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Konkurrierende Musikfeste: Coburg – Eisenach  [VII-03]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

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Der Chor vor den Bussen in Coburg

 

Das Coburger Gesamtdeutsche Musikfest

Schon ein Jahr später sollte der Leipziger Rundfunkchor wieder Gelegenheit erhalten, sich vor einem gesamtdeutschen Publikum zu präsentieren.
Im September 1956 veranstalteten der Verband deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR und und dessen westdeutsches Pendant, die Vereinigung der Landesverbände deutscher Tonkünstler und Musiklehrer, im fränkischen Coburg das 2. Gesamtdeutsche Musikfest.

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Herbert Kegel in Coburg

Unter der Leitung Kegels sang der Leipziger Rundfunkchor Werke ost- und westdeutscher Komponisten, so von Kurt Schwaen, Fred Lohse, Leo Spies, Hans Stieber, dem anwesenden Wilhelm Weismann, von Fritz Büchtger, Siegfried Reda, Ernst Pepping und Carl Orff.

Die Neue Presse Coburg bejubelte den Chor am 3. September 1956 in einer überschwänglichen Rezension:
„Mit diesem Chor stellte sich eine Singgemeinschaft von geradezu einmaliger Güte vor, die aus bester Leipziger Tradition erwachsen, nicht leicht ihresgleichen finden dürfte.
Es ist ein kostbares Instrument, auf dem Herbert Kegel mit einmaliger Virtuosität spielt, ein Instrument, dessen Präzision überrascht und das allen auch nur angedeuteten Winken dieses meisterhaften Spielers unmittelbar nachgibt. Dieser Chor vibriert förmlich von Musikalität“
.

Auch in der heimischen Presse sowie in Zeitungen u.a. aus Berlin, Essen, Hannover oder Schwerin bleibt der Auftritt des Chores nicht ohne ein positives Echo. Der Demokrat aus Schwerin zitiert den Komponisten Kurt Hessenberg mit den Worten: „Der Rundfunkchor unter Herbert Kegel ist hervorragend“.

 

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Plakette des Wartburgtreffens Deutscher Sänger
Objekt: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

Wartburgtreffen

Nur zwei Wochen später kann sich der Chor, wieder mit einem A-cappella-Konzert, auf dem 4. Wartburgtreffen deutscher Sänger mit den Lautsprechersymbol-klein-1 Canti di prigionia, den Gesängen aus dem Kerker, von Dallapiccola, den Gesängen aus der Mátragegend von Kodály und Orffs Catulli carmina präsentieren, ein Konzertprogramm, das am folgenden Tag in der Erfurter Thüringenhalle wiederholt wird.

Über das Konzert auf dem 4. Wartburgtreffen heißt es im Neuen Deutschland am 10. September 1956:
„Es zeigten sich die ersten Früchte des Bestrebens, Sentimentalität und falsche Rührseligkeit aus den Darbietungen zu verbannen und dem Lied der Romantik das Massenlied und die große Form aus Vergangenheit und Gegenwart an die Seite zu stellen (…)
Es ist nicht möglich, aus der Vielfalt des Gebotenen all das zu nennen, was entsprechend der kompositorischen Bedeutung und der musikalischen Wiedergabe nennenswert wäre.
Wir möchten aber eine Aufführung zeitgenössischer Chorwerke hervorheben. Wer den Enthusiasmus und den rauschenden, nicht enden wollenden Beifall erlebt hat, der sich nach der Aufführung der ‚Gesänge aus dem Kerker‘ von Luigi Dallapiccola, der ,Bilder aus der Mátragegendʻ von Zoltan Kodály und der ,Catulli Carminaʻ von Carl Orff erhob, deren Interpretation eine maximale künstlerische Vollendung der Vortragenden erfordert – der konnte nicht nur beobachten, daß insbesondere die jugendlichen Zuhörer mit diesem Beifall ihre Abkehr von der ,Liedertafeleiʻ und ihre Würdigung der hervorragenden Wiedergabe dieser äußerst komplizierten Komposition demonstrieren wollten; er konnte zugleich bemerken, daß es zu lebhaften, angeregten Diskussionen über ,moderne Musikʻ kam, die naturnotwendig ins Bereich gesellschaftspolitischer Probleme ausmündeten und damit das Gespräch über Krieg und Frieden, Spaltung und Einheit Deutschlands, Kosmopolitismus und Patriotismus usw. von der ,fachlichenʻ Seite her fruchtbar beeinflußten.“

 

Luigi Dallapiccola (1904-1975): Canti di prigionia für Chor und Instrumente


Gesänge aus der Gefangenschaft 1938/1941

Preghiera di Maria Stuarda [Ausschnitt]
Solisten: Manfred Reinelt und Heinz Rögner, Klavier
Rundfunkchor Leipzig
Großes Rundfunkorchester Leipzig
Dirigent: Herbert Kegel
Künstlerische Aufnahmeleitung: Eckart Schönberg
Aufnahme: 28. 6. 1956 in der Leipziger Nikolaikirche
Verlag: Carisch
Quelle: Logo-DRA-for-web-

 

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Chorbassist Herbert Bechstein mit dem Wartburg-Programm unter dem Arm
Foto: Album Gleisberg

Erstaunlich ist, dass 1956 innerhalb eines Monats zwei Musikfeste in Deutschland stattfanden: das 2. Gesamtdeutsche Musikfest in Coburg und das 4. Wartburgtreffen deutscher Sänger in Eisenach.
Wurde das Coburger Treffen von zwei gleichberechtigten Verbänden aus Ost und West gemeinsam getragen, lag die Organisation des Wartburgtreffens beim Zentralhaus für Laienkunst in Leipzig, das dem DDR-Ministerium für Kultur direkt unterstellt und somit in den Machtapparat der SED eingebunden war. Folglich hatten auch die Wartburgtreffen das Ziel, propagandistisch auf die Besucher aus Westdeutschland einzuwirken und ihnen die DDR als das bessere Deutschland vor Augen zu führen.
Diese Tendenz verstärkte sich während der Wartburgtreffen deutscher Sänger zusehends.
Ab dem 5. dieser Treffen erging die Einladung sogar nur an diejenigen Chöre, „die sich gegen Terrorjustiz der westdeutschen Bundesrepublik und für eine glückliche sozialistische Zukunft Deutschlands“ einzusetzen bereit waren, so der Sprachgebrauch einer Publikation des Zentralhauses für Laienkunst.

So wurde der Chor im September 1956 zwei Mal für politische Zwecke benutzt: einerseits, um den vermeintlich ungebrochenen Willen nach einem geeinten Deutschland zu unterstreichen und andererseits zur Demonstration der proklamierten Überlegenheit des ostdeutschen Kulturbegriffs.

Die Chormitglieder werden sich dessen nicht bewusst gewesen sein. Sie haben das Bestes gegeben und ihre Konzerte „durchgestanden“.
In Eisenach oder Erfurt soll das geflügelte Wort entstanden sein:
„Die Stimme geht ja noch – aber die Beine …“

 

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„Die Stimme geht ja noch – aber die Beine …“

 

Reise-Raritäten

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Probenanwesenheitsliste für das Konzert in Coburg am 1. September 1956 und Honorareinzahlungsbeleg an das Chormitglied Peter Schreier für die Mitwirkung bei den Konzerten im Herbst 1956
Dokumente: Archiv des Leipziger Rundfunkchores

 

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Erste Chorreisen

→  VII-01  Präsenz in Leipzig und Markkleeberg – Die Tage des Rundfunks
→  VII-02  Stuttgart: Eine “Neunte” mit Schwierigkeiten
→  VII-03  Konkurrierende Musikfeste: Coburg – Eisenach
→  VII-04  ČSSR: „Heller Klang, der jung wirkt“
→  VII-05  Skandinavien: “Der Chor der Chöre”
→  VII-06  Wiedergutmachung in Warschau und Affront in Kraków

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