Ein »bedeutendes Dresdner Ereignis«
Die Uraufführung der Urfassung von Bruckners 3. Symphonie 1946

Programmzettel und Eintrittskarte (oben rechts) der Uraufführung der dritten Symphonie im Kurhaus Bühlau
Dokument: Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater
Keilberth als Uraufführungsdirigent
Dresden am Jahresende 1946. Die Stadt lag in Trümmern, es herrschte eisige Kälte.
Und doch gab es in dieser schwierigen Zeit einen Lichtblick – zumindest einen künstlerischen: Der junge Generalmusikdirektor Joseph Keilberth, der 1945 aus Prag kommend in Dresden abgefangen worden war, sorgte am Pult der Staatskapelle für bewegende musikalische Ereignisse.
Das Orchester hatte den Krieg und die Bombardierung Dresdens durch rechtzeitige Evakuierung in die Staatsbäder Brambach und Elster personell nahezu unbeschadet überstanden; zerstört indessen waren sämtliche Spielstätten, sodass Keilberth mit seinen Musikern und dem Opernensemble auf das Kurhaus Bühlau am Rande der Stadt und das »Kleine Haus« der Staatstheater in der Inneren Neustadt ausweichen musste. Erst 1948 konnte er mit der Staatskapelle zu deren 400-jährigem Bestehen in das wiederaufgebaute »Große Haus« in unmittelbarer Nähe zum Dresdner Zwinger einziehen.

Joseph Keilberth am Pult der Staatskapelle Dresden.
Kreidezeichnung von Elsa Sturm-Lindner, um 1946
Dokument: Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater Dresden
Keilberth setzte in den leider nur fünf Jahren, die er bis 1950 in Dresden blieb, im Opern- und Konzertbereich neue und wichtige Impulse. In unermüdlicher Arbeit – den Großteil der Aufführungen leitete er selbst – baute er das Opernrepertoire sukzessive wieder auf (im Rahmen der Edition Staatskapelle Dresden, Volume 6, sind seine »Rusalka« und im Rahmen der Semperoper Edition, Volumes 1 und 2, eine musikalische Dokumentation der Nachkriegsjahre sowie der »Fidelio« aus dem Jahr 1948 erschienen). In den Konzerten der Staatskapelle führte er die lange Strauss-Tradition des Orchesters fort und stellte mit Komponisten wie Mahler, Hindemith, Bartók, Strawinsky und Schostakowitsch eine Musik vor, die nicht nur neu, sondern zuvor »tausendjährig« verboten war. Neben den Symphonien Beethovens, darunter immer wieder die Neunte, dirigierte er – möglicherweise als Erster! – auch sämtliche Symphonien Bruckners in den erst wenige Jahre zuvor erschienenen »Originalfassungen«.
Besonders denkwürdig ist in dieser Hinsicht der 1. Dezember 1946: An diesem Tag leitete Keilberth am Pult der Staatskapelle (die damals kurzzeitig »Orchester der Landeshauptstadt Dresden« hieß) im Kurhaus Bühlau die Uraufführung der Urfassung der dritten Symphonie. Damit kam Dresden, nach der Uraufführung der Originalfassung der sechsten Symphonie durch die Dresdner Philharmonie unter Paul van Kempen im Jahr 1935, ein weiteres Mal der Rang einer Bruckner-Uraufführungsstätte zu.
Ein glücklicher Zufall – die Uraufführung in Dresden
Im Rahmen der ersten kritischen Gesamtausgabe von Anton Bruckners Werken durch den österreichischen Musikwissenschaftler Robert Haas waren in den 1930er Jahren viele der »Originalfassungen« – d. h. von fremden Zusätzen weitgehend befreite Fassungen – der Symphonien Bruckners zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Die Uraufführungen dieser heute weitgehend verbindlichen Fassungen waren von den Nationalsozialisten häufig nach Gunst und Laune vergeben worden (die Staatskapelle Dresden spielte unter Karl Böhm 1936 und 1937 die Originalfassungen der vierten und fünften Symphonie erstmals überhaupt auf Schellackplatten ein, wiederveröffentlicht im Rahmen der Edition Staatskapelle Dresden als Volume 32).
Auch die Urfassung der dritten Symphonie aus dem Jahr 1873 wurde von Haas vollständig revidiert und sollte 1944 in Druck gehen – was jedoch durch die Kriegsereignisse verhindert wurde:
Die Platten waren beim Musikwissenschaftlichen Verlag in Leipzig bereits gestochen, wurden aber letztlich zerstört. Immerhin hatte man zuvor einige Grünabzüge gemacht, die den Krieg überstanden hatten. So konnte Keilberth im Rahmen seines (mit Ausnahme der »Nullten«) kompletten Bruckner-Zyklus in Dresden die Uraufführung der Symphonie ansetzen. Diese hatte der Generalmusikdirektor wahrscheinlich nicht einmal beabsichtigt – sie ergab sich unverhofft und wurde aus den in Dresden erhaltenen Abzugskopien gespielt.
Gerade die Dritte aber hatte bei der Staatskapelle eine besondere Tradition: Es war die erste Bruckner-Symphonie, die die damalige »Königliche musikalische Kapelle« unter Generalmusikdirektor Ernst von Schuch 1885 (in der zweiten Fassung von 1877) in der Semperoper aufgeführt hatte; sie bildete damit den Grundstein für die bis heute anhaltende Pflege der Werke Bruckners in den Konzerten des Orchesters. Darüber hinaus hatte Bruckner die Urfassung der Symphonie – unterstrichen durch zahlreiche Wagner-Zitate, die er in den späteren Fassungen größtenteils eliminierte – dem Bayreuther »Meister aller Meister« gewidmet, der in den 1840er Jahren als Königlicher Kapellmeister an der Spitze der Dresdner Kapelle gestanden hatte.

Konzertante Opernaufführung unter der Leitung von Joseph Keilberth in der Interimsspielstätte im Kurhaus Bühlau, 1945.
Die Kapelle sitzt wegen des fehlenden Orchestergrabens auf gleicher Höhe wie das Publikum.
Foto: SLUB-Deutsche Fotothek Dresden
Erste Reaktionen und späte Drucklegung
Die verspätete Uraufführung – genau 50 Jahre nach Bruckners Tod – war also in mehrfacher Hinsicht ein »bedeutendes Ereignis«, wie Keilberth schon über die öffentliche Generalprobe am 30. November 1946 in seinem Dirigiertagebuch notierte. Über das Konzert am Folgetag heißt es dort: »Sehr schöne Auff[ührung], manche Erleuchtung gehabt. Kapelle spielt 1a, grosse Resonanz.«
Der Erfolg war beachtlich, auch wenn nicht alle Kritiker Gefallen an der Fassung fanden. So beurteilte der Rezensent des Sächsischen Tageblatts die Urfassung als einen »unvollkommenen Beitrag des noch mit dem Material und dem Handwerk ringenden Meisters des fünften Lebensjahrzehnts … Das Monumentale seiner Musik scheint hier ins Maßlose gesteigert; das kontrapunktische Leben entbehrt noch der Ausarbeitung und Dichte … Wenn Bruckner in dieser Fassung wiederholt sein großes Vorbild Richard Wagner zitiert, so ist das bei aller herzerquickenden Naivität seines Wesens doch schwer zu verdauen.«

Generalmusikdirektor Joseph Keilberth.
Kreidezeichnung der Dresdner Pressezeichnerin Elsa Sturm-Lindner, um 1946
Dokument: Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater Dresden
Einig war man sich jedoch über die Leistung Keilberths und des Orchesters:
»Es wurde von der Kapelle prächtig musiziert; die Größe des Vorwurfs und der Musik entsprach in allen Teilen der Wiedergabe«, hieß es in derselben Rezension aus dem Sächsischen Tageblatt. Und der Kritiker der Zeitung »Die Union« zog folgendes Fazit: »Jedenfalls kam eine Aufführung zustande, die der Ehre, das Privileg dieser Uraufführung für Dresden erworben zu haben, voll entsprach … Der Kapelle und ihrem Leiter wurden am Schluß der anderthalbstündigen Aufführung, die auch von der tausendköpfigen Zuhörerschaft stärkstes inneres Mitgehen verlangte, die verdienten Ovationen dargebracht. Diese Uraufführung wird in die Geschichte der Brucknerbewegung eingehen.«
In die Geschichte ist diese Aufführung tatsächlich eingegangen – obwohl die Urfassung der Dritten zunächst für viele Jahre wieder in Vergessenheit geriet. Erst 1977 erschien sie, im Rahmen der kritischen Neuausgabe der Werke Bruckners durch Leopold Nowak, erstmals im Druck und wurde danach allmählich entdeckt: als Alternative zu den erheblich eingekürzten, aber gängigen Fassungen von 1877 und 1889.
Vor allem in den letzten Jahren ist das Interesse an der ursprünglichen »Wagner-Symphonie« stark gestiegen, was Aufnahmen u. a. unter Eliahu Inbal (1983), Roger Norrington (1995 und 2007), Kent Nagano (2003), Jonathan Nott (2004), Simone Young (2007) und Herbert Blomstedt (2013) belegen. Blomstedt wählte die Urfassung 1998 für seinen Antritt als Chef des Gewandhausorchesters und gastierte mit den Leipzigern und diesem Werk wenig später auch in der Semperoper. Mit diesem Gastkonzert im Rahmen der Feierlichkeiten zum 450-jährigen Bestehen der Sächsischen Staatskapelle erwiesen der einstige Dresdner Chef und sein damaliges neues Orchester dem benachbarten »Uraufführungsorchester« ihre Reverenz.
Die erste Wiederaufführung der Urfassung in den Konzerten der Staatskapelle fand erst zehn Jahre später statt, zum 460. Kapellgeburtstag 2008 unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. Sie ist auf dem vorliegenden Live-Mitschnitt festgehalten.
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg der Staatskapelle Dresden
© Text aus dem Booklet
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Die EDITION STAATSKAPELLE DRESDEN ist eine gemeinschaftliche Dokumentationsreihe
der Sächsischen Staatskapelle Dresden, des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR KULTUR)
und des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) in Zusammenarbeit mit der
Sächsischen Landesbibliothek. Staats und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB).
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