Paul Hindemiths „Moritat für das Radio ‚Sabinchen’“

 

Sabinchen-Etikett-for-webPaul Hindemith: „Moritat für das Radio ‚Sabinchen‘“
Auftragswerk: Berliner Funkstunde 1930
Mitschnitt-Torso der Ursendung: 22. Juni 1930
Sabinchen · Irene Eisinger (Sopran)
Schuster · Max Kuttner (Bariton)
Kind · Iris Witting
Erzähler · Agnes Schulz-Lichterfeld, Adelheid Marnette, Gerhard Witting, Erwin Hey
Sprecher · Otto Kronburger und Rose Lichtenstein
Orchester der Funk-Stunde · Dirigent: Maximilian Albrecht
Quelle: Paul-Hindemith-Institut Frankfurt

 

Paul Hindemith, um 1930

Paul Hindemith, um 1930

Hindemith, erfolgreicher Bratscher und bis 1923 Konzertmeister der Oper Frankfurt, erkennt frühzeitig die Bedeutung neuer Medien wie Schallplatte, Film und Rundfunk. Die Verbindung von Komposition mit den neuen technischen Möglichkeiten steht damit auch in den 1920er Jahren im Mittelpunkt von Hindemiths Schaffen. Wie Butting zählt auch Hindemith zu den führenden Köpfen, die sich mit dem Medium Radio beschäftigen. (Seine kammermusikalische „Anekdoten für Radio“ von 1925 sind eine der ersten Originalkompositionen für das neue Medium überhaupt.) Und auch er experimentiert unermüdlich an der Berliner Rundfunkversuchsstelle.

Eine Tagung ruft unter dem Motto „Neue Musik Berlin 1930“ dazu auf, die Entwicklung des musikalischen Hörspiels zu diskutieren. Hindemith, selbst auch dem Organisationsteam zugehörig – steuert mit „Sabinchen“ ein Werk als Diskussionsbeitrag bei.
Stoff ist die bekannte Moritat vom tugendhaften Sabinchen und dem mörderischen Schuster aus Treuenbrietzen, die in verschiedenen Versionen existiert und volkstümliche Verbreitung gefunden hat.

Der Text für dieses musikalische Hörspiel stammt vom Magdeburger Schriftsteller Robert Seitz (1891-1938), der über den Expressionismus den Weg nach Berlin gefunden hatte. Neben seiner Karriere als Lyriker und Feuilletonist zählt er zu den Pionieren des Hörfunks, schrieb Hörspiele und arbeitete neben Hindemith auch mit Werner Egk und Paul Dessau zusammen.
Für die Tagung „Neue Musik Berlin 1930“ konnte er als Textautor gewonnen werden. Ein Einführungstext zum „Sabinchen“, den Seitz für die Zeitschrift „Frauen- und Jugendfunk“ verfasste, erklärt den künstlerischen Ansatz:
„Für Menschen, die davon überzeugt sind, daß ‚Kunst’ immer in gewaltigen Stiefeln gewichtig einherzuschreiten hat, werden die Hörspiele inhaltlich eine Enttäuschung sein. Wir werden aber heute nach des Tages Last und Mühe so viel von tiefgründigen Büchern und problematischen Theaterstücken heimgesucht, daß es vielleicht einmal angenehm ist, sich wieder an Heiterkeit und fröhliches Spiel zu erinnern. Meiner Ansicht nach scheint dieser Weg auch im Sinne des Rundfunks und seiner vielen Hörer liegen zu müssen.“

Die Betonung des Unterhaltungswertes als wesentliches Element des neuen Genres zielt deutlich auf ein breitenwirksames Format, ohne dabei populistisch zu werden. Seitz und Hindemith geht es dabei um das Ausschöpfen der spezifisch radiophonen Möglichkeiten, im Gegensatz zu etablierten Gattungen. Paul Hindemith geht darauf im Programmheft der Uraufführung von 1930 explizit ein:
„Die Art, wie man bisher musikalische Hörspiele geschrieben hat, halte ich nicht für richtig. Sie sind entweder ein in seltensten Fällen künstlerischen Anforderungen genügendes Gemisch akustischer Tricks, bei denen die Musik die Sprechstimmen und Geräusche stört, oder sie sind so mit Musik versehen, dass kein Unterschied zwischen ihnen und einer Oper, einer Kantate oder irgendeinem Stück absoluter Musik besteht. Ich habe versucht, in dem Hörspiel ‚Sabinchen‘ die Musik als Grundlage alles akustischen Geschehens zu benützen. Die Musik bestimmt nicht nur den formalen Ablauf, aus ihr ergeben sich auch Rhythmus, Tonstärke und Farbe der jeweils benötigten sonstigen klanglichen Zutaten. Statt einer sinnlosen Aneinanderreihung akustischer Eindrücke soll dem Zuhörer eine seine künstlerischen Bedürfnisse befriedigende Komposition geboten werden, die mit den Mitteln der Mikrophonübertragung arbeitet und die Ausführung ohne sichtbaren Interpreten bewusst als Kunstmittel benutzt. Die allbekannte Moritat vom tugendhaften Sabinchen und dem Schuster aus Treuenbrietzen schien mir als Grundlage für einen solchen Versuch sehr geeignet.“

Die Moritat vom naiven Frauenzimmer Sabinchen, das vom Schuster aus Treuenbrietzen zunächst zum Diebstahl verführt wird und dem dann die Kehle aufgeschlitzt wird, findet bei Seitz und Hindemith eine ironisch gebrochene Handlungsfortführung in einer Kerkerszene. Dort nämlich erscheint dem verurteilten Schuster der Geist Sabinchens und klagt, dass nun keiner der beiden etwas davon gehabt hätte. Der Clou der Autoren besteht nun darin, dass sie die Verwandlung der alten Schauballade hin zu einem Funkspiel thematisieren und damit gleichzeitig auch satirisch brechen.
Zunächst, indem sie auf das bekannten Küchenlied verweisen (aus dem Hindemith übrigens sein musikalisches Material ableitet), dann aber die Geschichte in der Schaffung eines Hörspiels (!) münden lassen. Die Medialisierung des Stoffes, also zu Lied und zu Hörspiel, wird selbst zum Gegenstand des Werkes. Die Moritat schafft sich sozusagen in einer irrwitzigen Wendung aus sich selbst heraus. Man kann darin zweifelsohne eine Stellungnahme der Autoren zur Schöpferkraft des neuen Mediums Radio sehen, wenn das Radio seine Stoffe aus der überkommenen Kultur-Tradition bezieht. Als Aussage steht hier am Ende: das Radio schafft nicht originär Neues, sondern verarbeitet bereits Vorhandenes. Dies allerdings auf gänzlich neue Art und Weise.

Die Uraufführung von „Sabinchen“ anlässlich der Tagung „Neue Musik Berlin“ am 19. Juni 1930 scheitert an technischen Komplikationen. Erst die anschließende Rundfunkübertragung am 22. Juni kann schließlich das musikalische Hörspiel so vorstellen, wie es gedacht war. Von dieser Ursendung haben sich knapp 14 der 18 Minuten auf Rundfunk-Wachsmatritzen im Deutschen Rundfunkarchiv erhalten. Das Werk bleibt nach seiner Rundfunkausstrahlung jedoch ungespielt und gerät schon bald in Vergessenheit.

Für die Wiederaufführung in der Edition Rundfunkmusiken Vol. 3 haben wir uns für die historisch bedeutsame Instrumentation der Ursendung entschieden, die auch Hindemith und Seitz 1930 als Grundlage für ihre Diskussionen auf der Tagung „Neue Musik Berlin“ gedient hatte. Damit erklingt das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“ nach über 80 Jahren erstmals wieder in seiner Uraufführungs-Gestalt!

CD in Vorbereitung!