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Hagen Kunze, Steffen Lieberwirth (Hrsg.)

Der Thomanerchor Leipzig zwischen 1928 und 1950

Umbrüche: Erinnerungen und Dokumente

 

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EDITION THOMANERCHOR VOL. 1

 

Seiteninhalt

  Buchidee
  Inhaltsverzeichnis
  Wann und wo entstanden die frühesten Aufnahmen des Chores?
  Was wurde aufgenommen?  CD-Inhalt
  CD-Onlineshop und Hörbeispiele
  O-TON: Thomaskator  Karl Straube
  O-TON: Thomaskator Günter Ramin
  Besprechungen

 

 

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Karl Straube probt mit den Thomanern in der Thomasschule
© Foto aus dem Buch – Privatsammlung Stefan Altner-Aufnahme Ernst Hoenisch

 

Buchinhalt

Hagen Kunze, Steffen Lieberwirth (Hrsg.)

Der Thomanerchor Leipzig zwischen 1928 und 1950
Umbrüche: Erinnerungen und Dokumente

Die vorliegende Publikation erhebt keinesfalls den Anspruch einer allumfassenden Darstellung der Geschichte des Thomanerchores zwischen 1928 und 1950. Sie möchte vielmehr mit den Methoden der „oral history“ einen vielschichtigen Einblick in die Chorgeschichte einer bewegten Ära geben.
Erinnerungen und Dokumente – viele bisher unveröffentlicht – berichten von der Zeit zwischen dem Ende der Weimarer Republik, der Herrschaft des Nationalsozialismus und der SBZ- bzw. der frühen DDR-Periode.

1928 nahmen die Thomaner zum ersten Mal eine Schallplatte auf, 1950 wurden die Weichen für die Entwicklung der Thomasschule zur sozialistischen Bildungsstätte gestellt: 22 Jahre, in denen die Existenz des Chores einige Male auf dem Spiel stand. 22 Jahre, in denen die Thomaskantoren Karl Straube und Günther Ramin mit Geschick und Diplomatie die Vereinnahmung des Thomanerchores in zwei totalitären Diktaturen verhindern konnten.

Es ist eine überaus spannende Frage, wie sich eine Institution mit jahrhundertealter Geschichte diesen mehrfachen Umbrüchen innerhalb kürzester Zeit stellte.
Wie gelang es, diese Tradition in jener Zeit so zu bewahren, dass sie bis heute ungebrochen gepflegt werden kann?
Wie begegnete der Chor der antireligiösen Grundeinstellung, die beide totalitäre Diktaturen gleichermaßen kennzeichnete?
Und schließlich: Wie weit gingen die Kompromisse mit den Machthabern im Einzelnen, welche Rolle spielten die Doktrinen des Nationalsozialismus und des Kommunismus innerhalb der Mauern des Alumnats?

Die beiliegende CD versammelt die frühesten Tonaufnahmen des Thomanerchores aus den Jahren 1928 bis 1948, die teilweise für Rundfunkzwecke, teils zur Veröffentlichung auf Schallplatte bestimmt waren, wobei kriegsbedingt etliche Aufnahmen unveröffentlicht blieben und hier zum ersten Mal nachhörbar sind.

Verlag Kamprad
Umfang: zahlreiche Abbildungen überwiegend einfarbig, 256 Seiten CD-Beilage mit frühesten Schallaufnahmen des Thomanerchores seit 1928
Gebunden (Festeinband)
ISBN-13: 978-3-930550-96-8

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 Inhaltsverzeichnis

EDITORIAL:
·  Stefan Altner   4

EINFÜHRUNG:
·  Hagen Kunze: Tradition und Umbrüche   8  

ERINNERUNGEN:
Thomaskantoren   13
·  Karl Straube: Erfahrungsbericht 1931-1945   16
·  Erinnerungen an Günther Ramin   22
·  Traugott Timme: Karl Straube und Günther Ramin   32

Thomaner und Thomasser   43
·  Alexander Kuhr: Meine Gymnasialzeit 1923-1932   46
·  Ekkehard Tietze: Erinnerungen 1925-1950   50
·  Reiner Süß: Erinnerung an Otto Erich Lindner   56
·  Franz Pietzcker: Erinnerung an die Zeit der Evakuierung nach Grimma 1945   60

Thomasschulrektoren   67
·  Alfred Jentzsch: Thomasschule und Thomanerchor in der Zeit des Nationalsozialismus   70
·  Hellmuth Heinze: Die Thomasschule am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Jahre meines Rektorates 1945-1950   82

DOKUMENTE:
Bürgerliche Idylle – Thomana 1928 bis 1942   99
·  Karl Titel, Karl Straube: Werbungsschreiben für den Thomanerchor 1928   102
·  Karl Spieß: Brief an die Eltern [vor 1933]   106
·  Karl Spieß: Brief an Fritz Spieß 1935   108
·  Alfred Jentzsch: Brief an die Eltern der Alumnen 1937   110
·  Alumnatsordnung von 1940   112
·  Günther Ramin: Worte der Begrüßung anlässlich der ersten Chorprobe des neuen Thomaskantors   122
·  Gerhard Passolt: Bericht von der Chorreise 1940   126

Krieg und Leid – Thomana 1943 bis 1945   129
·  Dieter Oppen: Bericht über den Fliegerangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943, 4 Uhr   132
·  Dieter Oppen: Bericht über die Rettung des Alumnats am 4. Dezember 1943   134
·  “Seid froh, dass Ihr noch nicht an der Reihe seid!” Feldpostbriefe ehemaliger Thomaner 1942 bis 1944   136
·  Karl Straube: Kondolenzschreiben zum Tod von Karl Spieß   142
·  Bericht der Inspektoren über den Aufenthalt während der Evakuierung des Thomanerchores in Grimma   144
·  Bericht der Inspektoren über die Zeit vom militärischen Zusammenbruch bis zur Übersiedlung nach Leipzig und Elternbrief der Chorleitung   152

Rückbesinnung und Neuanfang – Thomana 1945 bis 1950   167
·  Brief der Chorleitung an das Amt für Handel und Versorgung   170
·  Fritz Spieß: Bericht von einer Chorreise 1947   172
·  Hans-Jürgen Bersch: Klassenrundbrief der Abiturklasse 1943 vom 1. März 1948   174
·  Karl Straube: Brief an Johanna Maria Spieß vom 31. August 1948   180
·  Bericht von der Überführung des Bach-Sarkophags   182

ZEITZEUGEN
·  Interview mit Gerhard Passolt   188
·  Interview mit Claus-Jürgen Wizisla   198

FRÜHESTE SCHALLAUFNAHMEN DES THOMANERCHORES
·  Steffen Lieberwirth: Der Thomanerchor im “naturnahen Klang”   208
·  Karl Straube und Günther Ramin mit dem Thomanerchor in frühesten Grammophon- und Rundfunkaufnahmen   214

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„Die Stimme seines Herrn“

Was für ein abenteuerliches Erlebnis muss das für die Knaben des Thomanerchores gewesen sein, als in der altehrwürdigen Thomaskirche auf ihrer Chorempore von Technikern in weißen Kitteln elektrische Kabelstränge gezogen werden. Die führen hin zu einem röhrenglühenden mannshohen Verstärkerschrank in einen, dafür viel zu kleinen abgeschlossenen Durchgang zur Empore oder aber in die gasbeleuchtete „Kantorbude“, in der sich sonst Karl Straube für den Auftritt umzog. Neben dem Notenpult von Thomaskantor Karl Straube vor den Chorstufen aber steht das eigentliche Wunderwerk einer modernen Zeit: Ein „elektrisches“ Mikrofon.

„Die Stimme seines Herrn“ verraten uns große Metallbuchstaben, die rundherum um die Mikrofonkapsel drapiert sind und von der Bedeutung des Unternehmens künden sollen. Sogar die Passanten auf der Straße bekommen das ungewöhnliche Geschehen in der Kirche mit. „Ruhe! Aufnahme!“ befehlen Schilder an den schweren und diesmal verschlossenen Eingangstüren zur Thomaskirche. Auffällig sind auch die vielen Last- und Personenkraftwagen neben der Thomaskirche. An und für sich wäre das nichts Auffälliges, trügen sie nicht alle Berliner Kennzeichen.

So, oder so ähnlich, wird es sich abgespielt haben, als im Frühjahr 1928 die ersten Schallplatten mit dem Thomanerchor aufgenommen werden. Dabei ist es nicht irgendein Schallplattenlabel, das sich für den Thomanerchor interessiert! Es ist die von Emil Berliner gegründete „Deutsche Grammophon Gesellschaft“, die in ihrem Katalog Künstlernamen wie die der Sänger Enrico Caruso, Heinrich Schlusnus, Helge Roswaenge oder jene der Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Hans Pfitzner, Richard Strauss sowie den des Dresdner Generalmusikdirektor Fritz Busch mit seiner Sächsischen Staatskapelle nennt. Die „Deutsche Grammophon“ darf von sich in diesen Jahren behaupten, federführend mit Aufnahmen deutscher Künstler zu sein.

Generalkatalog der “Deutschen Grammophongesellschaft” mit den frühesten Grammophon-Aufnahmen des Thomanerchores aus den Jahren 1928 und 1930

 

1928
Leipzig: Thomaskirche

Vor allem aber läutet das Jahr 1928 für die Schallplatte eine ganz besonders wichtige tontechnische Epoche ein: Massiv geworben wird jetzt mit Slogans wie „Der naturnahe Klang“ oder „Der Konzertsaal in ihr trautes Heim“.
Solche Werbesprüche haben damals schon ihre Berechtigung, denn die Erfindung der „elektrischen Aufnahme“ ist noch jung.
Welche Vorteile das neue elektrische Verfahren bietet, verrät uns eine brüchige und vergilbte „Phonographische Zeitschrift“, die sich als „Fachblatt für die gesamte Musik- und Sprechmaschinen-Industrie“ versteht.
Dort lesen wir: “Zunächst hört erst einmal die ´Drängelei´ vor dem [bis dahin üblichen und von einigen Schallplattenfirmen noch immer eingesetzten] Aufnahmetrichter auf; Wohltat für den Musiker und ein Vorteil für die freie Entfaltung des Tones jeden Instrumentes. Ohne Rücksicht auf den Trichter nehmen zu müssen, kann jetzt die Raumfrage nach den Erfordernissen der Musik gelöst werden; ja darüber hinaus kann die Aufnahme an jedem Ort gemacht werden […]. Die Lautstärke ist praktisch unbegrenzt, wodurch es möglich ist, nun nicht mehr mit der sogenannten `Grammophon-Besetzung`, sondern mit einer normalen, dem Original angepaßten zu musizieren. Weil man jedes Instrument, auch die weniger tragfähigen, tatsächlich ´draufbekommt´, erscheinen die Aufnahmen mit dem Mikrophon so außerordentlich plastisch und volltönend“.
Und weil die Wiedergabe damals als wirklichkeitsnah empfunden wird, wagen sich die Toningenieure der „Deutschen Grammophon“ erstmals auch an Choraufnahmen heran.
Dass nun damals, für eine der frühesten elektrischen Mikrofonaufnahmen, der Thomanerchor – als erster Knabenchor in der deutschen Schallplattengeschichte überhaupt – auserkoren wird, spricht nicht nur für dessen künstlerische Qualität, sondern auch für seinen internationalen Bekanntheitsgrad. Folgerichtig entscheidet sich das Schallplattenlabel bei seiner Erstveröffentlichung des Thomanerchores für Einspielungen von Bach-Stücken, die natürlich wegen der begrenzten Laufzeit von drei bis knapp vier Minuten pro Plattenseite nur kurz sein durften. [Track 1-4]


1930

Berlin: Deutsche Grammophon, Lützowstraße Studio 9

Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass sich die ersten drei Schellackplatten des Thomanerchores recht gut verkauft haben dürften, denn schon zwei Jahre später steht der Thomanerchor mit seinem Kantor Karl Straube wieder vor einem Mikrofon. Das aber steht diesmal inflationsbedingt Kostensparend in einem Tonstudio der Deutschen Grammophon in Berlin.
Dort entstehen zwei Schallplatten mit jeweils zwei Stücken, diesmal vorrangig weltlichen Charakters mit Stücken von Johann Hermann Schein und Johannes Brahms.  [Track 5-7]
 

1931
Leipzig: Grassi-Museum und Neues Gewandhaus

1931 wird der Chor zusammen mit dem Gewandhausorchester unter dem Namen „Bach-Choir“ zum europaweit gefeierten Medienstar. Die Mitteldeutsche Rundfunk AG MIRAG überträgt fünf Jahre lang jeden Sonntag ab 11.30 Uhr europaweit die zum jeweiligen Sonntag gehörende Bach-Kantate.
Die Zeitungen sprechen von der „größten gemeinsamen Rundfunk-Veranstaltung Europas“. Eine Sensation in der Rundfunklandschaft.
Obwohl nach 1933 vom Propagandaminister Joseph Goebbels, jenem „Oberbefehlshaber“ des „Großdeutschen Rundfunks“, der Leipziger Rundfunksender „gleichgeschaltet“ wird und er damit seine rundfunkpolitische Eigenständigkeit verliert, gelingt es Karl Straube, die Übertragung der Bach-Kantaten – wenn auch drastisch reduziert – bis zum Ende seiner Amtszeit 1939 zu erhalten. [Aufnahmen der Kantatensendungen sind in der Edition Gewandhausorchester Vol. 3 erschienen]


1940
Leipzig: Reichssender Leipzig, Sendestudio im Funkhaus Markt 8 und Neues Gewandhaus

Auch Günther Ramin, der Nachfolger Straubes im Amt des Thomaskantors erkennt von Anfang an die publizistische Rolle des Rundfunks.
Zwei Sendetermine hält der Reichssender Leipzig 1940 für die Thomaner bereit. Ein erster findet im März 1940 direkt am Sitz des Leipziger Senders, im Großen Sendesaal, Markt 8 hoch über Barthels Hof statt.
Das klangliche Ergebnis jedoch scheint nicht recht zufriedenstellend, ist der Chor für den beengten Sendesaal doch viel zu groß und gibt den trocken wirkenden Aufnahmen kein Raumgefühl. [Track 9+10]
Deshalb wählt man für eine spätere Aufnahme im Juni den Großen Concertsaal des Ersten Neuen Gewandhauses. [Track 11]
Anders als bei Schallplattenaufnahmen laufen bei den Rundfunkaufnahmen zwei mechanisch durch ablaufende Gewichte angetriebene Plattenschneider mit. Diese gravieren spanabhebend das gesendete Tonsignal in zuvor erwärmte Wachsplatten hinein. Jene Plattenschneider laufen von innen nach außen mit einer Geschwindigkeit von 76 Umdrehungen pro Minute. →   Weiterführende Informationen zur Arbeitsweise der Rundfunk-Plattenschneider und früher Aufnahmetechnologien des Rundfunks in der Edition Gewandhausorchester Vol. 1. [VKJK 1109]
Noch ist das Tonband nicht erfunden und im Gegensatz zur schon bald kommenden Technik lassen sich die Wachsplattenaufnahmen nicht schnitttechnisch Nachbearbeiten.
Die Rundfunkplatten dienen nur Sendezwecken sowie dem Programmaustausch und sind wegen ihrer speziellen Laufrichtung auch gar nicht für den Handel bestimmt.

 

1940
Berlin: Deutsche Grammophon, Alte Jakobstraße – Neue Aufnahmestudios

Für den Thomanerchor interessiert sich nun schon zum dritten Mal die „Deutsche Grammophon Gesellschaft“ und lässt den Chor im Mai 1940 wieder in ihr Berliner Studio kommen.
Besonders empfehlende Worte findet der Autor der Hauszeitschrift der Deutschen Grammophon für die Aufnahme des „Heideröslein“:
Diese Platte, auf der einige unserer schönen deutsche Volksweisen von dem berühmten Thomaner-Chor gesungen werden, darf als Perle unseres großen und wertvollen Repertoires bezeichnet werden. Die auf höchster Stufe stehende Chorkultur der Thomaner wird auf dieser Platte deutlich.
Für die hier vorgelegte „Edition Thomanerchor“ wurden eigens die für Günther Ramin persönlich hergestellten Schallack-Anpressungen vom Deutschen Rundfunkarchiv überspielt. Es handelt sich dabei um Pressungen mit weißem Etikett und handschriftlichen Eintragungen. Reguläre Katalogveröffentlichungen dieser Aufnahmen können derzeit nur für einige Titel dieser Aufnahmesitzung nachgewiesen werden. [Beispielsweise „Heideröslein“]
Möglicherweise sind kriegsbedingt einige Titel dieser Aufnahmestaffel nicht mehr in den regulären Handel gekommen.  [Track 12-14]
Auf einem Informationsblatt für die Kunden von Schallplattenhändlern erfahren wir die angeordneten „Durchführungsbestimmungen zum Kauf von Schallplatten Kriegsbedingungen“:
Im Kriege muss mehr noch als vorher darauf geachtet werden, dass Rohstoffe nach Möglichkeit durch Altmaterial ersetzt werden. […] Jede alte Platte, die wieder der Fabrikation zugeführt wird, kann zur Herstellung einer neuen Platte verwendet werden und hilft uns damit, mit den vorhandenen Rohstoffmengen längere Zeit auszukommen. Der Teil der Platte, auf dem das Etikett klebt, wird herausgestanzt, damit kein Papier in die Masse gerät. Dann wird die alte Platte in einem langen Arbeitsprozeß unter Hinzufügung neuer Ersatzstoffe zu einer Masse verarbeitet, aus der die neue Platte entsteht. Sie werden jetzt verstehen, warum Ihnen der Händler beim Kauf einer neuen Platte eine alte abverlangen muß; wenn er das nicht täte, würden Sie nämlich bald keine Platten mehr bekommen können. Sie werden sich sicher gern von Ihren alten Schlagerplatten oder abgespielten Platten trennen, wenn Sie wissen, dass jede Platte mithilft, um ihnen den Genuß neuer, schöner Platten mit wertvoller Musik zu verschaffen.“
Unter der Verwendung minderwertigen Pressmaterials litt zwangsläufig die Tonqualität der Schallplatten stark. Schmerzlicher jedoch ist der Gedanke, wie viele wertvolle ältere Aufnahmen durch die Zwangsabgabe für immer aus unserem Gedächtnis verschwunden bleiben.

 

1944
Leipzig: Thomaskirche

Die Leipziger Innenstadt ist durch Bomberverbände schon schwer zerstört. Von den einstigen prächtigen Musiktempeln Oper und Gewandhaus existieren nur noch deren rußgeschwärzte Fassaden. Die Thomaner, längst nach Grimma in Sicherheit gebracht, kommen dennoch Woche für Woche eigens zur Kirchenmusik nach Leipzig angereist. So auch an diesem trüben Novembertag 1944, als der Reichssender Berlin das „Magnificat“ live für den „Großdeutschen Rundfunk“ übertragen will. Niemand kann wissen, ob nicht wieder ein Fliegeralarm das Konzert unterbrechen würde. Oder ob alle beteiligten Gewandhausmusiker und Solisten rechtzeitig in der ebenfalls durch Bombensplitter beschädigten Kirche eintreffen würden. Ob überhaupt Alle kommen würden?
Es bewegen und beschäftigen uns Fragen über Fragen: Können wir Nachgeborenen uns wirklich in die noch jungen Seelen des Thomanerchores hineinversetzen? Oder in die Gedanken und Empfindungen der Mitwirkenden, die der Motettenbesucher in der Kirche oder jene der Hörer am heimischen Rundfunkapparat?
Aber wir können wohl erahnen, wie viel Bachs Musik ihnen bedeutet und geschenkt haben wird.
[Die Rundfunkaufzeichnung des „Magnificats“ wird in der „Edition Gewandhausorchester“ veröffentlicht]

 

1948
Leipzig:
Mitteldeutscher Rundfunk, Sender Leipzig, Sendesaal im Funkhaus Springerstraße und Thomaskirche

Drei Jahre nach dem Zusammenbruch des “Dritten Reiches” treten die Thomaner wieder vor ein Mikrofon. Das steht nun – quasi als Zeichen einer neuen Zeit im neu erbauten Sendesaal des Senders Leipzig in der Leipziger Springerstraße. Hier entstehen im Juli 1948 nun erstmals Tonbandaufnahmen vom Thomanerchor.  [Track 15-20]
„Tonschreiber“ nennt man die schwergewichtigen Maschinen, die es immerhin zu einer Aufnahmedauer von etwa fünfzehn Minuten pro Band bringen.
Interessant ist der Name insofern auch, weil er uns damit seine Aufnahmetechnologie erklärt, die nun elektromagnetische Signale auf ein ablaufendes Tonband schreibt und damit die aufwändigen mechanisch rillen schneidenden Tonschneider ablöst. Auch klangtechnisch und dynamisch sind die Bandmaschinen mit ihrer damaligen Geschwindigkeit von 77 cm pro Sekunde der Schallplatte überlegen. Vor allem aber lassen sich nun mittels mehrerer dieser seinerzeit modernsten Aufnahme- und Wiedergabeapparate auch längere Stücke oder ganze Rundfunk-Konzertübertragungen schnittlos aufzeichnen. Und so entsteht 1950 – erstmals wieder nach 22 Jahren – eine Aufnahme in der traditionsreichen Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs und des Thomanerchores. Aufgenommen “in der Leipziger Thomaskirche”, so die Vermerke auf den alten Karteikarten. [Track 21]

Steffen Lieberwirth

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CD-Inhalt

 

Der Thomanerchor „im naturnahen Klang“!

Karl Straube und Günther Ramin mit dem Thomanerchor Leipzig
In frühesten Grammophon- und Rundfunkaufnahmen

1928
Der Thomanerchor singt unter der Leitung von Karl Straube
Die frühesten nachweisbaren Schall-Aufnahmen einer ersten Aufnahmestaffel des Thomanerchores in der Leipziger Thomaskirche für die Deutsche Grammophon Gesellschaft „Die Stimme seines Herrn“:

Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Text von Bartholomäus Crasselius (1667-1724)
1  Dir, dir Jehova will ich singen  mit einem improvisierten Orgelsolo als Vorspiel  03:23
Aus: Vierstimmige Choralgesänge (Sammlung Johann Philipp Kirnberger / Carl Philipp Emanuel Bach), 1733
Orgel: Karl Straube
DGG 66708 Matritzen-Nr.: 730bm 2

Johann Sebastian Bach
2  Alles was Odem hat   02:45
Schlußfuge aus der Motette: “Singet dem Herrn ein neues Lied”
(Motette für zwei vierstimmige Chöre), 1726/1727
DGG 66708 Matritzen-Nr.: 731 1/2bm 3

Johann Sebastian Bach
3  Der aber die Herzen forschet  03:04
Fuge aus der Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“,  für zwei Chöre), 1729
DGG 66706 Matritzen-Nr.: 728 1/2bm 4

Johann Sebastian Bach
4  Du heilige Brunst, süßer Trost   02:47
Schlußchoral aus der Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“, für zwei Chöre), 1729
Die Motette wurde für die Trauerfeier des Rektors der Thomasschule Johann Heinrich Ernesti komponiert.
DGG 66706 Matritzen-Nr.: 729 1/2bm 5

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1930
Die Schellack-Platten einer zweiten Aufnahmestaffel des Thomanerchores im Berliner Aufnahmestudio der „Deutschen Grammophon Gesellschaft“

Johann Hermann Schein (1586-1630)
5  Jelängerjelieber und Vergißmeinnicht, 1624  03:05
DGG 90159 Matritzen-Nr.: 2386 ½ BH Label-Eintrag: Mechan. Copt 1930 , Schellack 25cm

Johann Hermann Schein
6  Die Macht der Phyllis   02:06
Für zwei Soprane, Alt, Tenor und Baß, 1624
DGG 90159 Matritzen-Nr.: 2385 BH I Label-Eintrag: Mechan. Copt 1930 , Schellack 25cm 

Johannes Brahms (1833-1897)
Chorsatz für vierstimmigen Chor und Vorsänger von Karl Straube
7  In stiller Nacht  03:07
Aus: 49 Deutsche Volkslieder, WoO 33 Bestell-Nr.: DGG 90158 Matritzen-Nr: 2387 1/2 bh I 

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1948  O-Ton
Der Thomaskantor Karl Straube als Studiogast in einer Sendung des Mitteldeutschen Rundfunks, Sender Leipzig, am 6. Januar 1948:

8 „Prof. Dr. Karl Straube anlässlich seines 75. Geburtstages“   11:15
Aufnahmeort: Mitteldeutscher Rundfunk, Sender Leipzig, Funkhaus Springerstraße
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 76,2 cm/s

 

1940
Der Thomanerchor singt unter der Leitung von Günther Ramin
Rundfunk-Aufnahmen des Thomanerchores vom 18. März 1940 im Sendesaal des Reichssenders Leipzig, Markt 8

Robert Schumann (1810-1856)
Text von Ludwig Uhland (1787-1862)
9  Das Schifflein, op. 146,5 (für gemischten Chor, Horn und Flöte)   03:34
Aus: Romanzen und Balladen, Heft 4, op. 146, 1849-1851
Solisten:
Ein nicht namentlich genannter Thomaner, Knabensopran
Rudolf Lehmann, Horn
Erich List, Flöte
Aufnahmeort: Reichssender Leipzig, Markt 8, Sende-Raum II
Originaltonträger: Rundfunk-Schellackplatte 25cm, von innen nach außen laufend 78 Umdrehungen/Min Label handschriftlich mit der Aufschrift „Schallaufnahme des Deutschen Rundfunks“

Baldissera Donato (1530-1603)
Textnachdichtung von Peter Cornelius (1824-1874)
Chorsatz von Franz Wüllner (1832-1902)
10  Wenn wir hinausziehen . Villanella alla Napolitane, 1556    03:06
Aufnahmeort: Reichssender Leipzig, Markt 8, Sende-Raum II
Originaltonträger: Rundfunk-Schellackplatte 25cm, von innen nach außen laufend 78 Umdrehungen/Minute
Label handschriftlich mit der Aufschrift „Großdeutscher Rundfunk“  

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1940
Rundfunk-Aufnahme des Thomanerchores vom 26. Juni 1940 im Großen Concertsaal des Neuen Gewandhauses durch den Reichssender Leipzig

Anonymus
Chorsatz von Hans Leo Haßler (1564-1612)
11  All mein Gedanken, die ich hab    02:25
Aufnahmeort: Großer Concertsaal des Neuen Gewandhauses zu Leipzig
Originaltonträger: Rundfunk-Schellackplatte 25cm, von innen nach außen laufend

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1940
Schallplatten-Aufnahmen des Thomanerchores vom 6. Mai 1940 im Berliner Studio 9 der „Deutschen Grammophon Gesellschaft „Die Stimme seines Herrn“

Johann Sebastian Bach
Text von Valentin Ernst Löscher (1673-1749)
Chorsatz von Franz Wüllner (1832-1902)
12  Kommt, Seelen, dieser Tag   01:45
bearbeitet für vierstimmigen Chor a cappella
Aus: Choräle und geistliche Lieder aus dem „Musicalischen Gesang-Buch“ von Georg Christian Schemelli, 1736
Originaltonträger: Musterplatte ohne Etikett von Günther Ramin (Schellack 25cm gebrochen)
Herkunft Alexander Negrin, Wien – Sammlung Dieter Ramin 

Johann Friedrich Reichardt (1752-1814)
Chorsatz von Walter Rein (1893-1955)
Textdichter unbekannt
13  Wach auf, meins Herzens Schöne 1778   01:19
Originaltonträger: Musterplatte ohne Etikett von Günther Ramin (Schellack 25cm)
Herkunft Alexander Negrin, Wien – Sammlung Dieter Ramin 18

Heinrich Werner (1800-1833)
Chorsatz von Engelbert Humperdinck (1854-1921)
Text von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
14 Heidenröslein   02:28
für Chor a cappella
Originaltonträger: Musterplatte ohne Etikett von Günther Ramin (Schellack 25cm)
Herkunft Alexander Negrin, Wien – Sammlung Dieter Ramin

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1948

Erste Nachkriegs-Aufnahmen des Thomanerchores vom 9. Juli 1948 aus dem Sendesaal des Mitteldeutschen Rundfunks – Sender Leipzig in der Springerstraße 19

Johannes Brahms (1833-1897)
Text von Achim von Arnim (1781-1831)
15  O süßer Mai   02:28

Johannes Brahms
Text von Siegfried Kapper (1821-1877)
16  Der Falke    02:37
Aus: Sechs Lieder und Romanzen op. 93a für vierstimmigen gemischten Chor
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 76,2 cm/s
Künstlerischer Aufnahmeleiter: Pasold

Antonín Dvorák (1841-1904)
Text von Vitezslav Hálek (1835-1874)
17  Im Haine hört das Abendläuten . Vecerni les rozvázaly zvonky   06:49

18  Es zog manch Lied . Napadly písne vdusí mou   02:59
für Chor a cappella
Aus: In der Natur . V prirode op. 63, B 126
Liederzyklus für Chor a cappella, 1882
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 76,2 cm/s
Künstlerischer Aufnahmeleiter:Pasold 23

Johannes Brahms (1833-1897)
Chorsatz von Karl Straube (1873-1950)
Text von Anton Wilhelm von Florentin (1803-1869)
19  Sandmännchen   02:57
Aus: Volks-Kinderlieder
Gewidmet den Kindern von Clara Wieck und Robert Schumann
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 76,2 cm/s Künstlerischer Aufnahmeleiter: Pasold 24 

Anonymus
Chorsatz von Günther Ramin (1858-1956)
20  Alta trinita beata    04:25
Aufnahmeort: Mitteldeutscher Rundfunk, Sender Leipzig, Funkhaus Springerstraße – Sendesaal
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 76,2 cm/s nicht erhalten

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1950

Rundfunk-Übertragungen des Thomanerchores vom 1. Juli 1950 aus der Thomaskirche zu Leipzig durch den Mitteldeutschen Rundfunk, Sender Leipzig

Johann Sebastian Bach
21  Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten   05:26
Aus der Kantate “Jesu, der du meine Seele” BWV 78
Kantate zum 14. Sonntag nach Trinitatis für Soli, Chor und Orchester, 1724
Karl Richter, Cembalo
Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 77,1 cm/s
Künstlerischer Aufnahmeleiter: Gerhard Grellmann

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1950  O-Ton
Der Thomaskantor Günther Ramin als Studiogast in einer Sendung des Mitteldeutschen Rundfunks, Sender Leipzig, vermutlich anlässlich des Bachfestes 1950

22  Günther Ramin zur Bedeutung des Werkes von Johann Sebastian Bach  03:45
Aufnahmejahr: nicht nachgewiesen, vermutlich 1950
Aufnahmeort: Mitteldeutscher Rundfunk, Sender Leipzig, Funkhaus Springerstraße
Originaltonträger: Rundfunk-Magnetband 77,1 cm/s

 

Tonträger-Quellen dieser CD:

Track 1-7: Deutsche Grammophon Gesellschaft DGG-Originalmatrizen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt
Track 9-11: Rundfunkplatten des Reichssenders Leipzig aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt
Track 12-14: Musterplatten ohne Etikett von Günther Ramin – Sammlung Dieter Ramin – aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt
Track 8, 15-22: Magnetbandaufnahmen des Mitteldeutschen Rundfunks, Sender Leipzig aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam Babelsberg

Zudem sind lt. Generalkatalog der “Deutschen Grammophongesellschaft” aus den Jahren 1928 und 1930 [außer den auf dieser CD vorliegenden] nachstehende Aufnahmen des Thomanerchores nachgewiesen und existieren als DGG-Originalmatritzen im Bestand der Musikabteilung des Sächsischen Staats- Landes- und Universitätsbibliothek Dresden:

Anonymus
Ein Blümlein auserlesen
Aufnahmeort: Berlin
Originaltonträger: Grammophon-Originalmatrizen
DGG 66707, Matritzen-Nummer: 2386 1/2bhI 6 (( 6 kommt nach )) Niderländisches Volkslied Jan Hinnerk up de Lammerstraat Bestell-Nr.: DGG 66707, Matritzen-Nummer xxxxxxxxxxxx

Johannes Brahms (1833-1897)
Chorsatz von Karl Straube  (1873-1950)
Text von Anton Wilhelm von Florentin (1803-1869)
Sandmännchen
DGG 90158 Matritzen-Nr.: 2388 BH I

Der Vollständigkeit halber sei hier auch eine Aufnahme aufgelistet, die uns aus tontechnischen Gründen leider als nicht veröffentlichungswürdig erschien:

Johann Sebastian Bach
Text von Paul Thymich (1656-1994)
Drum schließ ich mich in deine Hände
(vierstimmiger Kantionalsatz)
Aus: “Komm, Jesu, komm, mein Leib ist müde”, BWV 229
Motette für zwei vierstimmige Chöre, 1731
Originaltonträger: Musterplatte ohne Etikett von Günther Ramin (Schellack 25cm gebrochen)
Herkunft Alexander Negrin, Wien – Sammlung Dieter Ramin 17

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