Scaled ImageEdmund Nick · Erich Kästner

Leben in dieser Zeit

 

Radiomusik Vol. 1 CPO 7775412

Radiomusik Vol. 1
CPO 7775412


Coverbild: Zeichnung von Marcellus Schiffer (1892-1932), Tusche aquarelliert Ende der zwanziger Jahre
Der Dichter, Schriftsteller und Maler Schiffer war der Ehemann der Sängerin Margo Lion und gehörte zum Freundeskreis um Kästner und Nick.
Original: Stiftung Archiv der Akademie der Künste

 


Seiteninhalt

→  CD-Inhalt
  CD-Onlineshop und Hörbeispiele
  Ein Radiospiel aus der Pionierzeit des Rundfunks
  „Leben in dieser Zeit“
  Edmund Nicks und Erich Kästners Experiment
  Der Inhalt von „Leben in dieser Zeit“
  Im Spiegel zeitgenössischer Kritik
  Die Rekonstruktionsarbeit
  CD-Besprechungen
Lautsprechersymbol-klein-1  Dagmar Nick: Der Sender Breslau mit Edmund Nick und Erich Kästner


Während der Rundfunkproduktion in der Dresdner Lukaskirche Foto: Staatsoperette Dresden - Hartmut Gerasch

Während der Rundfunkproduktion in der Dresdner Lukaskirche
Foto: Staatsoperette Dresden – Hartmut Gerasch

 

CD-Inhalt

Edmund Nick 1891-1974
Leben in dieser Zeit
Lyrische Suite in drei Sätzen (1929), Text von Erich Kästner (1899-1974)

Sprecher   Marcus Günzel Bariton
Schmidt   Christian Grygas Bariton
Chansonette   Elke Kottmair Sopran
Herrenquartett   Ralf Simon Tenor I Markus Günzel Bariton I Gerd Wiemer Bariton I Herbert G. Adami Bass
Eine Frauenstimme (in Nr. 2)   Gritt Gnauck Mezzosopran
Eine Männerstimme (in Nr. 2)   Gerd Wiemer Bariton
Erste Männerstimme (in Nr. 12)   Marcus Günzel
Zweite Männerstimme (in Nr. 12)   Gerd Wiemer

Sprecher in den Dialogen:
Erste Frauenstimme   Rita Schaller Sprecherin
Zweite Frauenstimme   Jutta Richter-Merz Sprecherin
Erste Männerstimme   Walter Niklaus Sprecher
Zweite Männerstimme   Peter Ensikat Sprecher

Dialogregie   Walter Niklaus
Dramaturgie   Uwe Schneider

Chor der Staatsoperette Dresden (Einstudierung: Thomas Runge)
Orchester der Staatsoperette Dresden
Dirigent Ernst Theis

 

CD 1

1. Satz
1         
Einleitung (Sprecher)
2          Dialog
3          Nr. 1 Kurt Schmidt, statt einer Ballade (Sprecher)
4          Dialog
         Nr. 2 Das Chanson von der Majorität (Schmidt, Eine Frauenstimme, Eine Männerstimme, Chor)
6          Dialog
7          Nr. 3 Der kleine Rekordgesang (Schmidt, Sprecher, Chor)
8          Dialog
9          Nr. 4 Das Lied von der Rumpfbeuge (Schmidt, Chor
10        Dialog
11        Nr. 5 Die möblierte Moral (Männerquartett, Männerchor)
12        Dialog
13        Nr. 6 Das Wiegenlied väterlicherseits (Schmidt)
14        Geräuschmontage

2. Satz
15        Akustischer Auftakt (Geräuschmontage)

16        Dialog
17        Nr. 8 Die Elegie in Sachen Wald (Schmidt, Männerquartett, Eine Frauenstimme)
18        Dialog
19        Nr. 9 Entrée für eine Chansonette (Sprecher)
20        Dialog
21        Nr. 10 Das Liebeslied mit Damenchor (Chansonette, Damenchor)
22        Dialog
23        Nr. 11 Der Gesang vom verlorenen Sohn (Chansonette)
24        Dialog
25        Nr. 12 Der Song “Man müsste wieder…“ (Blues) (Schmidt, 1. und 2. Männerstimme)
26        Dialog und Sentimentale Hörmontage


CD 2

3. Satz
1          Geräusch-Montage

2          Dialog
3          Nr. 13 Das Lied mit den Pistolenschüssen (Schmidt)
         Dialog
         Nr. 14 Hymnus auf die Zeitgenossen (Schmidt, Chor)
6          Dialog
         Nr. 15 Das Chanson für Hochwohlgeborene (Chansonette)
8          Dialog
         Nr. 16 Der Appell an den Trotz (Schmidt, Sprecher, Chor)
10        Dialog
11        Nr. 17 Das Trompetenstoßgebet (Chor, Sprecher, Schmidt)

Bonus
12        Nachempfundener Beginn des Funkspiels
13        Nachempfundenes Ende des Funkspiels

Gespielt wird auf zwei Konzertflügeln E-205 der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne

Soundcollagen unter Verwendung von Felix Mendelssohn Bartholdy „Der Jäger Abschied“ aus: 6 Lieder op. 50 für 4 Männerstimmen
Meistersextett Leipzig

 

Edmund Nicks Kompositionen für die Konzertfassung von „Leben in dieser Zeit“, die die entsprechenden Rundfunk-Klangmontagen ersetzen
14        Kleines Vorspiel

15        [ohne Nr.] Einleitung 1. Satz
16        Nr. 7 Einleitung 2. Satz (Chor)
17        Nr. 12a Einleitung 3. Satz (Chorsolisten)
18        Erstaufnahme des Songs „Kurt Schmidt, statt einer Ballade“

Robert Koppel, Bariton
Königsberger Funkorchester
Leitung: Edmund Nick
Erfasst in: „Schallaufnahmen 1929-1931, Sender Königsberg am 13. 12. 1930
Tonträger: Rundfunkschallplatte, Quelle: DRA

19       Dagmar Nick liest aus ihren literarischen Erinnerungen „Leben in dieser Zeit. Edmund Nick und Erich Kästner“, Aufnahme MDR 2009

20       Edmund Nick singt „Juni“ aus dem Zyklus „Die 13 Monate“ von Erich Kästner

Klavier und Gesang: Edmund Nick
Die Privat-Heimtonbandaufnahme des Achtundsiebzigjährigen Komponisten entstand im Oktober 1969 im seinem Münchner Wohnzimmer.
Original im Besitz von Dagmar Nick

Künstlerische Aufnahmeleitung: Eric Lieberwirth
Recording Engeneer: Holger Siedler
Redaktion: MDR FIGARO, Dr. Jens Uwe Völmecke
Aufnahme: 19.-23. August 2008, Lukaskirche Dresden
Produktion: MDR Figaro

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„Die Hinterhäuslichkeit“ Szenische Aufführung von „Leben in dieser Zeit“ am 17. April 1932 im Breslauer Stadttheater. Regie führte Werner Jacob. Foto: Dagmar Nick privat

„Die Hinterhäuslichkeit“
Szenische Aufführung von „Leben in dieser Zeit“ am 17. April 1932 im Breslauer Stadttheater.
Regie führte Werner Jacob.
Foto: Dagmar Nick privat

 
 

Ein Radiospiel aus der Pionierzeit des Rundfunks

Dezember 1929: Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Am 25. Oktober 1929, dem so genannten „schwarzen Freitag“, bricht an der New Yorker Wall Street die Börse zusammen und stürzt die Weltwirtschaft in eine bis dahin nicht gekannte Krise. Die Ereignisse überschlagen sich. Man hört von Selbstmorden bankrotter Bankiers, die mit Luftspekulationen alles auf eine Karte gesetzt hatten, Millionen von Menschen verlieren ihr gesamtes Erspartes, und Massenentlassungen lassen die Arbeitslosenzahlen raketenartig ansteigen. Die Weltkrise ist also nicht nur „im Anmarsch“ wie es im Funkspiel „Leben in dieser Zeit“ heißt, das am 14. Dezember 1929 über die Antennen des Breslauer Rundfunks geht, sie ist im vollen Gange.

Seit gut fünf Jahren existiert in Deutschland ein flächendeckendes Netzwerk von Rundfunkstationen. Die Redakteure arbeiten mit Hochdruck, um ein Programmangebot zu schaffen, das mit dem rasanten technischen Fortschritt mithalten kann. Beliebt sind Schallplattenkonzerte, Vortragsabende, Reportagen und Live-Übertragungen von Opern, Operetten und Sinfoniekonzerten. Hinzu kommen die Unterhaltungsmusiksendungen aus großen Hotels oder Tanzpalästen. Die Programmgestalter der Musikabteilungen haben jedoch ein ehrgeiziges Ziel. Sie wollen eine eigene „radiophone“ Musik – eine Musik, zugeschnitten auf die technischen Möglichkeiten des Lautsprechers, der gerade seinen Siegeszug antritt und dabei die äußerst unbequemen Kopfhörer ablöst, eine Musik, die auch zugeschnitten sein soll auf die akustischen Verhältnisse in den neu erbauten Sendesälen. Die Baden-Badener Festwochen im Juli 1929 stehen ganz im Zeichen einer solchen, noch zu erfindenden, Rundfunkmusik.

Edmund Nick, fotografiert 1930 von Ida Feige, einer Cousine seiner Ehefrau. Ida Feige wurde 1942 in Treblinka vergast. Foto: Dagmar Nick privat

Edmund Nick, fotografiert 1930 von Ida Feige, einer Cousine seiner Ehefrau.
Ida Feige wurde 1942 in Treblinka vergast.
Foto: Dagmar Nick privat

Edmund Nick, 1891 in Reichenberg in Böhmen geboren und seit 1924 Leiter der Musikabteilung des Breslauer Rundfunks und sein acht Jahre jüngerer Freund, der aus Dresden stammende Dichter Erich Kästner, stehen also vor einer echten Herausforderung: Auf der einen Seite die weltweit herrschende Depression, auf der anderen Seite die Forderung nach einer eigenen, den technischen Möglichkeiten des Rundfunks angepassten musikalischen Ausdrucksform. Wie ist es möglich, die realen Existenzängste der Gegenwart mit Hilfe dieser neuen, noch zu entwickelnden Hörästhetik zum Ausdruck zu bringen? Das Resultat der gemeinsamen Überlegungen von Nick und Kästner ist „Leben in dieser Zeit“, eine lyrische Suite in drei Sätzen für die Kästner eine Reihe von Gedichten kompiliert und diese mit in Versform gesetzten Dialogen verzahnt. Nick liefert hierzu die passende, farbenreiche Komposition, die sich einerseits musikalisch auf der Höhe der Zeit befindet und sich anderseits vieler Zitate aus der klassischen und volkstümlichen Musikliteratur bedient. Hinzu kommen Geräusch- und Musikmontagen, so dass am Ende ein Werk entsteht, das in der Tat mit den damaligen Möglichkeiten der Sendetechnik umgesetzt werden kann. Das Experiment gelingt. Am 14. Dezember 1929 geht „Leben in dieser Zeit“ über die Antennen des Senders Breslau und ist so erfolgreich, dass das Stück in den Folgejahren mehrfach umgearbeitet werden wird, bis am Ende sogar eine Bühnenfassung entsteht.

„Leben in dieser Zeit“ landet – wie alle Texte von Erich Kästner – 1933, also vor 75 Jahren, auf dem Scheiterhaufen der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen. Der Autor erhält Schreibverbot, der Komponist Edmund Nick wird im selben Jahr aller Ämter beim Breslauer Rundfunk enthoben. Beide überleben die zwölf Jahre des so genannten „tausendjährigen Reiches“. Der eine, Kästner, „überwintert“ mit harmlos-gefälligen Stücken und darf sogar 1943 – allerdings unter Pseudonym – das Drehbuch zum UFA-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ schreiben, und Edmund Nick wird musikalischer Leiter am Berliner „Theater des Volkes“. Sein 1935 geschriebenes und kurz darauf sogar verfilmtes Biedermeier-Singspiel „Das kleine Hofkonzert“ hat anhaltenden Erfolg und trägt viel zur persönlichen Existenzsicherung bei.

Von 1952 bis 1956 ist Edmund Nick Leiter der Musikabteilung beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. In jenen Jahren produziert er zahlreiche alte und neue Chansons seines Freundes Erich Kästner, der sich seit 1945 in München wiederum verstärkt dem Kabarett widmet. Auch über seine aktiven Berufsjahre hinaus bleibt Nick dem Medium Rundfunk verbunden, als Autor von Featuresendungen die er selbst moderiert sowie als versierter Klavierbegleiter bei Kabarettproduktionen. Edmund Nick stirbt im April 1974, sein langjähriger künstlerischer Wegbegleiter Erich Kästner folgt ihm vier Monate später.

In einer Gemeinschaftsproduktion von FIGARO, dem Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks und DeutschlandRadio Kultur wurde die lyrische Suite „Leben in dieser Zeit“ nunmehr in ihrer vollständigen und ursprünglichen Radiofassung neu eingespielt. Die Aufnahmen fanden vom 19. bis 23. August 2008 in der Dresdner Lukaskirche statt. Solisten, Chor und Orchester der Staatsoperette Dresden unter der Leitung von Chefdirigent Ernst Theis lassen dieses Pionierwerk der deutschen Radiogeschichte zu einem echten Hörerlebnis werden, das auch fast 80 Jahre nach seiner Entstehung nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat. Die Presse feierte die öffentliche Aufführung des Werkes am 28. August im Rahmen der Spielzeiteröffnung der Staatsoperette Dresden als sensationelle Wiederentdeckung. Am 8. und 9. November 2008 erfolgte die Ausstrahlung der Produktion gleich über drei Sender. Zusätzlich zu MDR Figaro und DeutschlandRadio Kultur übernahm auch WDR 4 die Einspielung für die Sendereihe „Das Samstagskonzert“, damit schloss sich ein Kreis vom Rundfunk der Weimarer Republik in die mediale Gegenwart des 20. Jahrhunderts.

Jens-Uwe Völmecke
©
Textauszug aus dem CD-Booklet

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RadioMusik – „Leben in dieser Zeit“

Das Medium Radio steht in einer Reihe zahlreicher Entwicklungen im Bereich der Tonträgermedien. Schon 1877 gelang es Thomas Alva Edison die menschliche Stimme erstmals einzufangen, er entwickelt den ersten technischen Tonträger, den Phonographen, aus dem sich in der Folge das Grammophon herausbildete. Damit legte er den Grundstein für eine technische Tonträgerentwicklung, die bis zum heutigen Tage anhält.

Das damals durchaus populäre Musikübermittlungsmedium Telefon, das auch große Reichweiten entwickelte (1877 wird das erste Konzert via Telefon live von Philadelphia nach New York übertragen), benötigte noch das Zwischenmedium Draht. Eine Übertragung von Stimmen und Musik ohne Draht war noch undenkbar. Obwohl der Amerikaner John Harworth bereits 1862 ein Patent für drahtlose Telegraphie anmeldete, war es der deutsche Physiker Heinrich Hertz 1887, der an der Hochschule Karlsruhe elektromagnetische Wellen mittels eines Funkeninduktors drahtlos überspringen lässt – also den Funken springen lässt. Damit legt er den Grundstein zur drahtlosen Übertragung von Stimmen und Musik und letztlich auch für das Medium Radio. Neben anderen ist es schließlich entscheidend der Italiener Guglielmo Marconi, dessen Entwicklungen uns heute Musik per Knopfdruck via Radio möglich macht. Im deutschsprachigen Europa geht es in Deutschland 1923 mit regelmäßigen Radioübertragungen aus dem Berliner VOX-Haus los, bereits im März 1924 sendet als zweiter deutscher Sender die Mitteldeutsche Rundfunk AG „mirag“ und ein Jahr später folgt Österreich.

Für die Musik hatte diese Neuentwicklung kaum absehbare Konsequenzen: zunächst einmal viele neue Jobs und neue Aufgabengebiete, auch für Musiker, auch für die Komponisten. Welche Musik soll man aber via Radio übertragen? Soll es alte Musik, ernste Musik, leichte Musik, zeitgenössische Musik sein? Ein Diskurs der sich in den Werken der ersten Jahre des Radios vehement widerspiegelt. Es entstehen eigene Rundfunkmusiken. Diese sind Kompositionen, die vom damals neuen Medium Radio bei den bekanntesten zeitgenössischen Komponisten mit dem Ziel in Auftrag gegeben wurden, Musiken zu entwickeln, die den technischen Möglichkeiten des neuen Massenmediums angepasst sind. Auch Komponisten wie Eduard Künneke (der einst in den Sinfoniekonzerten der Berliner Philharmoniker gespielt wurde) oder Edmund Nick, die vornehmlich Unterhaltungsmusik schrieben, gehörten zu diesem Kreis. Doch die Grenzen zeitgenössischer Musik waren fließend, wie die Namen zeigen, denn auch Kurt Weill, Paul Hindemith, Pavel Haas, Ernst Toch oder Franz Schreker, die als bedeutende Neuerer ihrer Zeit in die Musikgeschichte eingegangen sind, gehörten zum angesprochen Komponistenkreis. Diesen Zeitraum, die Jahre 1923 bis 1933, spiegelt das Projekt der Radiomusiken, das die Staatsoperette Dresden mit ihren Partnern Mitteldeutscher Rundfunk, DeutschlandRadio Kultur und CPO tragen, wider.

Für das Vergessen dieser Musik sind in vielen Fällen die Verbote und Verfolgungen der jüdischen und politisch nicht konformen Autoren im Dritten Reich verantwortlich. Diese Musik entstand als die deutsche Unterhaltungsmusik ihre letzte Hochzeit erlebt – bevor die Nazis auch diese verfälschten und ihr Ende einleiteten. Die Rundfunkmusiken sind ein Schnittpunkt von Unterhaltungsmusik und verschiedensten Strömungen der zeitgenössischen Musik der Weimarer Republik. Sie zeigen kaum bekannte Facetten einer für das Publikum entstandenen Musik, die ihre Kraft aus den Innovationen der eigenen Zeit nahm. Eine vergessene Gegenwartskunst wird in den Einspielungen der Edition „RundfunkMusiken“, die in vielen Fällen Weltersteinspielungen sind, wieder erlebbar. Diese musikalischen Experimente, die für die Live-Übertragung durch nur ein einziges Mikrophon geschrieben wurden, kennen keine musikalischen Grenzen, Tanz und Jazz stehen neben klassischen sinfonischen Formen und avantgardistischen Neuerungen der Zeit.

1929 entsteht der radiophone Solitär „Leben in dieser Zeit“, ein Werk, das aus Sicht der Beteiligten das vielleicht ungewöhnlichste aus dieser Zeit ist. Den Text verfasste kein geringerer als Erich Kästner, die Musik Edmund Nick, damals der erste musikalische Leiter des Breslauer Rundfunks. Er schaffte es, den hart sozialkritischen Unterton der Kästner-Texte durch eine Musik zu kommentieren, die jene Härte der Texte erst erträglich macht. In kongenialer Weise haben die beiden hochsubstanziellen Geister die Wahrheit der Lebensrealität und die alles verbindende Kraft der Musik vereint und ein Werk geschaffen, das vollkommen zeitlos ist. Aus diesen Gründen eröffnet dieses Exempel für eine gesellschaftlich als auch musikalisch sozial aufgewühlte Zeit die Reihe „RadioMusiken“.

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Edmund Nicks und Erich Kästners Experiment

Die Großstadtmusik Kurt Weills aus der „Dreigroschenoper“ gehört zu den prägenden Vorbildern für den im selben Jahr uraufgeführten Chanson-Reigen von Erich Kästner und Edmund Nick: „Leben in dieser Zeit“. Ein Titel, der bereits programmatisch vorwegnimmt, worum es auch hier geht: Um ein Abbild der Gesellschaft am Ende der Goldenen Zwanziger Jahre und – was noch keiner ahnen konnte – am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. Der schwere volkswirtschaftliche Einbruch in allen Industrienationen, der sich unter anderem in Unternehmenszusammenbrüchen und massiver Arbeitslosigkeit äußerte, hatte freilich seinen unübersehbaren Vorboten im Börsenkrach an der New Yorker Börse vom 25. Oktober 1929, der als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte eingehen sollte.

„Breslauer Koryphäen in der Karikatur“ von Iwan von Jensensky „Wie sich unser Karikaturist den unsichtbaren Vorgang des Sendens für seine begriffliche Auffasuung zurechtlegt. Dr. Edmund Nick, der musikalische Hausgeist der Schlesischen Funkstunde“ Aus: „Schlesische Theater- und Musik-Woche“ Nr-16 von 1924

„Breslauer Koryphäen in der Karikatur“ von Iwan von Jensensky
„Wie sich unser Karikaturist den unsichtbaren Vorgang des Sendens für seine begriffliche Auffasuung zurechtlegt.
Dr. Edmund Nick, der musikalische Hausgeist der Schlesischen Funkstunde“
Aus: „Schlesische Theater- und Musik-Woche“ Nr-16 von 1924

„Leben in dieser Zeit“ war ein Experiment in mancherlei Hinsicht. Die neue Form, die man für das noch junge Medium Radio suchte, der Umgang mit Texten und Musik gegenüber einem großen aber nicht sichtbaren und nicht direkt reagierenden Publikum war eine neue Erfahrung. Die technischen Voraussetzungen von Live-Aufführung und Übertragung durch nur ein einziges Mikrophon sowie die klanglich beschränkte Ausstrahlung am andern Ende, dem Radiolautsprecher, verlangten neue akustische Konzeptionen bei Textautor wie Komponist.

Rundfunk und Hörspiel waren Gegenstand philosophischer und ästhetischer Diskussionen in den Feuilletons und Zeitschriften der Zeit. Der Schlesische Rundfunk Breslau gehörte zu den Vorreitern auf diesem Weg. „Breslau verwandelte die Montage in Hörfolgen, Aneinanderreihungen von Songs, spitzen Feuilletons und Gedichten“, schreibt Wolf Zucker – nicht ohne Kritik – im Juni 1930 in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“. „Der Zusammenhalt“, fährt er fort, „war nicht durch ein spezifisches Funkmoment, sondern durch eine literarische Leitidee gegeben. […] Man brachte eine Hörfolge von Kästner, die wie eine musikalische Symphonie in mehrere Sätze gegliedert war, in der Themen angeschlagen, durchgeführt, wiederholt und variiert wurden.“

Diese Hörfolge war „Leben in dieser Zeit“. Kästner hatte dafür zum Teil schon veröffentlichte Gedichte, Kabarett-Texte, einen Chor, Geräusche und Zwischentexte zu einer Collage montiert, die sich mit dem Moloch Großstadt, der Masse Mensch, dem Schicksal des Einzelnen in der modernen Zeit und anderen kritischen Modethemen beschäftigte. Liedhafte Chansons mit ihrer poetischen Bildsprache und der genretypischen starken Konzentration auf die Textaussage decken die Vielzahl der kritischen und satirischen Themen und wechselnden Stimmungen ab. Edmund Nicks Musik, mit ihren prägnanten rhythmischen Figuren und großen Melodieeinfällen, ihrer Eingängigkeit und ihrem Kontrastreichtum war kongenial gedacht. Es war Musik der Zeit, tänzerisch und jazzig, aber auch lyrisch und kunstvoll zu immer neuen Höhepunkten gesteigert.

Wie sehr das den Ton der Zeit traf spiegeln zahlreiche überschwängliche Kritiken wieder. Die Volkszeitung Dresden etwa schreibt Mitte März 1931:
„Orchester, gesungene Lieder, gesprochene Gedichte, sprechende Stimmen, Sprechchor. Alles prachtvoll zusammengewoben, fast Silbe für Silbe deutliche, zwingend, packend durch Geschlossenheit der funklichen Aufmachung; eine Erfindung, die raffiniert-geschickt eine große Zahl ernster Gedichte in eine lange, fesselnde Szene hineinschmolz; eine Musik, die nicht nur vorzüglich das Ganze untermalte und trug, sondern sogar eigenen starken Ausdruckswert hatte (komponiert von Edmund Nick!). Das Ganze, wie wir glauben, der erste vollkommene Sieg des Ringens um Rundfunkkunst, inhaltlich eine tief ernste, echt dichterische, vollmoderne Revue über Sinn und Wert des gegenwärtigen Lebens der Durchschnittsmenschen. Wiederholen! Ja wiederholen! Und dann  w e i t e r e  Versuche!“

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Der Inhalt von „Leben in dieser Zeit“

Kaestner-Nick

Erich Kästner und Edmund Nick (zweiter und dritter von rechts), aufgenommen 1931 anlässlich einer Aufführung von »Leben in dieser Zeit« im Alten Theater Leipzig
Foto: Dagmar Nick privat

Leben in dieser Zeit hat keine Handlung im klassischen Sinn. Auch mit der Gattungsbezeichnung waren sich die Autoren nicht sicher, zu neu war dieser Versuch. Was als „Lyrische Suite in drei Sätzen“ aufgeführt und gedruckt wurde, bezeichneten sie auch als Hör- und Funkspiel, als Laien-Oratorium oder Kantate. Den Inhalt mehr charakterisierend als beschreibend hielt Kästner im Programmheft des Altonaer Stadttheaters 1931 fest: „Unsere Kantate wird man kaum fromm nennen wollen. Es ist eine Laienkantate. Sie wendet sich an die Menschen der Großstadt, sie bringt ihnen ihresgleichen zu Gesicht und Gehör, sie demonstriert ihre Sorgen, ihre vergeblichen Wünsche und ihre Methoden, das ‘Leben in dieser Zeit’, so schwer erträglich es ist, zu meistern.“ Tatsächlich ist das Zeitstück nicht mit einem klaren Handlungsablauf zu beschreiben, es geht um Themen der Zeit, nicht jedoch um dramaturgische Aktionsabläufe.

Der Kritiker Fritz Rosenfeld hat 1931 in seiner Kritik für die Wiener Arbeiter-Zeitung vom 21. Jänner dennoch den Versuch unternommen, den Inhalt zu beschreiben:
„Der ‚Held’ des Werkes heißt Kurt Schmidt und ist einer aus dem Heer der Millionen, die in den Büros der Großstädte an staubige Schreibtische gefesselt sind, die ihr Leben mit dem zusammenrechnen von Zahlen verbringen, die abgestumpft werden gegen die Leidenschaften, weil seinen Leidenschaften nur leben darf, wer Geld hat, die abgestumpft werden gegen die Natur, weil die Natur nur genießen darf, wer Geld hat. Die Resignation treibt diese Millionen Kurt Schmidts in den Geist halbspießerlicher Selbstzufriedenheit unter der nur leise der Gram und der Groll über ein freudloses, einförmiges Dasein lebt. Kästner stellt seinen Helden zwischen einen abgeklärten, satten seelisch robusten Räsoneur und die durch Sprechchor repräsentierte Masse der Arbeitsmenschen. Kurt Schmidt hat nicht das Phlegma, mit dem der Räsoneur die Widrigkeiten des Lebens als Schicksalsfügungen hinnimmt, er hat aber auch nicht den scharfen Protestgeist, mit dem die Masse der Arbeitsmenschen gegen ihr mechanisiertes Leben rebelliert. In Liedern durchläuft dieser Kurt Schmidt nun die wichtigsten Phasen seines Lebens, die wichtigsten Phasen seines Erlebens. Als Widerspiel und als Ergänzung gibt Kästner ihm eine Frauengestalt zur Seite; die Chansonette, die das Leben leichter nimmt, und die doch als Mutter des Menschen dieser Zeit wieder eng mit dem Schicksal der Gegenwart verbunden ist.“

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Im Spiegel zeitgenössischer Kritik

www Nick Leben Breslau 01

„Die Hinterhäuslichkeit“
Szenische Aufführung von „Leben in dieser Zeit“ am 17. April 1932 im Breslauer Stadttheater mit Herbert Brunar als Sprecher [rechts], Kaete Nick-Jaenicke als Chansonette und Hans Busch als „Schmidt“. Regie führte Werner Jacob
Foto: Dagmar Nick privat

Volkszeitung Dresden, Mitte März 1931:
„Einen vollen Sieg als Rundfunkkünstler errang hingegen der Vorkämpfer der Rundfunkkunst, Intendant F. W. Bischoff, Breslau, am 12. März mit dem Hörspiel „Leben in dieser Zeit“ von Erich Kästner. Hörspiel in diesem Falle: Orchester, gesungene Lieder, gesprochene Gedichte, sprechende Stimmen, Sprechchor. Alles prachtvoll zusammengewoben, fast Silbe für Silbe deutliche, zwingend, packend durch Geschlossenheit der funklichen Aufmachung; eine Erfindung, die raffiniert-geschickt eine große Zahl ernster Gedichte in eine lange, fesselnde Szene hineinschmolz; eine Musik, die nicht nur vorzüglich das Ganze untermalte und trug, sondern sogar eigenen starken Ausdruckswert hatte (komponiert von Edmund Nick!). Das Ganze, wie wir glauben, der erste vollkommene Sieg des Ringens um Rundfunkkunst, inhaltlich eine tief ernste, echt dichterische, vollmoderne Revue über Sinn und Wert des gegenwärtigen Lebens der Durchschnittsmenschen. Wiederholen! Ja wiederholen! Und dann w e i t e r e Versuche!“

Der Deutsche Rundfunk: … Die Heldensage vom Nachkriegsmenschen, von seinem Hundeleben zwischen Büro und möbliertem Zimmer.  „Herr Schmidt“ heißt der moderne Nibelunge, der für Großstadtrhythmus und Lichtreklame wenig übrig hat. Denn seine Kämpfe spielen in den trivialsten Situationen und geben wenig Gelegenheit für große Gesten. … Nach dieser Aufführung dürfen wir wirklich hoffen, daß Gedichte im Rundfunk für den Hörer auch einmal mehr sein können als eine literarische Repräsentation.

Breslau-Volkswacht, 21. Dezember. Kritik des Breslauer Senders: … Ohne Sentimentalität, ohne große Wörter gibt Kästner ein Bild des Menschen dieser Zeit,  gehetzt durch Arbeit und Vergnügen, fern der Natur und unsicher in seinen Beziehungen zur Mitwelt. … Leben in dieser Zeit ist eins der lebendigsten und ursprünglichsten Hörspiele, die jemals vor dem Mikrophon erklungen sind. … Wir haben es mit einem organisch vollkommen einheitlichen Kunstwerk zu tun. … Die Instrumentation ist so einfach, der Gesamtklang so durchsichtig, daß in dieser Hinsicht der Weg zur Popularität geebnet sein dürfte!

Ostdeutsche Illustrierte Funkwoche: … Erstaunlich, wie Kästner, der heute ein unerreichter Meister aktueller Lyrik und zeitgenössischer Satire ist, zwanglos und witzig auch den Dialog beherrscht und seinen Text über eine geistreiche Spielerei hinaus, zu einem wirklichen Abbild unseres oft so hohlen,‘ nur durch den Gedanken an die kommenden Geschlechter gerechtfertigten Lebens macht. Die große Überraschung des Abends war E.Nicks Musik, die von Kästners hochwertigen Texten zu kongenialer Leistung inspiriert wurde. …

Breslauer Zeitung, 22. Dezember: … Ein Ereignis, das für die Entwicklung des Rundfunks zur Kunstform von entscheidender und symptonischer Bedeutung war: …. alles vereinigt, was man selbst bei hohen Ansprüchen von einer Schöpfung der Funkkunst verlangen kann. … Es sollte ein Lehrgedicht sein. Wenn es eines war, dann ist es jedenfalls ein beglückendes Erlebnis und zugleich ein großes Vergnügen, sich belehren zu lassen.

Schlesische Wellen, 20. Dezember: … Erich Kästner hat gesprochen – die Debatte ist eröffnet. …

B.Z. Berlin: … Keiner kann so wie er das Leben in dieser Zeit besingen. …

Montag Morgen: … Grundidee:. die alte Nummeroper, neu belebt durch Vertauschung der Arien gegen hinreissende Chansons Kästners und durch Einschaltung kräftigen Gedankenstroms ist das verbindende Parlando.

Tempo Berlin: … Ein mutiger, bitterer, von sehr scharfen Humoren gewürzter Abend. …

Vossische Zeitung: Ein Schicksal – in diesem Falle ein Kollektivschicksal – wird kommentiert. -Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie aus dem Geiste des Lautsprechers ist noch nie so radikal versucht worden, wie im „Leben in dieser Zeit“. Das Hörspiel als selbständiges Kunstwerk, das weder Oper noch Dialog, weder Chanson,.noch Sprechchor, sondern alles zusammen ist, wird sich in dieser Richtung entwickeln.

Vorwärts Berlin: … Die packenden Verse Kästners haben durch Nicks musikalische Untermalung eine überraschend treffende Ergänzung gefunden. …

Berliner Tageblatt: … eine wegweisende Dichtung, die alle kunstgestaltenden Zeitströmungen in den Dienst funkischer Kunst stellt…

Breslau., N.N: … Mit ihrem „Leben in dieser Zeit“ haben diese ein Kunstwerk geschaffen, das wirklich nur im Rundfunk gedacht werden kann. … Es gibt also Musik dieser Zeit. … Man kann sich unschwer vorstellen, daß in wenigen Wochen auf unseren Grammophonen die Nick = Kästner Platten aus „Leben in dieser Zeit“ laufen. …

Volkszeitung Berlin: … eine glückliche Synthese von Sprache und Musik … dichterischer Wille eine neue Form zu gestalten wußte. … ein Zeitbild mit kräftigen Konturen und einen fesselnden, inhaltreichen Abend. … Man wird das Spiel anderwärts wiederholen müssen …

Acht Uhr Abendblatt Nr. 293, Breslau: … „Leben in dieser Zeit“, diese musikalische Hörfolge, interessiert jeden, packt und greift den Hörer sowohl von Wort, als auch vom Ton her, … „Leben in dieser Zeit“ hat zwar viel Chansons, und ist doch viel, viel mehr als nur eine Aneinanderreihung von Chansons. …

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Die Rekonstruktion

Von „Leben in dieser Zeit“ haben Edmund Nick und Erich Kästner drei Fassungen erstellt. Die eine als Hörspiel für das neue Medium Radio konzipiert, die anderen, weil als typisches Zeitstück zur Entstehungszeit beim Publikum so erfolgreich als Konzert- und Bühnenwerk, die nach der Uraufführung viele weitere Aufführungen nach sich zogen.

Die erste Abhörpause: Chefdirigent Ernst Theis (stehend) mit Tonmeister Eric Lieberwirth und Toningenieur Holger Siedler

Die erste Abhörpause: Chefdirigent Ernst Theis (stehend) mit Tonmeister Eric Lieberwirth und Toningenieur Holger Siedler
Foto: Staatsoperette Dresden

Das RadioMusiken-Team hat sich entschlossen, für die CD die Hörspielfassung, also sozusagen die Urfassung, darzustellen. Sie unterscheidet sich von Konzert- und Bühnenfassung durch die technisch hergestellten Klangmontagen, die teils zwischen den Musiknummern, teils über diese montiert wurden. Gerade diese Kombination spiegelt die lärmende Rasanz der Entstehungszeit der 20er-Jahre, aber auch den Druck, der auf den Menschen lastete, dermaßen stark wieder, dass man sich selber dabei ertappt zu meinen, ein Stück gegenwärtiger Inhalte zu hören.

Diese Fassung ist eine Rekonstruktion. Sie ist das Ergebnis der Gegenüberstellung der vorhandenen Quellen, die sich gegenseitig ergänzen. Die wichtigste Quelle ist hierbei die Partitur, die erst 1997, also nach Edmund Nicks Tod, im Auftrag seiner Tochter Dagmar bei der Universal Edition erstellt wurde. Sie enthält jedoch keine Hinweise auf die Klangmontagen, sondern lediglich die Geräuscheffekte, die kompositorisch in die Partitur integriert sind, wie zum Beispiel Autohupe, Telefonklingel, Eisenbahnsignal in der Einleitung zum I. Satz.

Erst das Libretto Erich Kästners, das nach der Ursendung als maschinenschriftliches Bühnenmanuskript im „Vertrieb von C. Weller & Co. Verlag, Leipzig“ erschienen ist und das auch als einzige Quelle die dialogischen Zwischentexte überliefert, hält verbal die Anweisungen für die Geräuschmontagen fest. Diese finden sich im Wesentlich jeweils zu Beginn und Ende der drei Sätze des Werks.
Für den Beginn des Ersten Satzes liest sich dies wie folgt:
„Lärm der Großstadt: Auftakt mit Schreibmaschinen und Telefonen.
Dann dazu aktuelle Jazzmusik.
Dann zu dem Büro- und Vergnügungslärm Straßenradau, Autohupen, Straßenbahnläuten, Zugstampfen.“

Erst die Zusammenschau dieser Quellen, zu denen auch noch ein 1931 bei der Universal Edition Wien veröffentlichter Klavierauszug gehört, der in beschreibenden Details von der Partitur abweicht, ermöglichte – zusammen mit überlieferten Kritiken und Informationen aus dem Nachlass Edmund Nicks – die Rekonstruktion des Funkspiels. Eduard Nicks Tochter, Dagmar Nick, sei an dieser Stelle für ihre Hilfe ausdrücklich gedankt.

Getreu wurde dabei den Anweisungen Kästners und Nicks gefolgt, wie etwa dem bewusst abrupten Abbrechen von Klangmontagen, die mit den heutigen technischen Möglichkeiten eher durch ein fading gelöst werden würden. Diese Anweisungen beschreiben auch musikalische Abläufe und deren Charakter, die nicht in der Partitur festgehalten worden sind.

Geräuschemacher bei der Mittekdeutschen Rundfunk-AG, um 1929 Foto: TRIANGEL-Archiv

Geräuschemacher bei der Mitteldeutschen Rundfunk-AG, um 1929
Foto: TRIANGEL-Archiv

Zu Beginn des Zweiten Satzes steht:
„Akustischer Auftakt: Kuhglocken, Abendläuten;
Harmonium mit „Nun ruhen alle Wälder…“;
dilettantisches Klavierspiel: “Der fröhliche Landmann…“;
Männerquartett
(sentimental geknödelt): „Wer hat dich du schöner Wald…“,
alles nur andeuten! u.s.w. Abendglocken schwingen langsam aus. Sentimentale Klangmontage.“
Deutlich wurde hier ein Aufschreibesystem erprobt, welches die neuen funktechnischen Möglichkeiten, die mit der traditionellen Musiknotation nicht zu erfassen waren, in den Funkspiel-Ablauf integrieren will.

Für Konzert- und Bühnenaufführungen hat Edmund Nick, offenbar nachträglich, musikalische Einleitungen geschrieben, die die Klangmontagen des Funkspiels ersetzen können. Wir präsentieren sie im Anhang, als Bonustracks auf der zweiten CD. Dort findet sich auch, eine nachempfundene Radioansage samt Erkennungssignal des Breslauer Rundfunks und eine Radioabsage, die seinerzeit beide jeweils untrennbar zur Ausstrahlungen von Funkspielen  gehörten.

Ziel war es, mit größtmöglichem Respekt vor den Autoren, das vorhandene Material aufzuarbeiten und zusammenzuführen. Nach unserer Überzeugung ist ein Dokument entstanden, das quellenkritisch entwickelt wurde und musikhistorisch einen adäquaten Beitrag zur bislang kaum beachteten Gattung der Radiomusiken der Weimarer Republik leistet. Nicht zuletzt soll es – ganz im Sinne Edmund Nicks und Erich Kästners – gelingen den Hörer für das Musikerlebnis dieser sozial so ambivalente Zeit mit künstlerischen Mitteln zu interessieren.

Uwe Schneider und Ernst Theis

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