Die „angepassten“ Chor-Jubiläen [XI]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
Geklaute Chorsängernerven in Kegels Wohnzimmerschrank!
Der Bassist Horst-Dieter Knorrn war nicht nur ein begabter Sänger, sondern auch ein begnadeter Redner. In Zwischentönen nicht Sagbares oder nicht Tragbares dennoch auszudrücken zu können, war seine besondere Stärke.
Der Schalk in seinen Augen und die Nuancen seiner Stimme halfen nicht selten, kritische Situationen gefahrlos zu umschiffen.
Als Knorrn später, von 1974 bis 1986, den Vorsitz des Chorvorstands innehatte, konnte er seine Formulierungskunst häufig zum Wohl des Rundfunkchores einsetzen.
Eigentlich müsste man die hier wiedergegebene Rede aus Dieter Knorrns Munde hören – und im Hintergrund das Gelächter der wohl nicht mehr ganz nüchternen Chormitglieder. So wäre der heutige Leser im Abstand von 50 Jahren zumindest in der Lage, die knorrnschen Anspielungen zu erahnen, ohne sie freilich verstehen zu können.
Es war am Tag nach dem Jubiläumskonzert zum 20. Jahrestag der Chorneugründung, als Knorrn seine Worte in einer abendlichen Chorfeier vortrug.
Erhalten hat sich sein Redemanuskript als Ormig-Vervielfältigung, dem billigen, DDR-typischen Hektographieverfahren sehr schlechter Qualität.
„Gedanken eines ernstzunehmenden Chorsängers“
Die satirische Festrede des Bassisten Horst-Dieter Knorrn zum 20jährigen Bestehen des Leipziger Rundfunkchores 1967.
Knorrn sang von 1955 bis 2000 als Bassist im Leipziger Rundfunkchor und erinnert sich gern an seine Jahre in dem weltberühmten Chor.
Eine Aufzeichnung im Studio von MDR KLASSIK im März 2017
Produktion: Dr. Steffen Lieberwirth
Schon in der Begrüßung nimmt Knorrn die auch in der DDR grassierende Titelsucht aufs Korn:
Wer Generaldirektor, Verdienter Sportler des Volkes, Held der Arbeit oder, wie bei Chefdirigent Herbert Kegel, Generalmusikdirektor und eben auch Nationalpreisträger war, wurde natürlich offiziell mit diesen Titeln angeredet.
Der „gute Wünsche“, auf den er anspielt, brauchte solche Titel allerdings nicht. Gemeint ist der Chorvorstands-Vorsitzende Rudi Wünsche, der beim Maestro auch schon mal eine notwendige Pause anmahnte.
„Nur gute Worte“ fand das Ministerium für Kultur nach dem Abschluss der Gehaltsregelung.
Man stufte den Chor zwar als Spitzenensemble ein. Auf eine Gehaltssteigerung mussten die Chormitglieder jedoch noch lange warten. Es waren eben „nur gute Worte“, mehr nicht.
Die zwei- bis dreiwöchige Probenzeit für das Repertoire des Jubiläumskonzerts – der Chor hatte die Werke schon oft gesungen – schien recht üppig bemessen gewesen zu sein.
Dennoch reichte Kegel die Zeit nicht aus. Er drohte sogar damit, das Konzert abzusagen. An der Brahmsschen Waldesnacht probte der Chef eine ganze Probenstunde lang!

“Ein bißchen Spaß in der Probenpause frischt Geist und Nerven nach der anstrengenden Arbeit auf”.
Die Chordamen sind (v.l.n.r.) Waltraude Philipp, Roswitha Trexler, Ursula Engemann, Renate Sieber, Eveline Reichert und (u.l.) Hellga Morgenstern
Foto aus der „FF dabei“, 1967
Verständlich, dass die Zeit knapp wurde und die Nerven auch der Chormitglieder blank lagen.
Kegel ließ einzeln singen, verstärkte so den Druck und warf sogar die Altistin Ursula Thate-Schlegel aus dem Probensaal.
Nach einer geraumen Zeit schien er sie zu vermissen, fragte, wo sie denn sei und meinte schließlich: „Soll wieder reinkommen!“
Knorrn hatte wohl recht. Kegel muss „zu Hause einen ganzen Schrank voller Nerven, lauter Chorsängernerven“ gehabt haben, die er dem Chor „in den letzten 14 Tagen geklaut“ hatte!
Johannes Brahms: „Waldesnacht“ 1967
Textdichter: Paul Heyse (1830-1831)
Rundfunkchor Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Künstlerische Aufnahmeleitung: Schönberg
Technische Aufnahmeleitung: Helga Taschke,
Aufnahmedatum: Livemitschnitt vom Festkonzert „20 Jahre Leipziger Rundfunkchor am 18. Januar 1967

Kalenderblätter von Horst-Dieter Knorrn mit den Einrägen zum Festkonzert und den Chor-Feierlichkeiten im “Walter-Albrecht-Haus”, dem Kulturhaus des Kulturbundes in der Elsterstraße
Dokument: Horst-Dieter Knorrn
Auch auf das leidige Thema der Reisen kam Horst-Dieter Knorrn zu sprechen und spielte wohl darauf an, dass der Berliner Rundfunkchor unter seinem Chef Helmut Koch (dieser hatte eine nicht zu kleine Nase!) in Berlin an der Quelle saß und den Leipzigern viele Reisen wegschnappte.
Nicht zu verwechseln ist Helmut Koch mit Heinrich Koch, einem Bassisten des Rundfunkchores aus Halle an der Saale. Dieser Koch komponierte auch. Einige Werke Heinrich Kochs hat der Leipziger Rundfunkchor aufgenommen.
Mit der Bezeichnung „Chor der Komparative“ meint Knorrn viele auf „-er“ endende Kollegennamen: Müller, Sieber, Feller, Altenberger, Richter, Rößner, Trexler und Oeser. Warum vergaß er Zenner? Vielleicht, weil der erst seit einem halben Jahr dem Chor angehörte.
Nachdem die Verbindung des Rundfunkchores zu Dietrich Knothe „gerissen war“, sang das Ensemble unter den Dirigenten Oeser, Rößner, Johannes Schulz, Heinrich Bergzog, Gerhard Richter („Hartel“) und Fritz Höft. Einige von ihnen hatten sich um die Nachfolge Knothes beworben.
Zum Beschluss nimmt Knorrn Bezug auf ehemalige Kollegen, die den Chor zum Teil in Richtung Westen verlassen hatten.
Hat der weise Redner mit seinen „Wünschen für die nächsten 20, 30, 100 Jahre“ möglicherweise einen 100. Chorgeburtstag vorausgeahnt?
Bald könnte der gefeiert werden. Es wäre zu wünschen, 2024 wieder eine humorige Rede hören zu können – vom dann 89 Jahre alten Horst-Dieter Knorrn!
→ | Das 20-jährige Chorjubiläum 1967 |
← | ZURÜCK ZUR REGISTERSEITE: „Die ‚angepassten‘ Chorjubiläen“ |
Sorry, the comment form is closed at this time.