Die Ära Horst Neumann [X]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Horst Neumann probt dem Leipziger Rundfunkchor im Großen Sendesaal in der Leipziger Springerstraße
Das Foto entstand am 13. November 1966. Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Weltliteratur der Chorsinfonik [X-4]
Neben so herausragenden Konzertereignissen, wie den Aufführungen von Henzes Floß der Medusa, der 8. Sinfonie von Gustav Mahler oder Wagners Pasifal, gab es natürlich viele gute Aufführungen, die nicht weniger erwähnenswert sind:
Immer wieder – und in der Regel am Vorabend des 1. Mai – wurde, in Verbindung mit einem Werk des 20. Jahrhunderts, Beethovens 9. Sinfonie geboten. Dessen Missa solemnis findet sich ebenso auf den Konzertplänen wie die großen geistlichen Werke von Dvořák, Brahms, Verdi, Mozart, Schubert, Kodály, Janáček, Bruckner, Bach und Berlioz oder die weltlichen Oratorien von Kegels Lehrer Boris Blacher (Der Großinquisitor) und Bartók (Cantata profana).
An Opern führte Kegel die Margarete von Gounod, Mozarts Zauberflöte, Mussorgskis Boris Godunow, Das Kind und der Zauberspuk von Ravel, Prokofjews Verlobung im Kloster oder Die Bürger von Calais und Johanna Balk von Rudolf Wagner-Régeny auf.
Nicht wenige dieser Werke wurden entweder für die Schallplatte produziert, vom VEB Deutsche Schallplatten übernommen oder später auf CD veröffentlicht.
Ravels Suite Daphnis und Chloé, Haydns Jahreszeiten oder die Quattro pezzi sacri von Verdi sind Beispiele dafür:
Maurice Ravel: Daphnis und Chloé 2. Suite 1965
Daphnis und Chloé Finale
Rundfunkchor Leipzig
Choreinstudierung: Horst Neumann
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme: 20. September 1965 in der Leipziger Kongresshalle
Musikregie: Eckart Schönberg.
Techn. Aufnahmeleitung: Dieter Müller
Rundfunk der DDR
Joseph Haydn: Die Jahreszeiten 1971
Ha, das Ungewitter naht
Weinchor
Solisten:
Adele Stolte, Sopran
Peter Schreier, Tenor
Theo Adam, Bass
Rundfunkchor Leipzig
Choreinstudierung: Horst Neumann
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme: April 1971 in der Leipziger Kongresshalle
Rundfunk der DDR
Erschienen bei ETERNA 1972
Die Quattro pezzi sacri und eine Begebenheit am Rande
Im Leben wohl eines jeden Chores gibt es Begebenheiten, die nie an die Öffentlichkeit gelangen: Keine Tonkonserve hält sie fest, auf keinem Bild sind sie verewigt, kein Kritiker wird über sie schreiben. Warum auch?
Diese Ereignisse haben kaum Einfluss auf das Ergebnis der Arbeit. Dennoch existieren sie!
Die Chormitglieder vergessen das Vorgefallene, wenn es nicht zum Ruhm des Ensembles gereichte.
Verleitet es jedoch zu einem Schmunzeln, wird es im Gedächtnis aufbewahrt und immer wieder einmal erzählt. Die folgende Episode hat Arnd Germer, seit August 1967 Bassist im Rundfunkchor Leipzig, ab und an gern und amüsiert zum Besten gegeben. Sie soll hier ihren Platz finden, wirft sie doch ein bezeichnendes Licht auf das cholerische Temperament des Chefdirigenten Herbert Kegel.
Als eine der ersten Rundfunkaufnahmen nach dem Eintritt des Bassisten in den Chor standen am 6. und 7. Dezember 1967 Verdis Quattro pezzi sacri auf dem Aufnahmeplan.
Produziert wurde in der Leipziger Bethanienkirche unter der Leitung Herbert Kegels.
Die Aufnahme der Nummer 1, eines a cappella gesungenen Ave Maria über eine Scala enigmata, eine rätselhafte Tonfolge, schleppte sich dahin. Immer wieder wurde abgebrochen und korrigiert, ohne dass sich das Ergebnis wesentlich verbesserte. Doch schließlich platze der Knoten und alle Beteiligten spürten: Jetzt stimmt die Intonation, die Aufnahme wird bald „im Kasten“ sein.
Da, kurz vor dem Ende dieses hoffnungsvollen Schnitts, öffnete sich die Kirchentür. Chorwart Edgar Mandel hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass gerade das rote Licht leuchtete und betrat den Innenraum der Kirche. Die Chordamen auf der rechten Seite gaben ihm durch Handzeichen zu verstehen, er möge still sein und sich wieder entfernen. Doch da fiel ihm mit lautem Krachen die schwere Tür aus den Händen. Kegel musste abbrechen und wurde schier wahnsinnig. „Du Verbrecher!“ war die harmloseste der Beschimpfungen, die über dem kleinen Mann herniedergingen. In seiner Wut verließ Kegel das Dirigentenpult und rannte auf Mandel zu. Der flüchtete um die in der Kirchenmitte zusammengeschobenen Bänke herum – Kegel hinterher, mit weiteren Beschimpfungen auf den Lippen. Nach einigen „Runden“ beruhigte sich der Dirigent. Der Ruhestörer konnte aus der Kirche flüchten. Die Chormitglieder auf dem Podest amüsierten sich ob dieser skurrilen Szene. Der Chorwart soll vergeblich versucht haben, vom Tonmeister draußen im Ü-Wagen das Band zu bekommen. Er hoffte wohl, dass die Kegelsche Schimpfkanonade darauf festgehalten worden war und er sie gerichtlich gegen ihn verwenden könne.
Wer heute die Aufnahme des Ave Maria hört, mag sich an der gelungenen Aufnahme freuen.
Mit dem Hintergrundwissen dieser Begebenheit am Rande ist vielleicht doch die Belustigung der damaligen Chormitglieder zu spüren und lässt noch heute auf den Gesichtern der Hörenden ein Schmunzeln entstehen.
Giuseppe Verdi: Ave Maria 1967
Ave Maria aus Quattro pezzi sacri
Rundfunkchor Leipzig
Choreinstudierung: Horst Neumann
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme: 6. und 7. Dezember 1967 in der Leipziger Bethanienkirche
Tonregie: Eckart Schönberg
Produktion: Rundfunk der DDR
Erschienen bei VEB Deutsche Schallplatten/ETERNA 1968
→ WEITER: Aufnahmen für den Rundfunk und die Schallplatte
Kapitelübersicht
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→ X-01 | Horst Neumann: jung, exakt, lernbegierig |
→ X-02 | Frischer Wind im Sender Leipzig |
→ X-03 | Sternstunden mit Mahler, Henze und Wagner |
• X-04 | Weltliteratur der Chorsinfonik |
→ X-05 | Der „Dessau-Chor“ |
→ X-06 | Aufnahmen für den Rundfunk und die Schallplatte |
→ X-07 | Neue Möglichkeiten für Horst Neumann |
→ X-08 | Endlich wieder auf Reisen: Paris, ČSSR, Wrocław, Italien |
→ X-09 | So nah – so fern: in Westberlin und Bulgarien |
→ X-10 | Der Rundfunkchor Leipzig – Ein gefragter Partner |
→ X-11 | Ära Neumann: Bilanz positiv |
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