
Scandinavien: Internationale Musikszene [VII-07]
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
„Der Chor der Chöre“
Die wenige Tage nach den Konzerten in der ČSSR beginnende Reise nach Skandinavien schien unter keinem günstigen Stern zu stehen.
Schon vor der Abreise in die Tschechoslowakei hatte in Leipzig eine Grippewelle grassiert und fand nun in den Chormitgliedern, die in Hradec Králové in einem unwirtlichen und kalten Gastraum kaum zum Schlafen gekommen waren, weitere Opfer.
Vier Tage später sollte in die skandinavischen Länder aufgebrochen werden. Würde man bei einem so hohen Krankenstand diese Tournee überhaupt antreten können?
Mit den Worten: „Wenn mehr als zwei Leute fehlen, fahre ich nicht!“ zitiert Chormitglied Maria Bach den Chefdirigenten Kegel.
Erst als am Tag vor der Abreise nur noch vier Kollegen fehlen, fällt die Entscheidung: „Wir fahren!“
Und so bricht der Chor am 29. Oktober 1957 um 10.51 Uhr mit dem Zug auf über Magdeburg und Rostock zur Fähre nach Warnemünde.

Herbert Kegel mit Chormitgliedern vor dem ersten Konzert in Kopenhagen
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
„Unterwegs wurden die Pässe verteilt und damit trat schon die erste Panne ein: es fehlten nämlich drei Pässe. Es gab ziemlichen Tumult, zumal wir wussten, dass die Pässe am Tage zuvor schon im Funkhaus lagen, man aber in uns nicht das Vertrauen gesetzt hatte, sie unbeschadet eine Nacht bei uns daheim aufbewahren zu können. Man musste schon an einen bösen Scherz glauben, denn es waren drei nebeneinanderliegende Pässe mit den Anfangsbuchstaben N-O-P [Nowotny, Oettel, Philipp], und dazu waren es noch drei Soprane, auf die man unmöglich verzichten konnte. Der uns da schaden wollte, hat es sich ganz geschickt ausgedacht, denn wer ist … sonntags im Amt telefonisch zu erreichen?
Wir mussten aber weiterfahren, weil wir ja an den Konzerttermin gebunden waren.“ berichtet Maria Bach.
Charlotte Oettel erzählt die Begebenheit in ihrem Reisetagebuch weiter:
„Kegel war eine Wut. Er wollte die ganze Reise abbrechen. 4 Kranke und nun etwa noch 3 Ausfälle. So mochte er kein Konzert. In Wittenberge telefonierte er mit dem Ministerium in Berlin.
Plötzlich fuhr der Zug ab und Kegel war noch nicht zurück. Große Aufregung. Der Beamte war nicht zu bewegen, den Zug anzuhalten. Da zogen wir die Notbremse und hatten schrecklich viel Spaß dabei. Das zischte entsetzlich und der Zug stand. Der Beamte griente. Dann kam Kegel mit 3 Bahnpolizisten. Auf die Frage, wer die Notbremse gezogen hatte, sagte Kegel: ‚Das geht auf meine Rechnung.'“
Entgegen der ursprünglichen Anweisung, die drei Sopranistinnen sollen in Warnemünde übernachten, am nächsten Tag ihre Pässe in Empfang nehmen und dann einen Tag später nachkommen, erreichte es Herbert Kegel, dass die Kolleginnen ohne Pässe ausreisen durften. Die Fähre brachte den Chor nach Kopenhagen, von wo aus es per Flugzeug – für die meisten Chormitglieder war es der erste Flug – nach Århus, dem ersten Konzertort, weiterging.
Es sollten bis zum 16. Oktober zehn weitere Konzerte stattfinden: in Dänemark, Schweden, Finnland und wieder in Schweden. Gereist wurde per Schiff, Bahn und im Flugzeug.
Die zeitgenössische Skizze aus den Reihen des Chores verdeutlicht die Reiseroute und die benutzten Verkehrsmittel. Der Tourneeplan war sehr eng gestaltet. So erreichte der Chor am 4. Oktober nach achtstündiger Zugfahrt um 18 Uhr Jönköping, stand um 20 Uhr schon wieder zum Konzert auf der Bühne und fuhr am nächsten Morgen um 7 Uhr weiter nach Stockholm. Ein „Non-Stop-Rennen“ nannten die Chormitglieder etwas respektlos diese Dichte.
Mit Ausnahme eines Konzertes beim finnischen Rundfunk in Helsinki hatte man zwei verschiedene A-cappella-Konzertprogramme vorbereitet, das eine in zwei Konzerten von Dietrich Knothe, das andere von Herbert Kegel dirigiert.
Im Mittelpunkt, insbesondere des Kegel-Konzertes, standen Werke des 20. Jahrhunderts. Vor allem Orffs „Catulli carmina“ animierte die Zuhörer immer wieder zu Begeisterungsstürmen. Der Chor und seine Dirigenten hatten sich auf ein eher zurückhaltendes, reserviertes Publikum eingestellt und waren immer wieder von der Begeisterungsfähigkeit der „Nordländer“ überrascht. Nicht selten sprangen die Zuhörer spontan von ihren Sitzen auf oder verfielen in rhythmisches Klatschen.











„Doch für uns war wohl das Schönste der persönliche Dank der Menschen!“, heißt es im Reisebericht eines Chormitglieds. „Wie oft wurden wir von begeisterten Zuhörern nach den Konzerten angesprochen, und wir hörten: ‚Dank, Dank‘, oder ‚Phantastisch‘ usw., oder das uns am meisten erfreuende: ‚So einen Chor haben wir noch nicht gehört‘ – und ‚Kommt bald wieder!’“

Konzert im Odd Fellow Palais in Kopenhagen am 2. Oktober 1957
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Auch zu offiziellen Kontakten kam es: Nach dem Konzert in Kopenhagen wurden dem Chor Blumen von der westdeutschen (!) Handelsvertretung überreicht.
In Helsinki war man Gast bei der „Deutsch-finnischen Gesellschaft“ und in der DDR-Handelsvertretung.
Kontakte zu einem Göteborger Chor sowie zu finnischen Chorleitern und -sängern wurden leider von Deutschland aus nicht, wie geplant, weiterentwickelt.
In Helsinki war die Mitwirkung in einem von Herbert Kegel geleiteten Anrechtskonzert des Rundfunks mit dem Sinfonieorchester des dortigen Rundfunks in die Tournee eingebaut worden. Auf dem Programm standen das „Schicksalslied“ von Brahms und Orffs „Catulli carmina“.
Johannes Brahms: Schicksalslied für Chor und Orchester op. 54
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor Leipzig
Dirigent Herbert Kegel
Aufnahme: Leipzig, Kongresshalle, 10. September 1951
Tonmeister: Gerhard Burgert · Toningenieur: Wußt
Die zahlreichen Kritiken – oft erschienen von einem Konzert mehrere Rezensionen – waren hervorragend bis begeistert.
„Was dieser Chor unter der Leitung des Dirigenten Herbert Kegel leistete, war einfach verblüffend. Er spielte auf ihm wie auf einem Instrument, virtuos und völlig souverän. Und welch ein Instrument war das! Technische Schwierigkeiten schienen überhaupt nicht zu existieren. Die Begeisterung für die Leistungen des Chores war ungeheuer“ [Århus Stiftstidende].
Jyllandsposten schrieb:
„Das Konzert … in Århus war ein Erlebnis, das das Gefühl gab, daß wir unsere Ansicht darüber, was ein Sängerchor in der Lage ist zu leisten, gründlich revidieren müssen. Das war nie versagende und mustergültige Zusammenarbeit von Anfang bis Ende.“
Oder Berlingske Tidende, Kopenhagen:
„Virtuoser a-cappella-Chor – Der Leipziger Rundfunkchor … ist ein blendendes Vokalensemble. In einem Programm das … im übrigen aber das ganze Hauptgewicht auf die Musik unserer Zeit legte, zeigte der Chor eine Disziplin, die nicht nur in Bezug auf minutiöse Gleichzeitigkeit, sondern auch in Hinblick auf die Intonation imponierte.“

Interview mit Charlotte Oettel, Fritz Zschauer, und Herbert Kegel in einer schwedischen Tageszeitung
Dokument: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Der Überschwang der Presse ging in Schweden weiter:
„So singt nicht jeder Berufschor, so singt nur der Leipziger Radiochor … Wie kann man nur so rhythmisch, so lebendig und so klangintensiv im Pianissimo singen!“
[Göteborgs-Tidningen].
Jönköpings Posten lobt den Klang des Chores:
„Es ist fast nicht fassbar, dass ein Chor so schön klingen kann.“
„Ja! Das war Chorgesang! … So etwas kann einfach nicht beschrieben werden, das muss man erleben.“
[Smålands Folkblad].
Wenn Kritiker dennoch Einschränkungen machten, bezogen sich diese auf „die bewundernswerte Präzision, die jedoch in reinen Drill ausarten kann“
[Dagens Nyheter].
In Stockholm „erhielt übrigens der Chor im Gegensatz zum Erfolg des Abends … auch die einzige negative Presse-Kritik der ganzen Tournee … Da man Herbert Kegel und den Chor jedoch schon ‚vorbereitet‘ hatte, war man nicht weiter entsetzt, denn man fand sich ja in guter Gesellschaft, waren doch auch Gigli, Samuel Goldberg und andere Kapazitäten bei jener eigenwilligen Mitarbeiterin eines Rechts-Blattes recht schlecht weggekommen“
[Kulturspiegel der Messestadt Leipzig, 12/1957].
Der Vollständigkeit halber sollen auch Stimmen aus Finnland Gehör finden:
„Der Rundfunkchor Leipzig sang mit sensationellem Erfolg. Unter der sogar fanatischen Leitung Herbert Kegels ist der Chor so weit gekommen wie ein Chor überhaupt kommen kann. Erstaunlich vollendet ist die Schönheit und Reinheit des Klanges, unbegrenzt elastisch die Nuancierung“ [Svenska Pressen, Helsinki].
Oder Hufvudstadsbladet, Helsinki:
„In dem letzten Werk ‚Catulli carmina‘ von Orff, erlebte man in einem noch höheren Grade die technische Vollkommenheit, Ausdrucksintensität, Präzision und den Rhythmus des Chores. Die Vitalität, der rhythmische Schwung und die aparte Atmosphäre waren bezwingend“.
Das selbe Blatt schreibt über das A-cappella-Konzert in Helsinki:
„Was am meisten Eindruck … macht, ist das Äußerste der Homogenität der Stimmen. Es lohnt nicht einzelne Sänger auszuwählen oder darüber zu berichten, wer was singt. Sechzig Sänger sind zu einem Instrument zusammengeschweißt.“
Die finnische Zeitung Uusi Aura aus Turku zitiert den seinerzeit bedeutendsten finnischen Komponisten Yrjö Kilpinen, nach dem dieser den Chor in Helsinki gehört hatte:
„Es gibt Chöre, die eine lebendige Vorführungsweise haben und andererseits Chöre, die gute Technik und Disziplin haben. Bei dem Leipziger Rundfunkchor sind diese Eigenschaften jedoch beide vereinigt“.
Auch der Leipziger Kulturspiegel führt Kilpinen an:
„Die Wiedergabe war einfach wundervoll, voll Leben, Präzision und äußerst musikantisch. Kommen Sie recht bald wieder …!“
Doch bis zu einem erneuten Besuch des Leipziger Rundfunkchores in Finnland sollten fünfzig Jahre vergehen.
Resonanz zu Hause

Herbert Kegel mit den Chormitgliedern Ursula Engemann und Christa Enger in einer schwedischen Tageszeitung
Foto: Archiv des Leipziger Rundfunkchores
Das letzte Konzert der Tournee fand am 16. Oktober im schwedischen Malmö statt.
Tags darauf beginnt die Heimreise mit der Fähre von Trelleborg über die Ostsee nach Sassnitz und von dort aus per Eisenbahn weiter nach Berlin. Hier wird der Chor von Vertretern des Kulturministeriums, des Rundfunks und der Presse begrüßt.
„Wiederholt wird uns von staatlichen Stellen bestätigt, daß wir mit dieser Tournee nicht nur eine Kulturmission ersten Ranges erfüllt haben, sondern daß die Reise in einer Zeit der internationalen Spannungen als Friedenstat nicht hoch genug eingeschätzt werden kann“, schreibt Bassist Gerhard Richter in seinem Reisebericht.
Gewachsenes Selbstbewusstsein
Auch in den ostdeutschen und insbesondere den Leipziger Zeitungen wird von der Reise des Leipziger Rundfunkchores Notiz genommen. Wäre nicht der Start des ersten sowjetischen Satelliten Sputnik 1. am 4. Oktober 1957 das alles bestimmende Thema gewesen, hätte die Öffentlichkeit die Skandinavien-Tournee des Chores wohl noch stärker beachtet.
Für den Chor, der gerade seine 12. Spielzeit begonnen hatte, markiert die große Reise nach Dänemark, Schweden und Finnland einen wichtigen Meilenstein in seiner Entwicklung. Nachdem sich das Ensemble in Leipzig etabliert, sein Können auch im Osten und Westen Deutschlands unter Beweis gestellt hatte sowie auf der ČSSR-Reise auch auf dem internationalen Parkett – wenn auch nur des Ostblocks – sicherer geworden war, stellte die Skandinavien-Tournee eine deutliche Erweiterung des Wirkungskreises dar. Man war nun endlich in der internationalen Musikszene angekommen! Wer fast nur mit Superlativen bedacht, gar als der „Chor der Chöre“ [Göteborgs-Posten] bezeichnet wurde und in den Konzerten immer wieder ein begeistertes Publikum erlebte, das die Kritiker-Meinungen bestätigte und sogar übertraf, musste selbstbewusst und sich seiner Leistungen immer sicherer werden. Bei aller Selbstkritik, die beispielsweise im Reise-Tagebuch von Charlotte Oettel nicht fehlt, spürte der junge Chor, dass er zu hervorragenden Leistungen fähig war – und das auch unter den harten Bedingungen einer Tournee.
Die Chormitglieder müssen schon während und nach der Reise gespürt haben, dass sie als ein anderer Chor aus Skandinavien zurückkamen, dass das Reiseerlebnis sie weiter zusammengeschweißt hatte.
So haben sich im Chorarchiv drei Reiseberichte erhalten, neben einer anonymen Schilderung die Berichte von Gerhard Richter und Maria Bach (später: Voß). Werner Frensel, der Vorsitzende des Chorvorstands, sammelte alle skandinavischen Konzertkritiken sowie Berichte deutscher Medien und illustrierte sie mit offiziellen und privaten Fotos. Auch der detaillierte Ablaufplan aller Reisedaten hat sich erhalten. Und schließlich gestaltete der Chor für Herbert Kegel ein Fotoalbum mit Reiseeindrücken und einer Reiseskizze.
Wer in den letzten Jahrzehnten – und auch heute noch – ehemalige Chorsängerinnen und -sänger auf die Skandinavien-Tournee von 1957 anspricht, blickt in strahlende Gesichter.
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→ VII-06 Wiedergutmachung in Warschau und Affront in Kraków
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