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Stuttgart: Eine “9.” mit Schwierigkeiten [VII-02]

Chronik des Leipziger Rundfunkchores

von Rüdiger Koch

 

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Chormitglieder vor einem Konzert der Neunten Sinfonie im Mai 1955 vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar

Außerhalb Leipzigs war der Chor, abgesehen von den über den Äther ausgestrahlten Konzerten, kaum zu hören.
Magdeburg im Norden, Weimar im Westen, Dresden und Schwarzenberg im Süden sowie Berlin im Osten markieren einen bescheidenen räumlichen Wirkungskreis.

150 Jahre nach Friedrich Schillers Tod hatte der Leipziger Rundfunkchor im Rahmen der Schiller-Feierlichkeiten Beethovens 9. Sinfonie mit Schillers „Ode an die Freude“ mehrfach aufgeführt: in Weimar unter Hermann Abendroths Leitung mit der Staatskapelle Weimar, sowie in Leipzig mit Franz Konwitschny am Pult des Gewandhausorchesters.

So war es naheliegend, dass die Landesleitung der baden-württembergischen KPD den Leipziger Rundfunkchor zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig für Mai 1955 einlud, Beethovens 9. Sinfonie im Rahmen ihrer Schiller-Feier in Stuttgart aufzuführen.

Das Stuttgarter Konzert wird damit das erste einer Reihe von Auftritten außerhalb der DDR.

 

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„Ans Vaterland ans teure schliess Dich an“…
Anspielprobe für die Neunte Sinfonie in Stuttgart

 

Ein Reisebericht von Fred Malige

Der Komponist, Musiker im Rundfunk-Sinfonieorchester und zudem Ehemann der Rundfunkchorsängerin Katharina Malige hat seine Eindrücke von der Reise nach Stuttgart sehr anschaulich geschildert:

„Zu einem besonders interessanten künstlerischen und für diesen Zeitpunkt wichtigen politischen Einsatz gestaltete sich am 15. Mai 1955 die Aufführung der IX. Sinfonie von Ludwig van Beethoven durch das Sinfonieorchester und den Chor des Senders Leipzig unter GMD Gerhard Pflüger für die Kommunistische Partei Deutschlands in Stuttgart …

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Vor Abfahrt der Busse des Leipziger Nahverkehrs am Leipziger Funkhaus in der Springerstraße

Die Abfahrt des Chores und des Orchesters erfolgte – wie immer bei auswärtigen Einsätzen – vom Funkhaus in Leipzig aus, diesmal mit drei großen Omnibussen und einem kleinen Bus, der schon vor der Abfahrt von den Frauen des Chores den Namen ‚Pünktchen‘ erhalten hatte, weil er sich ihnen in grüner Farbe mit weißen Punkten präsentiert hatte.

Chor und Orchester sahen dieser Reise mit großem Interesse entgegen, war es doch die erstmalige Bekanntschaft mit dem Leben in Westdeutschland.

Es war die Zeit des kalten Krieges und in dieser Zeit ein Konzert für die Kommunistische Partei Westdeutschlands durchzuführen, ließ doch einige Bedenken aufkommen.
Die Abfertigung an der Zonengrenze dauerte sechs Stunden. Schwierigkeiten mit den Papieren, Telefongespräche …

Nach der Abfahrt an der Zonengrenze verloren sich die drei Busse völlig aus den Augen und fuhren auf verschiedenen Wegen in Richtung Stuttgart. Während die drei großen Busse rechtzeitig vor dem Saal eintrafen, der von der Post für die Veranstaltung zur Verfügung gestellt worden war, verirrte sich ‚Pünktchen‘ immer wieder und hatte Panne auf Panne.
Inzwischen hatte sich der Saal bereits gefüllt – doch von ‚Pünktchen‘ war noch nichts zu sehen.
Die Sorge, ob unter diesen Umständen eine Aufführung noch möglich sein werde, wurde immer größer und auch ein Unfall mußte befürchtet werden.

Gerhard Unger, der Tenor des Solistenquartetts, hatte eine Verpflichtung in Berlin und erklärte, daß er nicht mehr länger warten könne und nun abfahren müsse. Damit wäre aber die Aufführung der Sinfonie unmöglich gewesen zum Schaden des Publikums und der Genossen der KPD, die sich einen besonderen kulturellen und politischen Erfolg von dieser Aufführung versprochen hatten.

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Chorsänger Alouis Tinschert

Als ‚Pünktchen‘ nach 16stündiger Fahrt, weit nach der angesetzten Zeit des Konzertbeginns ankam, konnte nur festgestellt werden, daß nach der Abreise des Tenors alle Mühen umsonst waren.

Doch es fand sich ein Ausweg. Alois Tinschert – vom Chor ein Tenor – erklärte sich bereit, die Partie ohne jede Vorbereitung und Probe zu übernehmen.
Damit war die Aufführung gerettet.

Alois Tinschert beherrschte die Partie ausgezeichnet und das Publikum dankte ihm und allen anderen Mitwirkenden mit herzlichem Beifall.“

Alfred (Fred) Malige
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig (2 Teile) Maschinenschrift,
Nachlass Alfred Malige Nr. 44, Blätter 66 – 68, Stadtarchiv Leipzig

 

Das Reisedokument

Zeitung-Neunte-Stuttgart

 

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