„Vielleicht doch schon ein wenig zu spät?“

Engelbert Humperdinck mit seiner Ehefrau Hedwig unter den Besuchern der Bayreuther Festspiele im Juli 1904.
Bayreuth war für den jungen Humperdinck der künstlerische Dreh- und Angelpunkt. 1880 hatte ihn Richard Wagner eingeladen, bei den Vorbereitungen zum „Parsifal“ mitzuwirken. Richard Wagners Tod bedeutete für Humperdinck den Verlust eines einflussreichen Mentors und Freundes. Die Zeit mit Richard Wagner „darf ich wohl für eine der anregendsten und erhebendsten Momente meines Lebens halten“, so Humperdinck nach eigener Aussage. Einen Monat nach Wagners Tod brach Humperdinck im März 1883 zu einer Reise durch Spanien und Algerien auf. Gesundheitlich angeschlagen und noch um Wagner trauernd, kehrte er ein Viertel Jahr später wieder nach Deutschland zurück. Im Kopf aber trug er seine klingenden Reiseeindrücke mit sich: Den Stoff und das motivische Material für seine „Maurische Rhapsodie“.
© Foto aus dem Booklet
Engelbert Humperdinck: Maurische Rhapsodie
Wider Erwarten lesen wir Engelbert Humperdincks Namen nur selten auf den Programmzetteln der Gewandhauskonzerte. Und das, obwohl ihn doch Richard Wagner und Richard Strauss nach besten Kräften förderten.
Letzterer war auch der Dirigent der Uraufführung seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ 1893 am Weimarer Hoftheater. Obwohl seitdem „Hänsel und Gretel“ regelmäßig auf dem Spielplan der Leipziger Oper steht, schenkt ihm das Gewandhausdirektorium offensichtlich wenig Beachtung.
Zwar interessiert sich der Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch für Humperdincks Werk – kommt doch auch dieser wie d’Albert aus dem Lager der so genannten Neudeutschen –, platziert aber merkwürdigerweise dessen Kompositionen lediglich fünfmal in seiner Amtszeit auf den Konzertplänen. Immerhin kann erstmals im November 1896 das Gewandhauspublikum die Einleitungen zum 2. und 3. Akt des Opernmelodrams „Die Königskinder“ erleben, also schon im Vorjahr der Uraufführung des Bühnenwerkes am Münchner Hoftheater!
1910 führt Nikisch als „Novität“ die ersten beiden Sätze „Tarifa“ und „Tanger“ aus der „Maurischen Rhapsodie“ erstmals auf. Reichlich spät, finden die Leipziger Kritiker und tadeln obendrein, dass die in Leipzig noch unbekannte Komposition nicht einmal „vollständig vorgestellt“ worden war.
Und weiter heißt es dann: „Nach zwölf Jahren fand der beste Teil dieses liebenswürdigen und meisterlich gearbeiteten Werkchens seinen Weg ins Gewandhaus; wie der respektvolle Achtungsbeifall verriet, vielleicht doch schon ein wenig zu spät?“, so die „Leipziger Neuesten Nachrichten“.
Aber auch der Komponist muss sich Kritik gefallen lassen: „Man verliert nicht gerade sehr viel, wenn man diese Musik nicht kennt, aber man wundert sich doch, daß solche Werke, die nach keiner Seite hin moderne Ausschreitungen kultivieren, aber unbedingt ein gewisses Inter- esse beanspruchen dürfen, im Gewandhaus so lange ignoriert werden“, schreibt die „Leipziger Volkszeitung“.
Und weiter: „Tarifa (Elegie bei Sonnenuntergang) ist ein Stimmungsbild mitteleuropäischer ‚Zeitrechnung’, obwohl der monotone Anfang mit der hochliegenden Violinmelodie etwas Besonderes bietet; nur hat man das Gefühl, daß diese Art der Monotonie stärker der traurigen Hirtenweise im Tristan das Dasein verdankt als irgendwelchen Elegieempfindungen auf Tarifa. Dennoch gehört gerade dieser Anfang zum Besten, die Fortsetzung mutet immer mehr wie neudeutsche Stimmungsmusik an, der originale Kraft so gut wie ganz abgeht. Es war aber immerhin bezeichnend, daß dieses schöngefaßte, langsame Stimmungsstück bedeutend besser gefiel als das zweite: Tanger (Eine Nacht im Mohrencafé), dem das, was es haben möchte, lebenssprühende Lebendigkeit, fast ganz abgeht. Hier sieht man Humperdinck, dem die künstlerische Lebensfreude schon lange abhanden gekommen ist, deutlich genug.“
Erst die Nachricht vom Tod des „Hänsel und Gretel-Komponisten“ liefert den nächsten Anlass für eine Aufführung seiner Musik im Gewandhaus. Zu seinem Gedächtnis († 27. September 1921 in Neustrelitz) nimmt Nikisch – nun ganz spontan – die Einleitung zum 3. Akt aus „Die Königskinder“ im Programm des 20. Oktober 1921 auf.
Nur ein halbes Jahr später stirbt auch der Gewandhauskapellmeister. Nach Nikischs Tod gerät Humperdincks Name im Gewandhaus für über zwanzig Jahre in Vergessenheit.
Erst unserer Rundfunkaufzeichnung im März 1945 ist es zu verdanken, dass seine „Maurische Rhapsodie“ ihre vollständige Leipziger Erstaufführung erfahren darf: diesmal mittels des Radios …
Dr. Steffen Lieberwirth
© Text aus dem Booklet