Inbegriff und Urbild:
Zur Urfassung von Anton Bruckners »Wagner-Symphonie«
Anton Bruckner und seine Dritte – wahrlich ein ganz spezielles Kapitel in der Lebens- und Schaffensgeschichte des »Wiener Meisters«. Wie keine andere Symphonie veranlasste sie ihn fast seine gesamte kompositorische Laufbahn hindurch immer wieder zur Auseinandersetzung, keine seiner Symphonien ist in derart vielen Fassungen, Druckversionen und bisweilen sogar »Zwischenstadien« überliefert wie diese. Nicht zu vergessen, dass sie es war, die Bruckner eine öffentliche Demütigung ersten Ranges bescherte.
Die Rede ist von der Wiener Uraufführung der Symphonie im Dezember 1877, wobei es sich freilich nicht um die Aufführung der hier vorliegenden Erstfassung aus den Jahren 1872/1873 handelte, sondern um
eine bereits tief greifend überarbeitete Version: die kurz zuvor vollendete Zweitfassung. Schon bis zu diesem Zeitpunkt war das Werk dreimal bei Orchesterproben abgelehnt worden. Die letztlich dennoch durchgesetzte, lang ersehnte Premiere der Symphonie hätte dann eigentlich der Dirigent und Bruckner-Fürsprecher Johann Herbeck leiten sollen, allerdings verstarb dieser wenige Wochen vor dem großen Ereignis. Bruckner sprang für ihn am Dirigentenpult ein, was die Unternehmung jedoch auch nicht mehr retten konnte, im Gegenteil.
Das Desaster, vielleicht sogar voraussehbar, ist vielfach – und lebhaft – beschrieben worden. Ein solcher Misserfolg konnte natürlich an einer so selbstkritischen Persönlichkeit wie Bruckner nicht spurlos vorübergehen. Vielmehr dürfte er sich in seiner Auffassung bestärkt gesehen haben, das eigene Schaffen grundlegend hinterfragen zu müssen, gewissermaßen auf den Prüfstand zu stellen. Bruckner war ein Meister der kompositorischen Selbstbeobachtung und der Eigenanalyse, ausgestattet mit einem ungeheuren Willen zur Perfektion, der ihn zeitlebens antrieb. Es sollte einige Jahre dauern, bis er seine nächste neue Symphonie, die Sechste, anging. Doch war Bruckner in dieser Phase keineswegs unproduktiv, er setzte die Reihe der Umarbeitungen seiner Symphonien fort, nicht zuletzt widmete er sich der Arbeit an seinem Streichquintett, seinem einzigen großen kammermusikalischen Werk – was unweigerlich die Vermutung nährt, Bruckner habe sich ein Stück weit in diese für ihn eher abseitige Sphäre geflüchtet, um noch einmal die eigenen Kräfte zu bündeln, »durchzuatmen« angesichts der Aufgaben, die ihn erwarteten.

Bruckner in Bayreuth:
Bei »Schnupftabak und Bier« nahm Richard Wagner die Widmung der dritten Symphonie an.
Schattenbild von Otto Böhler, Wien um 1890
Trotz allem aber, trotz aller Widrigkeiten, die sein »Sorgenkind«, die Dritte, ihm bescherte, dürfte Bruckner die besondere Bedeutung, die gerade diese Symphonie für ihn selbst und sein Schaffen besaß, bewusst gewesen sein.
Nur so lässt sich wohl das stetige und über Jahrzehnte anhaltende »Feilen« an ihr erklären. Denn schließlich hatte er mit dieser dritten Symphonie – und das heißt vor allem: mit der Erstfassung des Werkes – verwirklicht, worauf seine Kräfte und Anstrengungen mit aller Macht gerichtet waren: eine wahrhaft große Symphonie, durch und durch und bis ins kleinste Detail getragen von der Idee des Monumentalen.
Bruckner hatte, so kann man vielleicht sagen, endgültig »sein« ureigenes symphonisches Konzept gefunden, das auch späterhin für sein Komponieren richtungsweisend bleiben sollte – so eigenständig und »original«, so genial erdacht und Bruckner-typisch die vorausgehenden Symphonien, die Studiensymphonie in f-Moll, vor allem aber die Erste, Zweite und die »annullierte« Symphonie, auch waren.
Dass die Dritte ausgerechnet in d-Moll notiert ist, der Tonart von Beethovens Neunter, und noch dazu einige mehr oder weniger deutliche Anleihen an diese letzte Symphonie Beethovens nimmt, etwa am Beginn des Werkes, ist Ausdruck von Bruckners beträchtlichem Selbstvertrauen und dem überaus ehrgeizigen Anspruch, den er an sich und sein Komponieren richtete.
Die scharf umrissenen Themencharaktere, der ausbalancierte Werkverlauf mit seiner ausgeklügelten Folge von Steigerungen und Höhepunkten, das machtvolle Auftreten des Anfangsthemas aus dem ersten Satz auch in den Schlusstakten des Finales – alles dies prägt »die« Bruckner-Symphonie und kennzeichnet die Dritte in geradezu exemplarischer Form.
Man kann, wie dies in der Bruckner-Literatur geschehen ist, von einer genau abgestuften symphonischen »Wellenbewegung« sprechen, die eine Brucknersche Symphonie überzieht und unaufhaltsam auf das Finale zusteuert, um dort ihren krönenden, alles überbietenden Gipfelpunkt zu erreichen.

Richard Wagner begrüßt Anton Bruckner (mit dem Manuskript der dritten Symphonie) in Bayreuth.
Scherenschnitt von Otto Böhler, Wien um 1890
Mag Bruckner in den späteren Fassungen der Dritten die innere Dramaturgie dieses Werkes kompakter gefasst, vielleicht auch schlagkräftiger ausgeführt haben, mögen die Nachfolgefassungen in ihrer gedrängteren Form auch »leichter« zugänglich gewesen sein für das damalige Publikum – man kommt nicht umhin: Jeder Gewinn auf der einen Seite muss mit Einbußen auf der anderen »bezahlt« werden. Dies gilt eben auch für diese Dritte, deren Erstfassung über eine kompositorische Spontaneität und Kühnheit, eine Ideenfülle und innere Komplexität, eine brachiale, schier ungebremste Kraftfülle verfügt, die der Symphonie etwas faszinierend Ungeschliffenes, ja irritierend Ungestümes verleiht. Eine entfesselte, kompromisslose Experimentierfreude, die in den späteren Fassungen mehr und mehr verloren ging, verloren gehen musste, je tiefer Bruckner in die Mechanismen seines Komponierens eindrang und seine Musik in ihren Feinheiten zu regulieren, zu kontrollieren versuchte (was zweifellos wiederum eine Qualität eigenen Rechts ist).
Verblüffend modern wirkt diese frühe Version der Symphonie mit ihren oftmals harten Schnitten und collageartigen Schichtungen, dem mitunter wie »zusammengestückt« wirkenden Verlauf, der scheinbar ohne Vermittlung »Blöcke« verschiedensten, gegensätzlichsten Charakters aneinander anschließen lässt. Enorme Kräfte werden, manchmal fast schon gewaltsam, freigesetzt, mehrfach bewegt sich das, was Bruckner in den Figurationen der Streicher einfordert, an der Grenze zum Unspielbaren. Hinzu kommt ein beinahe überbordender Gedankenreichtum, den der Komponist selbst offenbar erst in dens päteren Fassungen so richtig zu überschauen begann.
Beachtlich ist auch der Umfang der Erstfassung: Die Dritte ist in dieser Version die längste vollendete Symphonie Bruckners überhaupt, länger noch als die riesenhafte Erstfassung der Achten. Insgesamt umspannt die Partitur mehr als 2000 Takte – die später im Zuge der verschiedenen Fassungen auf 1644 Takte zusammenschrumpften. Diese Kürzungen hatten den Vorteil, die »Aktionsdichte« zu erhöhen, gingen jedoch zwangsläufig auf Kosten des weiträumigen, überaus weitgerichteten Atems, zum Teil auch der ausgewogenen Proportionen, was insbesondere am langsamen Satz, dem Adagio, deutlich wird. Zu den Partien, die in den Umarbeitungen der Symphonie aussortiert wurden, gehören auch etliche jener so genannten »Wagner-Zitate«, die man in der anfänglichen Version ausmachen kann. Es lag nahe, diese Anklänge an Motive aus »Walküre«, »Tristan«, den »Meistersingern« oder »Tannhäuser« mit der Wagner-Verehrung Bruckners in Verbindung zu bringen, doch darf man nicht übersehen, dass die betreffenden Passagen eher vage an die Wagnerschen »Vorbilder« erinnern. Sie scheinen durchaus tragende Rollen im Formaufbau gespielt zu haben, doch war Bruckner offenkundig unter geänderten Bedingungen gewillt, auf sie weitgehend zu verzichten.

»Symfonie in D moll, wo die Trompete das Thema beginnt. A. Bruckner«
»Ja! Ja! Herzlichen Gruss! Richard Wagner«
Der kurze Schriftwechsel zwischen Bruckner und Wagner, mit dem sich Bruckner – kurioserweise – für die beabsichtige Widmung der »richtigen« Symphonie vergewisserte.
Unklar ist, wann diese »Zitate« überhaupt in die Partitur gelangten – möglicherweise erst, nachdem Richard Wagner die Widmung dieser Symphonie angenommen hatte. Das Zusammentreffen der beiden Komponisten im September 1873 auf den damaligen Baustellen Festspielhaus und Villa Wahnfried in Bayreuth muss ein bemerkenswertes Ereignis gewesen sein. Bruckner legte dem »Meister aller Meister« sowohl die zweite Symphonie als auch die damals noch nicht ganz fertig gestellte Dritte vor.
Nach seiner Abreise wurde Bruckner unsicher, für welche Symphonie sich Wagner entschieden hatte, so dass er – sicherlich ein einmaliger Vorgang – schriftlich nachhaken musste.
»Symfonie in D moll, wo die Trompete das Thema beginnt«, erkundigte sich Bruckner bei Wagner, der lapidar antwortete: »Ja! Ja! Herzlichen Gruss!«.
Bruckner selbst prägte den Namen »Wagner-Symphonie« für dieses Werk, das als erstes Orchesterwerk zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde – ein Werk, in dessen »Lebensgeschichte« sich mehr als in jeder anderen Brucknerschen Symphonie das persönliche Schicksal ihres Schöpfers widerzuspiegeln scheint.
Dr. Torsten Blaich
© Text aus dem Booklet
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und des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) in Zusammenarbeit mit der
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