisiert dabei mehr den materiellen, Knorrn mehr den organisatorischen Aspekt:
„Der Probenraum Sportforum weist so schwerwiegende, speziell uns Sänger gesundheitsgefährdende Mängel auf, dass der räumlich unzulängliche Probenraum Nordplatz uns immer noch die besten Arbeitsmöglichkeiten bietet“, heißt es 1970.
Die räumliche Situation für die Klangkörper des Senders Leipzig war von Anbeginn sehr schlecht – und sollte es bis zum Ende des DDR-Rundfunks auch bleiben.
Auf den Interims-Aufnahmeraum der Reichshallen wurde schon hingewiesen.

Der Sendesaal im Funkhaus der leipziger Springerstraße.
Herbert Kegel dirigiert den Leipziger Rundfunkchor.
Foto: MDR Rundfunkgeschichte(n)
Zwar entspannte sich die Raumproblematik mit dem Bau des Saales 1 in der Springerstraße etwas, doch wies dieses Studio erhebliche Mängel auf:
Zunächst gab es Schwierigkeiten mit der Klimatisierung. Immer wieder klagten die Chormitglieder über starke Zugluft.
Nach einer Sanierung des Saales in den 1970er Jahren ließen dann die akustischen Gegebenheiten zu wünschen übrig.
Für Aufnahmen in großer Besetzung wurde zunächst nicht selten die Kongresshalle im Leipziger Zoo genutzt.
Vom Beginn der Spielzeit 1953/54 an ist in der Chronologie des Chores die Bethanienkirche in Leipzig-Schleußig als Aufnahmestudio verzeichnet. Bis in die 1990er Jahre sollte sie der bevorzugte Aufnahmeraum bleiben.
Zu Beginn der 1980er Jahre gab es den Plan, den Saal der ehemaligen Gaststätte „Goldener Löwe“ im Leipziger Stadtteil Möckern als Aufnahmestudio herzurichten. Nach umfangreichen Baumaßnahmen fanden im August 1982 eine Testprobe und Testaufnahmen statt. Allerdings stagnierte das Projekt und konnte bis zum Ende des DDR-Rundfunks nicht mehr verwirklicht werden.
Im Funkhaus in der Springerstraße existierte neben dem Saal 1 noch der Raum 5, auch „Regie 5“ genannt. Vermutlich war dies der erste ständige Probenraum des Chores.
Doch schon zu Beginn der 1950er Jahre mietete der Sender, wohl wegen der Vergrößerung des Chores, den Gemeindesaal der nur wenige hundert Meter vom Funkhaus entfernt liegenden Michaelisgemeinde am Nordplatz an.
Es ist wahrscheinlich, dass sich Korrepetitor und Chormitglied Horst Karl Hessel bei der Michaelisgemeinde dafür eingesetzt hatte, dem Rundfunkchor diese Probenmöglichkeit zu erschließen, schließlich war Hessel ab 1953 auch als Kantor an St. Michaelis tätig.
Eine gewisse Gemütlichkeit, die dieser Probenraum ausstrahlte, konnte die vielen Mängel jedoch nicht vergessen machen.
Für 60 Chormitglieder war der „Nordplatz“ gerade noch ausreichend, doch bei größerer Besetzung mit zahlreichen Aushilfen wurde es mehr als eng.
Nebenräume waren kaum vorhanden, von einer Klimatisierung ganz zu schweigen.
Zumindest die Fenster zum Hof hinaus mussten aus Gründen der Frischluftzuführung sommers wie winters geöffnet sein, sodass die Damen in der ersten Reihe im Winter die Proben oft nur mit Decken über den Beinen aushalten konnten.
Oft drang unerträglicher Straßenlärm nach innen, denn der Nordplatz war recht stark befahren, und direkt vor dem Haus befand sich eine Straßenbahnhaltestelle.
So bemerkt der Chronist des Chortagebuches am 16. September 1977:
„Diese Probe war in ihrer Durchführung stark beeinträchtigt durch nervenbetäubenden Lärm eines Preßlufthammers direkt vor dem Probenraum …“.
Die Produktionsstätten des Leipziger Rundfunkchores
© Fotos: Rüdiger Koch
„Es quietscht und knarrt“
Wie von Rudi Wünsche erwähnt, war auch der Probenraum im Sportforum nicht ideal.
Wenn dieser Raum rechtzeitig und ausreichend geheizt war, was eher selten der Fall gewesen ist, zog es von den großen Fensterflächen erheblich.
In den Chortagebüchern ist oft genug davon die Rede, dass für das Sportforum geplante Proben wegen unzureichender Heizung ausfallen mussten oder vorzeitig beendet wurden.
Um 1960 ist zeitweise in einem Raum in der Reichsstraße geprobt worden.
„Ein Fenster zum Innenhof bildete die einzige Lüftungsmöglichkeit. Wurde es geöffnet, stiegen die Dämpfe der darunterliegenden Leimfabrik zu uns herauf“, erinnert sich Horst-Dieter Knorrn in seinem Rechenschaftsbericht 1984.
Letztlich war von allen Räumen der „Nordplatz“, trotz der geschilderten Mängel, trotz schlechter akustischer Verhältnisse und trotz unzureichender Bestuhlung und Beleuchtung immer noch das kleinere Übel und diente dem Chor bis 1991 als fester Probenraum.
So konstatiert Joachim Preiß noch 1989 in seinem Bericht, „daß wohl fast jeder Laienchor in Leipzig unter besseren Bedingungen probt als wir“.
„Ebenso ungelöst ist nach wie vor die Podestfrage. Es quietscht und knarrt wie eh und je bei den Aufnahmen in der Bethanienkirche, und kein Termin vergeht ohne Zeitverluste und Nervenverzehr“, schreibt der Berichterstatter 1970.
Vom Podest in der Kongresshalle heißt es im 1963er Bericht:
„Wie oft müssen Aufnahmen unterbrochen oder wiederholt werden, nur weil das Podest so unzulänglich ist, daß es bei jeder geringsten Bewegung, ja beim intensiven Atmen knarrt.“
Die Bethanienkirche wies ein anderes Manko auf:
In einem Villenviertel gelegen, kam es nicht selten vor, dass in einem benachbarten Grundstück eine Kreissäge lief, Holz gehackt wurde oder draußen ein Hund bellte. Ehe die Ursache gefunden und abgestellt war, vergingen wertvolle Aufnahmeminuten.
„Schon ein Motorrad, ein Flugzeug, eine Amsel sind in der Lage, eine gut laufende Produktion zu stoppen“, charakterisierte Knorrn 1984 die Arbeitsbedingungen in der Bethanienkirche.
Und dennoch sind in diesem Raum hervorragende Opern-, Oratorien- und A-cappella-Aufnahmen entstanden.
Leipziger Schallplattenaufnahmen fanden zunächst in der Gohliser Versöhnungskirche und später in der Paul-Gerhardt-Kirche am Connewitzer Kreuz statt. Hier herrschten günstigere akustische Bedingungen. Störgeräusche hielten sich wegen der etwas abgeschiedeneren Lage der Kirchen in Grenzen.
Doch zurück zu den Rechenschaftsberichten:
Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen übernimmt Knorrn 1986 kommentarlos eine Passage aus dem alten und neuen Jahresplan des Rundfunks:
„Die PA EM [Produktionsabteilung Ernste Musik] übernimmt seit Jahren in bewundernswürdiger Gleichförmigkeit einen Absatz aus dem alten Jahresplan wörtlich in den neuen: ‚… Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Sänger und Musiker in Leipzig liegen unter dem vertretbaren Niveau …‘.“
Zwei Jahre zuvor äußert er sich über das Verhältnis von Arbeitsleistung und Arbeitsbedingungen:
„Wir müssen uns abgewöhnen, vor der Arbeitsleistung Bedingungen zu stellen.
Der Rundfunk-Chor Leipzig, der jahrzehntelang bedingungslos zuerst einmal hart und schwer qualitätsvoll gearbeitet hat, 1954 wie 1984, der damit die Basis geschaffen hat für seine heutige internationale Geltung, wird diesen seinen hohen Rang sofort einbüßen, wenn er etwas an dieser Haltung ändert.
Ich wiederhole noch einmal: wir geben uns nicht mit unseren jetzigen Arbeitsbedingungen zufrieden. Wir wollen bessere Proben- und Aufnahmeräume, wir wollen auch höhere Gehälter. Aber wir machen davon nicht unsere Leistung abhängig.“
Dafür geht Knorrn 1986 mit verschiedenen Leitungsebenen des Rundfunks sehr scharf in Gericht:
„Negativ beurteilen wir die Berliner Leitungstätigkeit bei Planungsangelegenheiten. Nachträglich werden von uns bereits unterschriebene Pläne verändert und unsere durch Unterschrift erteilte Zustimmung auf das veränderte Dokument übernommen. Das ist ein nicht nur leichtfertiger Umgang mit unserer gewerkschaftlichen Zustimmung.“
Auch die in den Rechenschaftsbericht übernommenen Passagen aus einer Einschätzung der künstlerisch-ökonomischen Arbeitsgruppe (KöAG) lassen kaum ein gutes Haar an der Leitungstätigkeit des Rundfunks. Die Mitglieder der KöAG kritisieren, dass in zwei Jahren nur ein Termin zum Abhören von Produktionen und Konzertmitschnitten stattgefunden hatte, dass über den Konzertplan lediglich informiert wurde, dass Bedenken des Gremiums zu einer Häufung von Konzerten und damit verbundener Überbelastung des Chormitglieder nicht berücksichtigt wurden und dass seitens des Rundfunks keine Möglichkeit eingeräumt wurde, rechtzeitig über die künstlerische Qualität von Kompositionen (Thomas Bürkholz und Peter Herrmann) zu sprechen.
Das Fazit der KöAG lautete: „So stellt sich die Frage, ob ein solches Gremium notwendig ist? Arbeitspläne und Konzertplanvorlagen können auch bei der AGL abgeheftet werden.“
Max-Reger-Lieder-Produktion 1980

Auszug vom Oktober 1980 mit Einträgen zu den Proben der Volkslieder von Max Reger aus dem Tagebuch des Leipziger Rundfunkchores
Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Max Reger: Fünf Lieder (für Chor a cappella)

Während einer Rundfunkproduktion des Leipziger Rundfunkchores mit Jörg-Peter Weigle in der Leipziger Bethanienkirche im September 1980. Aufgenommen wurden Lieder von Max Reger.
© Foto: Barbara Stroff – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Trutze nicht (5)
Liebesqual (3)
Liebchens Bote (5)
Liebesscherz (1)
Das Sternlein (2)
aus: Sechs und acht ausgewählte Volkslieder
Rundfunkchor Leipzig
Dirigent: Jörg-Peter Weigle
Aufnahme: Rundfunkproduktion am 3. September 1980 in der Leipziger Bethanienkirche
Künstl. Aufnahmeleitung: Günter Neubert
Die fünf Volkslieder in Bearbeitungen Max Regers (aus Sechs ausgewählte Volkslieder für gemischten Chor, WoO VI/10 und Acht ausgewählte Volkslieder für gemischten Chor, WoO VI/11) hatte der designierte Chorleiter Jörg-Peter Weigle neben Werken von Brahms schon im März 1980 in einem Leipziger Rathauskonzert dirigiert. Im September und Oktober des selben Jahren wurden sie dann in der Bethanienkirche für den Rundfunk produziert.
Der Aufnahmetermin am 3. September musste unter Verzicht von zwölf (!) Sängerinnen und Sängern stattfinden. Sie waren abgeordent worden, den Berliner Rundfunkchor auf einer Reise zum Flandern-Festival zu verstärken.
Eine Probe vor dem zweiten Aufnahmetermin besuchte Eric Ericson, der mit dem Stockholmer Rundfunkchor am 28. September ein Konzert in Leipzig gegeben hatte. Viele Mitglieder des Leipziger Rundfunkchores hatten dieser Konzert besucht.
Für die Rundfunk-Konzertvorschau der Spielzeit 1980/81 fotografierte Barbara Stroff eine Foto-Serie, die den neuen Chorleiter Jörg-Peter Weigle während des Aufnahmetermins der Reger-Volkslieder mit dem Rundfunkchor in der Bethanienkirche zeigt.
Kapitelübersicht
→ XIII-01 | Der Leipziger Rundfunkchor im Geflecht der gesellschaftlichen Strukturen |
→ XIII-02 | Die Gremien des Chores: AGL und KöAG |
→ XIII-03 | Rechenschaftsberichte – Die Kunst der subtilen Kritik |
• | Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen |
→ XIII-05 | Fluch und Segen des sozialistischen Wettbewerbs |
→ XIII-06 | Geselligkeit |
→ XIII-07 | Der am schlechtesten bezahlte Rundfunkchor |
→ XIII-08 | Im Nebenberuf GGL/AGL-Mitglied |
→ XIII-09 | Hinter der Bühne: Die unsichtbaren Helfer |
→ XIII-10 | Der Einzelne und die Gemeinschaft |
→ XIII-11 | Staatsnah – und doch Staatsfern |
→ XIII-12 | Die „Drossel“. Gab es „Inoffizielle Mitarbeiter“ im Rundfunkchor? |
→ XIII-13 | Ein staatlicher Chor in kirchlichen Räumen |
← |
ZURÜCK ZUR STARTSEITE: DER MDR RUNDFUNKCHOR |
Sorry, the comment form is closed at this time.