Die Ära Horst Neumann [X]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch

Dr. Fritz Hennenberg, Horst Neumann, Hans Werner Henze und Witiko Adler von der Konzertagentur Adler (v.l.n.r.) 1966 während der Probenphase zu Henzes „Laudes“
© Foto: Evelyn Richter – Sammlung Rüdiger Koch
Sternstunden mit Mahler, Henze und Wagner [X-3]
Die Aufführung zweier monumentaler Werke der Konzertliteratur innerhalb von zwei Monaten mag dafür stehen, wie leistungsfähig der Rundfunkchor Leipzig in der Ära Horst Neumann gewesen ist.
Am 27. November 1973 stand erstmals seit beinahe 25 Jahren eine Leipziger Aufführung der 8. Sinfonie (Sinfonie der Tausend) von Gustav Mahler auf dem Konzertplan.
Am 22. Januar 1974 folgte Hans-Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa. Die Mahler-Sinfonie war vom Leipziger Rundfunkchor weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg gesungen worden, musste also völlig neu einstudiert werden. Weil das Werk mehrere Chöre verlangt, waren auch die Berliner Rundfunkchöre zur Mitwirkung herangezogen worden.
Aus organisatorischen Gründen fuhr man an einem Probentag mit drei Bussen nach Berlin, um dort mit den Berliner Chören eine Klavierprobe abzuhalten.
Die Proben für das Henze-Oratorium hatten sogar schon drei Tage vor dem Probenprozess für die 8. Sinfonie von Mahler begonnen. Das Mahler-Konzert wurde ein grandioser Erfolg. In der Leipziger Presse erschienen drei begeisterte Rezensionen.
Eine im Chortagebuch zitierte Zeitung dankte dem Rundfunk:
„Wer anders als er könnte auch ein so ausgewogenes und sachkundiges Solistenensemble zusammenbringen … wer anders als er verfügt über solche hervorragenden Ensembles wie die vereinigten Leipziger und Berliner Rundfunk-Chöre und das Rundfunk-Sinfonieorchester. Herbert Kegel bewies wieder einmal seine Fähigkeit, einen so großen Apparat sicher zu führen, zu Höchstleistungen anzuspornen.“
Gustav Mahler: Aus der Sinfonie Nr. 8
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis
Chorus mysticus “Alles vergängliche ist nur ein Gleichnis”
Celestina Casapietra, Sopran
Elisabeth Breul, Sopran
Annelies Burmeister, Alt
Gisela Pohl, Alt
Reiner Goldberg, Tenor
Siegfried Lorenz, Bariton
Hermann Christian Polster, Bass
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor Leipzig
Rundfunkchor Berlin
Rundfunk-Solistenvereinigung Berlin
Kapellknabenchor Dresden
Kinderchor der Philharmonie Dresden
Choreinstudierung: Horst Neumann
Dirigent: Herbert Kegel
Aufnahme des Rundfunks der DDR
Hans Werner Henze: „Das Floß der Medusa“

Im Chortagebuch ist das Konzert der 8. Sinfonie Gustav Mahlers unter Verwendung des Programmheftes dokumentiert
Nicht unproblematisch war die geplante Aufführung des Floß der Medusa. Schon im turbulenten Jahr 1968 war die geplante Uraufführung des Werkes in Hamburg aus politischen Gründen gescheitert. Nach der Ermordung Ché Guevaras verstanden Henze und sein Librettist Ernst Schnabel das Oratorium als eine „Trauer-Allegorie auf für Ché Guevara“.
„Auch in der DDR sollte Henzes Werk eigentlich nie erklingen, denn Che Guevara war unbequem, und Henzes Modernismus auch. Außerdem zählte er in den Augen der Kultursicherheit zu den ‚Musik-Mafia‘ um Paul Dessau, mit dem er befreundet war. Herbert Kegel setzte die Aufführung als Chefdirigent des Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchesters durch und trat aus dem Komponistenverband der DDR aus, als dieser ihn unter Druck setzte, um die Aufführung zu verhindern.“ [Aus: Henze „Reislieder mit Böhmischen Quinten“ 1996]
Das Floß der Medusa war ein sehr anspruchsvolles Werk, das einen äußerst hohen Probenaufwand erforderte. Der Chor musste der Partitur entsprechend in viele kleine Gruppen unterteilt werden. Horst Neumann und Jochen Wehner probten zum Teil parallel.
Der Kulturjournalist Rolf Richter erzählte, dass im Funkhaus in der Springerstraße in den Wochen vor der Aufführung aus allen Ecken die extremen Henze-Klänge zu hören waren. Auf die Frage, ob die Einstudierung des Werkes mit besonderen Anforderungen verbunden sei, antwortete Kegel der Leipziger Volkszeitung: „Ja, besonders für den Chor. Unser Chor hat tatsächlich schon schwierige Werke gesungen, wurde aber hier mit bisher einmaligen technischen und stilistischen Aufgaben konfrontiert. Dazu gehören besonders die Töne im oberen und unteren Grenzbereich sowie große Sprünge.“ Auch diese Aufführung behandelt die Leipziger Presse sehr wohlwollend, ohne auf die Vorbehalte der DDR-Kulturfunktionäre einzugehen.
„Es verdient höchste Anerkennung, wie Herbert Kegel es [das Werk] sich in unermüdlicher Arbeit zu eigen gemacht hat, und zu welchen großen Leistungen er das Orchester und den … Chor führte. Bei diesem wird von den Sängerinnen und Sängern ein Höchstmaß an gesanglichem und musikalischem Können verlangt. Der Rundfunkchor Leipzig gab hier einen neuen überzeugenden Beweis seiner überragenden Leistungsfähigkeit.“ Zwischen den genannten Aufführungen nahm der Chor, zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter Kegel, kleinere geistliche Werke von Mozart auf, trat im Dresdener Kulturpalast in der Fernsehsendung Die goldene Note auf und produzierte, allerdings in einer kleineren Besetzung, Rainer Kunads Oper Maître Pathelin für den Rundfunk.
Für die meisten der hier genannten Produktionen hatte Horst Neumann den Chor vorbereitet. Es war für ihn gleichermaßen Glück und Chance, gerade während einer Zeit Leiter des Rundfunkchores zu sein, in der Herbert Kegel mit seinen Klangkörpern zahlreiche musikalische Höhepunkte gestaltete. Ebenso war es ideal für den Chor, dass Neumann bereitwillig von Kegel lernte und dessen Intentionen auf seine Sängerschar übertrug. Ohne die neue, aus Kegel und Neumann bestehende Doppelspitze, hätte der Leipziger Rundfunkchor die vielen anspruchsvollen Aufgaben nicht in so hoher Qualität bewältigen können.
Horst Neumann in einem Interview zur zeitgenössischen Chormusik
Aufnahme: Rundfunk der DDR 1979
Alle Einstudierungen Neumanns für Konzerte unter Herbert Kegels Leitung zu nennen, käme einer langen und somit langweiligen Aufzählung gleich. Dennoch seien mit der legendären Parsifal-Produktion von 1975, die auch auf Schallplatte und später auf CD veröffentlicht wurde, und dem 1973 konzertant aufgeführten Wozzek zwei weitere herausragende Aufführungen genannt.
Herbert Kegel war der Erste, der Wagners Bühnenweihfestspiel in der DDR aufführte. Mit René Kollo als Parsifal, Gisela Schröter als Kundry, Theo Adam als Amfortas und anderen internationalen Solisten war ein hochkarätiges Ensemble engagiert worden. Am Schluss wurden alle Mitwirkenden, darunter natürlich auch die Herren des Leipziger Rundfunkchores, mit mehr als 30minütigen Applaus gefeiert. Kegel erhob die Partitur, wandte sich zum Publikum und lenkte den Applaus somit auf das Werk.

Während des mehr als halbstündigen Schlussbeifalls nach der Parsifal-Aufführung (v.l.n.r.):
René Kollo (Parsifal), Gisela Schröter (Kundry), Ulric Cold (Gurnemanz), Theo Adam (Amfortas) und Reid Bunger (Klingsor)
© Foto: Barbara Stroff – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Richard Wagner: Ausschnitte aus „Parsifal“ 1975

Ulric Cold (Gurnemanz) und Herbert Kegel
© Foto: Barbara Stroff – Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Ausschnitt aus dem 1. Aufzug:
“Nun achte wohl” · ”Zum letzten Liebesmahle” · ”Den sündigen Welten” · ”Der Glaube lebt”
Szene Gurnemanz, Gralsritter, Stimme der Jünglinge und Knabenstimmen
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Ulric Cold (Gurnemanz)
Rundfunkchor Leipzig (Einstudierung: Horst Neumann)
Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Wolf-Dieter Hauschild)
Thomanerchor Leipzig (Einstudierung: Hans-Joachim Rotzsch)
Dirigent: Herbert Kegel
Mitschnitt des Rundfunks der DDR
Ausschnitt aus dem 3. Aufzug: “Geleiten wir im bergenden Schrein”, Einzug der Gralsritter aus dem 3. Aufzug
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor Leipzig (Einstudierung: Horst Neumann)
Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Wolf-Dieter Hauschild
Dirigent: Herbert Kegel
Mitschnitt des Rundfunks der DDR
Kegels „Parsifal“-Rundfunkaufführung im Spiegel der Kritik
Während in der Leipziger Presse vier begeisterte Kritiken erschienen – darin wurden nur Superlative verwendet – erwähnte das SED-Zentralorgan Neues Deutschland die Aufführung mit keinem Wort. Der „Parsifal“-Stoff schien selbst im Jahr 1975 den Partei-Oberen noch immer sehr suspekt.
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• X-03 | Sternstunden mit Mahler, Henze und Wagner |
→ X-04 | Weltliteratur der Chorsinfonik |
→ X-05 | Der „Dessau-Chor“ |
→ X-06 | Aufnahmen für den Rundfunk und die Schallplatte |
→ X-07 | Neue Möglichkeiten für Horst Neumann |
→ X-08 | Endlich wieder auf Reisen: Paris, ČSSR, Wrocław, Italien |
→ X-09 | So nah – so fern: in Westberlin und Bulgarien |
→ X-10 | Der Rundfunkchor Leipzig – Ein gefragter Partner |
→ X-11 | Ära Neumann: Bilanz positiv |
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