
Rundfunk-Alltag in der DDR [XIII]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Der Rundfunkchor Leipzig mit Horst Neumann, vermutlich während eines Konzertes beim 4. Kreissängerfest in Schkeuditz am 15. Juni 1969
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores – Fotograf nicht bekannt
Rechenschaftsberichte – Die Kunst der subtilen Kritik XIII-03
Wer die Rechenschaftsberichte des Rundfunkchores liest, kann sich ein sehr gutes Bild vom Leben der Leipziger Rundfunkchorsänger und den Aufgaben der GGL bzw. AGL machen.
Hier sollen beispielhaft zwei Berichte kommentiert werden: der 12-seitige Rechenschaftsbericht Rudi Wünsches, gehalten am 22. Januar 1970 für den Zeitraum Oktober 1967 bis Dezember 1969 und der 17-seitige Bericht, den Horst-Dieter Knorrn am 25. September 1986 für die Wahlperiode November 1984 bis September 1986 vorgetragen hatte.
Am Ende dieses Berichtes findet sich die Zeitangabe: 36 Minuten, 27 Sekunden!
Es muss bei der Beschäftigung mit den Rechenschaftsberichten immer berücksichtigt werden, dass Vertreter der BGL, der staatlichen Leitung aus Leipzig und Berlin, dass der Chorleiter und der Chefdirigent als Gäste eingeladen waren.
Die Berichterstatter hatten es deshalb nicht einfach und mussten sich auf einem sehr schmalen Grat bewegen. Einerseits hatten sie die geforderte politisch-gesellschaftliche Loyalität zu wahren, andererseits waren sie bestrebt, den Chor möglichst gut zu vertreten, sich also dafür einzusetzen, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen, das Gehaltsniveau oder die Reisetätigkeit des Rundfunkchores verbessert wurden. Rudi Wünsche, Horst-Dieter Knorrn und Joachim Preiß waren Meister dieses Drahtseilaktes.
Der Rechenschaftsbericht der Jahre 1967-1969 [Zum Umblättern]












Quelle: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Während Wünsche in seinem Bericht 1970 sofort auf das künstlerische Wirken des Chores eingeht, beginnt Knorrn 1986 mit einigen Pflichtpassagen über die Bedeutung der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft. Rudi Wünsche listet die wesentlichen Konzerte des Chores auf und stellt dabei fest, dass die zeitgenössische Musik gemäß der Tradition des Leipziger Rundfunkchores während der vergangenen zwei Jahre wieder breiten Raum eingenommen hatte. Er erwähnt die Aussage von Luigi Dallapiccola, noch nie einen so vollkommenen Chor gehört zu haben. Der Komponist hatte in einem Rathauskonzert eigene Werke dirigiert. Wünsche nennt die A-cappella-Musik „den ureigensten Arbeitsbereich des Chores“ und freut sich darüber, dass die Gelegenheiten, a cappella zu singen, zugenommen haben – insbesondere auch bei Rundfunkproduktionen.
Mitte der 1960er Jahre begann der DDR-Rundfunk in Stereo zu produzieren.
Weil 1968 lediglich 50% aller Aufnahmen stereofon aufgenommen wurden, äußert der AGL-Vorsitzende die Befriedigung des Chores darüber, alle Bach-Motetten in Zwei-Kanal-Technik aufnehmen zu dürfen.
Diese Aufnahmeserie begann im Januar 1968 mit der Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“.
Erste Stereoaufnahmen des Leipziger Senders mit dem Rundfunkchor
Johann Sebastian Bach: „Der Geist hift unsrer Schwachheit auf“ Motette
Nr. 1 Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf
Nr. 2 Der aber die Herzen forschet
Nr. 3 Du heilige Brunst, süßer Tod
Rundfunkchor Leipzig
Dirigent: Horst Neumann
Tonmeister: Günter Neubert
Technische Aufnahmeleitung: Manfred Weber
Aufnahme: 8. und 9. Januar 1968 in der Leipziger Bethanienkirche
Einen großen Raum räumt Wünsche in seinen Ausführungen den Schallplattenproduktionen ein. Besondere Erwähnung finden die Co-Produktionen unter Karl Böhm und Wolfgang Sawallisch.
Nicht zuletzt betont Wünsche eine Zunahme der gesellschaftlichen Arbeit des Rundfunkchores und nennt als Beispiel einen Vertrag mit dem Kreiskabinett für Kulturarbeit, in dessen Rahmen der Chor am 15. Juni 1969 auf dem IV. Kreis-Sängerfest in Schkeuditz ein A-cappella-Konzert sang [s. Foto oben auf dieser Seite].
Auch Knorrn würdigt 1986 die Konzerte, Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen des Chores, fügt aber einige Bemerkungen über die mangelnde Achtung des Chorsängerberufes und die damit verbundenen Defizite in der Ausbildung von Chorsängern ein. Der Unterbewertung des Chorsängerberufes stellt er eine Überbewertung der eigenen Leistung und Bedeutung durch einzelne Kollegen gegenüber. Er appelliert an den Kollektivgeist und das Verantwortungsbewusstsein der Chormitglieder, nicht die individuellen Bedürfnisse über die Interessen des Ensembles zu stellen. Den „Liegestuhlsitz“ brandmarkt Knorrn als „Zeichen von Überheblichkeit und Desinteresse“. Der AGL-Vorsitzende hatte anscheinend triftige Gründe, in dieser Richtung auf die Chormitglieder einzuwirken. In Wünsches Bericht von 1970 fehlen vergleichbare Passagen. Allerdings hatte er sich 1963 für mehr gegenseitiges Verständnis, eine bessere Disziplin und gegen Individualismus und Profilierungssucht im Chor ausgesprochen.
Mit dem Sender geht Rudi Wünsche hart ins Gericht:
Schlechte Arbeitsbedingungen im Probenraum Sportforum sowie knarrende Podeste kosten regelmäßig wertvolle Aufnahme- und Probenzeit.
Und trotzdem gelingen der Leipziger Rundfunkchor sehr gute Produktionen!
Auch für Knorrn sind 1986 die Schallplattenaufnahmen ein zentraler Bestandteil der Arbeit. Er nennt Peter Schreier den wichtigsten Gastdirigenten des Chores, sowohl hinsichtlich der Plattenaufnahmen als auch im Rundfunkdienst. Neville Marriner und Colin Davis seien die Lieblingsdirigenten des Chores geworden: „Derzeit steht offensichtlich der englische Charme besonders hoch im Kurs.“
→ WEITER: Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen
Kapitelübersicht
← | Kapitel-Startseite |
→ XIII-01 | Der Leipziger Rundfunkchor im Geflecht der gesellschaftlichen Strukturen |
→ XIII-02 |
Die Gremien des Chores: AGL und KöAG |
• | Rechenschaftsberichte – Die Kunst der subtilen Kritik |
→ XIII-04 | Gute Arbeit ./. Schlechte Arbeitsbedingungen |
→ XIII-05 | Fluch und Segen des sozialistischen Wettbewerbs |
→ XIII-06 | Geselligkeit |
→ XIII-07 | Der am schlechtesten bezahlte Rundfunkchor |
→ XIII-08 | Im Nebenberuf GGL/AGL-Mitglied |
→ XIII-09 | Hinter der Bühne: Die unsichtbaren Helfer |
→ XIII-10 | Der Einzelne und die Gemeinschaft |
→ XIII-11 | Staatsnah – und doch Staatsfern |
→ XIII-12 | Die „Drossel“. Gab es „Inoffizielle Mitarbeiter“ im Rundfunkchor? |
→ XIII-13 | Ein staatlicher Chor in kirchlichen Räumen |
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