Kurt Masur – ein Freund ist gegangen
Chronik des Leipziger Rundfunkchores
von Rüdiger Koch
Der letztlich doch so plötzliche Tod Kurt Masurs zwingt dazu, in der chronologischen Darstellung der Geschichte des Leipziger Rundfunkchores inne zu halten und schon einige spätere, Kurt Masur gewidmete Kapitel, aufzuschlagen.
Eintrag von Kurt Masur in das Gästebuch des Leipziger Rundfunkchores
Das Foto zeigt Kurt Masur während der Proben zum „Elias“ im September 2009
Foto: Rüdiger Koch
Kaleidoskop einer langen Freundschaft
Seit der Eröffnung des Neuen Gewandhauses wird ein Dirigent für die künstlerische Entwicklung des Leipziger Rundfunkchores immer wichtiger: Kurt Masur.
Dabei hatte die gemeinsame Arbeit schon in den 1950er Jahren begonnen.
Erstmals dirigierte Masur den Chor bei einer Rundfunkaufnahme am 23. November 1954. Zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig waren Ausschnitte aus Glucks Orpheus aufgenommen worden.
Masurs erste Rundfunkaufnahme
Gluck: Orpheus und Euridice
daraus:
Komm ins Reich beglückter Schatten (II) Szene Orpheus – Chor
Triumph sei Amor und alles, was da lebet (III,3) Finale Amor – Orpheus – Eurydike mit Chor)
Erna Roscher, Sopran
Tiana Lemnitz, Sopran
Johanna Blatter, Alt
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Rundfunkchor Leipzig
Dirigent: Kurt Masur
Aufnahme: Sender Leipzig am 23. November 1954 im Funkhaus Raum 5
Die Schallplatte
Nach einigen Produktionen mit Opernausschnitten bestand die erste größere Zusammenarbeit Masurs mit dem Rundfunkchor darin, die Oper Enoch Arden von Ottmar Gerster im Sommer 1965 für die Schallplatte aufzunehmen.
Es folgten 1972 Aufnahmen der 2. Sinfonie, Lobgesang, von Felix Mendelssohn Bartholdy und der Missa solemnis von Beethoven, 1973 der Kantate Die erste Walpurgisnacht von Mendelssohn, 1979 Liszts Faust-Sinfonie mit dem Männerchor und im ersten Halbjahr 1981 der Beethovensche Fidelio.
Und immer wieder dirigiert Masur Konzerte und Aufnahmen der 9. Sinfonie von Beethoven.
Nach der Eröffnung des Neuen Gewandhauses wird dessen Großer Saal nun auch für Schallplatten- bzw. CD-Produktionen genutzt, zunächst exklusiv für das Gewandhausorchester.
Jede Platte erhielt deshalb den Aufdruck: „Aufgenommen im Neuen Gewandhaus“.
In rascher Folge werden die Schauspielmusiken zu Rosamunde von Schubert (1983) und Peer Gynt von Edvard Grieg (1988), Mendelssohns Paulus (1986), nochmals der Lobgesang (1988) und die Schauspielmusik zu Ein Sommernachtstraum (1990) produziert. Der Elias sollte erst im Januar 1992, also nach dem hier betrachteten Zeitraum, als Mitschnitt eines Konzertes im Frederic-Mann-Auditorium in Tel Aviv die Serie der Mendelssohn-Produktionen abrunden.
Ein Haus für die Zukunft
Ohne den unermüdlichen Einsatz Masurs für den Bau eines neuen Konzertsaales, hätte es das 1981 eröffnete Neue Gewandhaus nicht gegeben! Den modernen Leipziger Saal hatten die Mitglieder des Rundfunkchores ebenso herbeigesehnt wie das Gewandhausorchester und das gesamte Konzertpublikum der Messestadt. Zu ungünstig waren die räumlichen und akustischen Verhältnisse in der Kongresshalle, in der sich der Chor weit hinter dem Orchester verloren vorkam. Nun, im neuen Saal, „schwebte“ der Chor gleichsam über dem Orchester und konnte sich klanglich viel besser von diesem abheben und seine Stärken zur Geltung bringen, insbesondere sein „klangsensibles Pianissimo“.
Die erste Probe im Neuen Gewandhaus singt der Rundfunkchor, zusammen mit den Sängerinnen und Sängern des Gewandhauschores, am 28. September 1981. „Von der guten Akustik des Saales sind wir angenehm überrascht“, heißt es an diesem Tage im Chortagebuch. Am 6. Oktober ist der Chor am ersten öffentlichen Konzert beteiligt. Für die Erbauer des Gebäudes erklingen Siegfried Thieles Gesänge an die Sonne und die 9. Sinfonie von Beethoven. Die offizielle Eröffnung des Hauses findet dann am 8. Oktober mit dem selben Programm u.a. vor Prominenz aus Politik und Gesellschaft statt.
Nach dem 5. Konzert mit dem Eröffnungsprogramm gab Gewandhauskapellmeister Kurt Masur einen Empfang für die beteiligten Chöre. Neben dem Rundfunk- und dem Gewandhauschor hatten noch der Thomanerchor und der Gewandhaus-Kinderchor mitgewirkt. Masur „bedankte sich herzlich, sprach von der großen und verwandelnden Bedeutung des Neuen Gewandhauses für Leipzig und für uns. Es möge dieses Haus nie zur Gewöhnung, zum Alltag werden, damit es immer wieder zur künstlerischen Inspiration anrege“, so der Chronist im Chortagebuch.
„Seit der Eröffnung des Neuen Gewandhauses wird Leipzig gleichsam von einer großen Woge von Musik getragen. Der erste Konzertneubau der DDR hat interpretatorische Aktivitäten freigesetzt, wie sie in Leipzigs jüngerer Musikgeschichte nicht zu finden sind“, resümiert Hellmut Döhnert in einer Leipziger Tageszeitung über die ersten, kurz nach der Eröffnung veranstalteten Gewandhaus-Festtage.
Bis zum heutigen Tag stellt das Neue Gewandhaus die wichtigste Leipziger Wirkungsstätte des Rundfunkchores dar, in der Masurs Geist immer lebendig bleiben wird.
Brückenbau nach Israel: Mit Masur im Heiligen Land
An den Abenden des 28. bis 31. Dezember 1988 singen Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores zusammen mit den Gewandhauschören die traditionelle Aufführung der Neunten von Beethoven unter Masurs Leitung im Gewandhaus. In der Silvesternacht ahnt wohl kaum jemand, dass das anbrechende Jahr 1989 mit der friedlichen Revolution in der DDR und dem Ende des Eisernen Vorhangs für Deutschland und die Welt äußerst wichtig werden würde. Für den Rundfunkchor Leipzig beginnt das neue Jahr mit einer Reise hinter die Grenze, die Ost und West noch immer trennt, noch dazu in ein Land, in dem noch nie ein Ensemble aus dem Osten Deutschlands aufgetreten war: nach Israel. Kurt Masur hatte das Israel Philharmonic Orchestra schon mehrmals dirigiert. Diesmal bringt er für 11 Aufführungen des Deutschen Requiems von Johannes Brahms den Leipziger Rundfunkchor mit. Es lässt sich nicht mehr genau ausmachen, wie es zu dieser Einladung gekommen war. Wollte das israelische Orchester ein chorsinfonisches Werk und bat Masur, einen Chor mitzubringen? Wollte gar Masur eine Aufführung mit dem Leipziger Rundfunkchor in Israel dirigieren und machte dem dortigen Veranstalter den Chor schmackhaft?

Seite aus dem Programmheft der Konzerte des „Deutschen Reqieums“ und des „Schicksalsliedes“ von Brahms mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Kurt Masur
Dokument: Archiv Leipziger Rundfunkchor
Gemeinsam mit dem sehr guten Chor eines Kibbutz’ geben die Leipziger Sängerinnen und Sänger acht Konzerte im riesigen Frederic-Mann-Auditorium in Tel Aviv. Neben dem Deutschen Requiem steht das Schicksalslied von Brahms auf dem Programm. In der nordisraelischen Hafenstadt Haifa wird drei Mal gesungen.
Die DDR-Tourneeleitung sieht es nicht gern, dass sich die Chormitglieder frei im Land bewegen wollten. Deshalb setzt sich Kurt Masur dafür ein, dass der Chor wenigsten auf zwei organisierten Bustouren etwas vom Land sehen kann. So geht eine Fahrt nach Jerusalem und eine zweite bis nach Massada und zum Toten Meer – bezahlt vom Israel Philharmonic Orchestra!
Drei Jahre später, im Januar 1992 und schon als MDR Chor, nimmt Masur den Leipziger Rundfunkchor noch einmal mit nach Israel. Diesmal stehen der Mendelssohnsche Elias und Beethovens Missa solemnis auf dem Tourneeplan. In einer der sieben Missa-Aufführungen retten die Chortenöre nach einer Unkonzentriertheit Masurs den Einsatz des Et resurexist und verhindern auf diese Weise einen Schmiss.
Der „Politiker wider Willen“
Nachdem der Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig am 8. Oktober 1989 ein Richard-Strauss-Konzert anlässlich der Gewandhausfesttage erfolgreich bestritten hatten, steht für Montag, den 9. Oktober, wieder ein Friedensgebet mit anschließender Montagsdemonstration an. Mielkes Worte: „Jetzt ist Schluss mit der Humanität“ und die in die Leipziger Volkszeitung lancierte Meldung einer Kampfgruppenhundertschaft, die „konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand“, lassen für diesen Tag das Schlimmste befürchten. Dieser Situation sind sich auch sechs Leipziger Persönlichkeiten bewusst, unter ihnen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Ihr Appell an Sicherheitskräfte und Demonstranten, besonnen und gewaltlos zu bleiben, hat Erfolg. Etwa 70.000 Demonstranten umrunden erstmals vollständig den Innenstadtring, ohne dass es zu gewaltsamen Zusammenstößen kommt.
Auch für den Rundfunkchor Leipzig setzt sich Kurt Masur ein. Als die Existenz des Chores in den Jahren 1990/91 gefährdet ist, gibt er Mut und äußert gegenüber dem Chorvorstand: „Dann übernehme ich Euch eben ins Gewandhaus!“
Dazu muss es nicht kommen. Dennoch steht Kurt Masur Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre häufiger am Pult des Chores als Max Pommer, der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig. Im Festakt zum Ende der DDR dirigiert Masur im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt die 9. Sinfonie von Beethoven. Neben dem Rundfunkchor Leipzig und dem Gewandhausorchester sind auch der Rundfunkchor Berlin und die Thomaner beteiligt.
Reiche Ernte im geeinten Land

Gewandhauskapellmeister Kurt Masur gratuliert dem MDR-Intendant Udo Reiter zum Sendstart des Mitteldeutschen Rundfunks am 1. Januar 1992
© Foto: MDR-Hopf
Nachdem Kurt Masur, das Gewandhausorchester und der MDR Chor im festlichen Konzert zur Sendepremiere des Mitteldeutschen Rundfunks am 1. Januar 1992 Wagners Wach-auf!-Chor gemeinsam musiziert hatten, kommt es zu einem späten Höhepunkt in der Zusammenarbeit zwischen dem Dirigenten und dem Chor.
Immer wieder wird Beethovens 9. Sinfonie aufgeführt.
Auch das Deutsch Requiem und das Schicksalslied vom Brahms, Thieles Erdengesänge, Mendelssohns Paulus sowie Werke von Honegger, Baird, Strauss und Schostakowitsch stehen auf den Programmen. Beethovens Chorphantasie mit Menachem Pressler als Klavier-Solisten stellt die letzte gemeinsame CD-Produktion dar.
Nach dem Wechsel Masurs zu den New Yorker Philharmoniker erfolgt eine Einladung in die Vereinigten Staaten. Leider wird aus dieser Tournee nichts …
Abschied

„Die große Kurt Masur Nacht“
MDR-Fernsehen-Jubiläumssendung anlässlich des 80. Geburtstages von Kurt Masur am 15. Juni 2007
Galakonzert im Neuen Gewandhaus mit dem Gewandhausorchester und dem MDR Rundfunkchor unter Leitung von Kurt Masur
© Foto: MDR/Gentzel
Immer wieder waren es die Werke Mendelssohns, für deren Aufführungen Masur den Leipziger Rundfunkchor holte.
Als Masur nach der Elias-Aufführung am 18. September 2009 im Gewandhaus den Taktstock sinken ließ, ahnte so mancher, dass dies das letzte Konzert unter Leitung Masurs gewesen sein könnte.
Dass sich der grandiose Elias Thomas Hampson nach den Worten des Engels („Stehe auf!“) erst erhob, nachdem ihm Masur den Weckruf „O Herr“ stimmgewaltig zugerufen hatte, zeugte von der Wachheit des Dirigenten.
Hampson kommentierte nach dem Konzert lakonisch: „Ich war wohl in einer anderen Wüste.“
Es war Masurs Wunsch, dass auch der Leipziger Rundfunkchor in der Gala zu seinem 80. Geburtstag im Gewandhaus mitwirken möge. Vor laufender Kamera würdigte er die Beziehung zwischen dem Chor und ihm als eine mehr als 50 Jahre währende treue Freundschaft.
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