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Was zählt mehr?


Die Wurzeln des Leipziger Rundfunkchores
oder
dessen „Reset“ nach dem Zweiten Weltkrieg? 

 

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

80-Jahre-MDR-Rundfunkchor

 

„Was, Sie singen bloß im Chor?“ [XII]

Von allerlei Jahrestagen

Nach der Beschäftigung mit den Jubiläen des 10-, 20-, 25- und 30jährigen Bestehens des Rundfunkchores Leipzig tauchen viele Fragen auf.

Kann etwa die Distanzierung von der NS-Vergangenheit als einziges Argument für den Beginn einer völlig neuen Zeitrechnung für den Leipziger Chor herhalten?
Wie steht es mit dem Orchester des Senders?
War es nicht als Orchester des Reichssenders Leipzig ebenso ein Teil von Goebbels Propagandainstrument wie der Chor?
Warum ist die Geschichte der beiden Klangkörper in der frühen DDR so unterschiedlich betrachtet worden?
Gab es möglicherweise andere, sich aus dem Ansehen eines Chores ergebende Gründe für diese ungleiche Betrachtungsweise?
Und warum ist im Laufe der Zeit die Erinnerung an die Wurzeln des Chores verblasst und schließlich ganz verlorengegangen?

Das sind Fragen über Fragen!
Dabei sind doch die Parallelen in der frühen Entwicklung des Leipziger Rundfunkorchesters und Rundfunkchores nicht zu übersehen, auch wenn der Chor dem Orchester zeitlich immer etwas hinterherhinkte:

 

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Zur Radiosendung vereint: Der Leipziger Rundfunkchor und das Leipziger Sinfonieorchester unter der Leitung ihres Gründers, Alfred Szendrei
Foto: Sammlung Lieberwirth

 

 

          Orchester

             Chor

Gründer war:

Alfred Szendrei

Der Klangkörper ging hervor aus:

dem Leipziger Sinfonieorchester der Orchestergenossenschaft

32 geeigneten Mitgliedern des Gewandhauschores, denen Szendrei das „funkische“ Singen beibrachte

Der Leiter war:

Alfred Szendrei

Beschäftigt war der Klangkörper …

… nicht beim Sender (MIRAG), sondern bei der Orchestergesellschaft

… nicht bei der MIRAG, sondern er arbeitete nebenberuflich

Der Klangkörper nannte sich:

Leipziger Sinfonieorchester

Leipziger Oratorienvereinigung

Der Klangkörper musizierte hauptsächlich zusammen mit:

der Leipziger Oratorienvereinigung

dem Leipziger Sinfonieorchester

Nach der Gleichschaltung war der Name:

Orchester des Reichssenders Leipzig

Kammerchor bzw.( später) Chor des Reichssenders Leipzig

Die Musiker und Sänger wurden fest eingestellt …

… beim Reichssender Leipzig

Im Frühjahr 1941 …

… werden Orchester und Chor zum Reichssender München „abgeordnet“

Ab Frühjahr 1942 …

… musizieren 14 Musiker Im Reichs-Bruckner-Orchester in Linz weiter

… singen 15 Chormitglieder im Reichs-Bruckner-Chor in Leipzig/ Linz

Weiterarbeit nach dem 2. Weltkrieg …

… ab Juli 1945 als genossenschaft-liches Orchester unter verschiedenen Namen

… ab dem 1. Mai 1946 unter Werlé als Kammerchor (Solistenvereinigung) Leipzig auf freiberuflicher Basis

Am 1. August 1946 …

… erfolgt die Übernahme durch den Mitteldeutschen Rundfunk

Ende der 1940er Jahre …

… ist bislang nicht belegt

… gehören dem 27 Mitglieder zählenden Chor 8 Sängerinnen und Sänger aus der Vorkriegszeit an

Das erste nach dem 2. Weltkrieg begangene Jubiläum:

… ist das 25jährige Jubiläum 1949

… ist das 10jährige Jubiläum 1956

 

1926-Chor-und-Orchester-mit-Szendrei

Zwei mal der gleiche Fotostandort mit der Alten Handelsbörse – dem Sendestudio der Mitteldeutschen Rundfunk AG.
Zudem sitzt auf beiden Fotografien der Gründer und Leiter der beiden Ensembles, Alfred Szendrei!, inmitten seiner Damen und Herren!

Der selbe Gründer und Leiter, ähnliche organisatorische Strukturen – über einen längeren Zeitraum keine Festanstellung von beiden Klangkörpern beim Sender! – vergleichbare Ensemble-Namen und ein identisches Schicksal im Zweiten Weltkrieg!
Die Ähnlichkeiten könnten kaum größer sein!

Umso auffallender ist der Unterschied:
Die Geschichte des Orchesters wird nach 1945 lückenlos fortgeschrieben.
Dem Chor aber verordnet man den Beginn einer neuen Zeitrechnung und setzt die Gründung auf das Jahr 1946 fest!

 

Pembauer-Chor-Saenger

Ist die unterschiedliche Betrachtung von Chor und Orchester vielleicht darin zu suchen, dass der Rundfunkchor eben „bloß“ ein Chor ist?
Schon 1935 überschrieb Karl Pembaur, Chordirektor der Sächsischen Staatstheater Dresden, einen Artikel im Fachblatt für Singchor und Tanz mit dem polemischen Titel: „Was, Sie singen bloß im Chor?“
Pembaur kritisiert zwar die Zurücksetzung des professionellen Chorsängers hinter den Solisten, ebenso kritikwürdig ist es jedoch, den Chorsänger im Vergleich zum Orchestermusiker hintan zu setzen!

Im Chor singen kann doch jeder! Dafür muss man doch nicht studieren!
Wir haben auch einen guten Kirchenchor!
So oder ähnlich wurde lange Zeit diskriminierend über den Beruf des Chorsängers geredet. Selbst ältere Mitglieder des heutigen MDR Rundfunkchores Leipzig haben bezüglich ihrer Mitgliedschaft im Leipziger Rundfunkchor nicht selten die Frage gehört: „Und was machen Sie beruflich?“
Bis in die Zeit der DDR hinein war ein Berufschor generell nicht hoch angesehen. Dieses Thema wird bei der Betrachtung der Gehaltsstruktur der DDR-Rundfunkklangkörper später noch einmal zur Sprache kommen.

Auch die Berliner Rundfunk-Klangkörper haben die unterschiedliche Wertschätzung der Geschichte von Orchester und Chor durch die Oberen des DDR-Rundfunks erfahren:
Galt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als 1924 gegründet, billigte man dieses Gründungsdatum dem Großen Rundfunkchor Berlin und der Solistenvereinigung des Deutschlandsenders nicht zu. Wie dem Leipziger Rundfunkchor, wurde auch ihnen eine Gründung erst für die Zeit nach 1945 gestattet.
War also auch der Berliner Rundfunkchor „bloß“ Chor?
Inzwischen sind die Geschichten des Rundfunk Sinfonieorchesters und des Rundfunkchores Berlin wieder „synchronisiert“ worden. Beide begingen im Jahr 2000 ihr 75. Gründungsjubiläum.

Es drängt sich die Vermutung auf, dass dem Leipziger Rundfunkchor zweiundzwanzig Jahre seiner Existenz abgeschnitten wurden, weil es sich eben „bloß“ um einen Chor handelte – weil beruflicher Chorgesang im Vergleich zu einer Anstellung in einem Orchester lange Zeit als minderwertig galt.
Nur: Sollte diese gesellschaftliche Missachtung im 21. Jahrhundert nicht überholt sein?

Zwischen den einzelnen Phasen in der Entwicklung des Leipziger Rundfunkchores gab es immer auch Übergänge im Personal.
Selbst in den 1950er Jahren sang mit Dr. Helmut Weise ein Bassist aus Szendreis Leipziger Oratorienvereinigung wieder unter Herbert Kegel im Rundfunkchor Leipzig.
Im neu gegründeten Rundfunkchor gab es acht Mitglieder, die auch schon vor dem Krieg dabei waren.
In Berlin ist es mit August Richter nur ein Sänger gewesen.
Kontinuierlich war die Entwicklung des Leipziger Rundfunk-Chorwesen sowohl in funktionaler als auch in personaler Hinsicht.

Und die Frage der unterschiedlichen Namen?
Sie beantwortet sich mit dem Blick auf das Orchester von selbst:
Trotz der Metamorphosen vom Leipziger Sinfonieorchester über das Orchester des Reichssenders Leipzig, das Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig und in jüngerer Vergangenheit hin zum MDR Sinfonieorchester, ist es doch stets das selbe Orchester geblieben.
Warum sollte das ausgerechnet beim Chor anders sein?

1957-10-Konzertprogramm-Schweden-for-webDabei war doch die Erinnerung an die Vorkriegs-Existenz des Rundfunkchores in den Jahren nach 1945 noch eine gewisse Zeit lang wach. Selbst noch auf dem Programmzettel eines Konzertes 1957 in Göteborg wird darauf hingewiesen, dass in Leipzig schon vor dem Krieg ein Rundfunkchor existierte, der in den Kriegswirren jedoch auseinanderfiel.

Hingegen hieß es in der offiziellen Reisebroschüre des Senders:
„Als wir 1946 in der Bachstadt Leipzig das Licht der Welt erblickten, standen wir klein und unbeachtet im Schatten des Thomanerchores. Unsere Aufgaben waren unbedeutend wie unsere Stellung. Aber wir wuchsen, und mit uns wuchsen unsere Aufgaben, und mit ihnen reifte die Erkenntnis heran, daß ein Rundfunkchor notwendigerweise ein Kind der modernen Zeit sein müsse. Wir besannen uns, daß ein anderer großer Sohn unserer Heimatstadt, Richard Wagner, den Ausspruch getan hatte: ‚Kinder, schafft Neues!‘ Und da hatten wir unser Ziel gefunden: Wir wollten an uns arbeiten, um fähig zu sein, diesem Neuen zur Anerkennung zu verhelfen, das gleich uns im Schatten der Großen der Jahrhunderte wächst.“
Man beachte die Formulierung, wir „ … waren unbedeutend wie unsere Stellung“ – eben „bloß“ ein Chor.

Im Leipziger Rundfunk war es Konzertdramaturg Fritz Hennenberg, der immer wieder an die Vorkriegsexistenz des Chores erinnerte, zum Beispiel in der Festbroschüre zum 20jährigen Chorjubiläum oder in seinem Buch Musikgeschichte der Stadt Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert.
In dem kleineren, erweiterten Programmheft zum 25jährigen Chorjubiläum fehlt der Bezug zu den Wurzeln des Ensembles schon ganz. Eine Ausnahme bildet noch Fred Mailge, Musiker im Leipziger Sinfonieorchester bzw. Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig und vor dem Zweiten Weltkrieg Orchestervorstand. Er erwähnt in seinem Beitrag Von den Anfängen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig im Jahrbuch zur Geschichte der Stadt Leipzig 1980 den Chor:
„Für die Aufführung von Vokalwerken, Opern, Opernausschnitten, Kantaten und Oratorien stand schon bald ein Rundfunkchor zur Verfügung.“

Jedoch verschwand das Wissen um die Wurzeln des Leipziger Rundfunkchores ab etwa 1970 aus dem Bewusstsein einer breiteren musikalischen Öffentlichkeit. Dazu beigetragen haben auch die politische Doktrin von der Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung und Kultur sowie im Dezember 1965 das 11. Plenum des ZK der SED. Diese auch „Kahlschlagsplenum“ genannte Tagung versuchte, die Kultur „auf Linie“ zu bringen und erzeugte in allen Bereichen der Kultur ein Gefühl der Verunsicherung.

Der Geschichte etwas vorauseilend sei verraten, dass der DDR-Rundfunk 1986 das 40jährige Chorjubiläum feierte und der Mitteldeutsche Rundfunk diese Tradition mit dem Fünfzigjährigen 1996 fortsetze – alles in der Folge des angepassten, in den Zeiten der DDR auf den 1. Mai 1946 festgelegten Gründungstages.

Erst wieder zu Beginn des 21. Jahrhunderts begann sich der über die frühe Leipziger Rundfunk-Chorgeschichte gelegte Schleier etwas zu heben:
TRIANGEL, die Programmzeitschrift von MDR KULTUR (später MDR FIGARO), brachte einen Artikel über die Vorkriegsgeschichte des Chores, MDR KULTUR produzierte ein Musikfeature.
Der Chor selbst beging den 80. Gründungstag mit einem Chorball.
Sogar die Hauptabteilung Musik ließ einen Aufkleber herstellen, zu dem sich die Chormitglieder und ihr Chef zu einer Achtzig formiert hatten.
Das Label Berlin Classics druckte im Booklet ihrer Edition des gesamten A-Cappella-Werks von Brahms eine Chorbiografie ab, die vom Jahr 1924 als Geburtsstunde des Rundfunkchores ausging.
Wieder nahm die Presse Notiz. Auch zehn Jahre später, zum 90., ist es wenigstens die Leipziger Volkszeitung – welche Parallele zum verpassten 30jährigen Jubiläum! – die die Erinnerung wach hält.

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Und heute?
Jetzt ist wieder in unseren aktuellen MDR Chorbiografien von der (erst) 70jährigen Geschichte des Leipziger Rundfunkchores zu lesen! …

In den kommenden Jahren wird es wieder ein Jubiläum beim MDR Rundfunkchor zu feiern geben.
Die spannendste Frage dieses Kapitels dürfte sein: Ob es am 1. Mai 2024 nur ein 75. Jahrestag oder am 14. Dezember 2024 ein 100. Geburtstag sein wird?

 

Orlando di Lasso (ca. 1532-1594): Valle profonda

 

Textdichter: Petrarca
Rundfunk-Chor Leipzig
Dirigent: Dietrich Knothe
Künstlerische Aufnahmeleitung: Erich Götze
Technische Aufnahmeleitung: Schurich
Aufnahme: 19. April 1962 im Leipziger Funkhaus in der Springerstraße, Sendesaal
Auf den Programmzetteln der Konzerte anlässlich der oben erwähnten Skandinavien-Reise des Leipziger Rundfunkchores stand auch Musik von Orlando di Lasso. 1962 nahm Dietrich Knothe noch einmal auf den italienischen Renaissance-Meister bezug und nahm mit Valle profonda ein hierzuland nahezu unbekanntes weiteres „Echo-Lied“ auf …

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