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Warschau: Wiedergutmachung Kraków: Affront [VII-06]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

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Probe in der Warschauer Philharmonie
Foto: Album Gleisberg

 

Schönbergs „Überlebender von Warschau“ für Warschau

Herbert Kegel auf der Polenreise Foto: Album Gleisberg

Herbert Kegel auf der Polenreise
Foto: Album Gleisberg

Die Konzertreise des Jahres 1958 führt den Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig nach Warschau zum 2. Warschauer Herbst und zu anschließenden Konzerten nach Poznań und Kraków.
Dirigent ist der kurz zuvor zum Generalmusikdirektor ernannte Herbert Kegel.

Auf der Tournee nach Polen werden die Ensembles gleich in zweifacher Hinsicht mit den Auswirkungen der jüngeren und jüngsten deutschen und europäischen Geschichte konfrontiert. In einem Reisebericht schreibt die Leipziger Volkszeitung:
„Auf einer internationalen Pressekonferenz in Warschau bat Herbert Kegel, die Aufführung des den Warschauer Widerstandskämpfern gewidmeten Werkes Ein Überlebender von Warschau (Schönberg) als einen Akt der Wiedergutmachung am polnischen Volk zu werten, das während des zweiten Weltkrieges von den deutschen Faschisten so furchtbar mißhandelt worden war. Diese Geste der Völkerfreundschaft wurde vom Warschauer Konzertpublikum auch richtig verstanden. Lang anhaltender Beifall, der nicht zuletzt auch der ausgezeichneten Interpretation durch Reiner Lüdecke (Rezitation) galt, zwang zur Wiederholung des Werkes.“

Das weitere Werk unter Beteiligung des Chores, Paul Dessaus Poem Die Erziehung der Hirse nach einem Gedicht von Bertolt Brecht, wird hingegen in der LVZ nur am Rande erwähnt. Und das nicht ohne Grund. Der Kritiker des Blattes Illustrierter Kurier Polens ist in seinem Urteil über die Poznaner Aufführung von Dessaus Werk noch recht milde:
„Die Komposition … ist ein eklektisches Werk mit einer sehr banalen Melodik …
Die Erziehung der Hirse war eine unangenehme Überraschung …“.

 

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Die Krakówer Philharmonie
Foto: Album Gleisberg

 

„Lautes Türknallen“

Das Echo Krakowa geht mit der Komposition Paul Dessaus noch härter ins Gericht:
„Dieses Werk … wurde von dem Komponisten in ein kompromittierend schwaches musikalisches Gewand gekleidet, in einer chaotischen Konstruktion auseinandergerissen, die den Zuhörer durch die Zufälligkeit der Toneffekte, durch ihre Monotonie und Langeweile quälte.
Gelangweilt von der künstlerisch unverständlichen und nicht überzeugenden Musik des Werkes hat das Publikum in Scharen den Saal der Philharmonie verlassen, den Schluss des Konzertes haben nicht mehr als ein Viertel der Zuhörerschaft abgewartet.“

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Die Chormitglieder Margot Gleisberg und Fritz Zschauer betrachten das Konzertplakat in Kraków
Foto: Album Gleisberg

Chormitglieder berichten von einer beinahe tumultartigen Unruhe im Konzertsaal, von lautem Türenknallen und protestartigem Verlassen des Saales durch große Teile des Publikums.
Es erscheint als recht unwahrscheinlich, dass das Publikum nur wegen einer als mangelhaft empfundenen Komposition dermaßen emotional reagierte.
Naheliegend ist vielmehr, dass sich die Proteste auf den Inhalt des Werkes bezogen, das das Leben der Kolchosbauern in Kasachstan pries.

War 1958 unter Władisław Gomulka zwar schon eine gewisse Tauwetterperiode eingetreten, lag die Zeit des Stalinismus jedoch noch nicht sehr fern. Diese war von Zwangskollektivierung und Pogromen an der polnischen Bevölkerung geprägt, gegen die das polnische Volk in einem blutig niedergeschlagenen Aufstand rebelliert hatte.
Auch die Rezensenten dürften mit ihren Verrissen auf den politischen Hintergrund des Werkes gezielt haben, ohne ihn freilich offen benennen zu dürfen.

Hatten die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores gehofft, wie schon in den Jahren seit 1955, auch 1959 außerhalb der DDR-Grenzen auftreten zu können, wurden sie bitter enttäuscht!
Es sollte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis wenigstens 39 Chormitglieder als Verstärkung des Rundfunkchores Berlin zu einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie mit dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Kurt Masur mit nach Paris reisen durften.

Chormitglieder berichten, dass Masur eigentlich den Leipziger Rundfunkchor mit auf die Reise nehmen wollte, die zentrale Rundfunkleitung aber auf den Berliner Rundfunk-Chören bestand.
Erst im Herbst des Jahres 1971 tourte der Chor zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester ins Ausland, allerdings nicht in Richtung Westen, sondern in die ČSSR.

 

Reisedokument Konzertprogramm aus Poznań

ZUM UMBLÄTTERN: Programmheft zum Konzert in  Poznań aus dem Jahr 1958

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Erste Chorreisen

→  VII-01  Präsenz in Leipzig und Markkleeberg – Die Tage des Rundfunks
→  VII-02  Stuttgart: Eine “Neunte” mit Schwierigkeiten
→  VII-03  Konkurrierende Musikfeste: Coburg – Eisenach
→  VII-04  ČSSR: „Heller Klang, der jung wirkt“
→  VII-05  Skandinavien: “Der Chor der Chöre”
→  VII-06  Wiedergutmachung in Warschau und Affront in Kraków

 

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