
Edition Gewandhausorchester Vol. 1 VKJK 1109
Seiteninhalt
→ CD-Inhalt
→ CD-Onlineshop und Hörbeispiele
→ Downloads und Streamings
→ „Achtung – Achtung! Hier ist der Mitteldeutsche Rundfunk! …“
→ „Wir schalten jetzt um in das Neue Gewandhaus Leipzig!“
→ In Wachs geschnittener Klang
→ Authentischer Klang
→ Vertraulich!
→ Ungewohnte Aufgaben
→ „Dämmerstunde“
→ CD-Besprechungen
→ Weitere CDs mit Hermann Abendroth

Das Neue Gewandhaus von 1884. Fotografie um 1940
© Foto aus dem Booklet – Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Mit der vorliegenden CD beginnt das querstand-Label in Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR Figaro) und dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) die Herausgabe einer neuen CD-Serie.
Sie enthält Aufnahmen des Gewandhausorchesters, die in den Jahrzehnten seit 1940 eingespielt wurden und seither in den Archiven schlummerten.
Zahlreiche Schätze warten darauf, gehoben zu werden und dem Hörer von heute zum einen die verblüffende Kontinuität in der Kultivierung bestimmter Klangaspekte des Orchesters, zum anderen aber natürlich auch die immense spiel- wie produktionstechnische Weiterentwicklung in diesen Jahrzehnten zu demonstrieren.
Der erste Teil der CD-Serie enthält mit dem Festlichen Präludium op. 61 für großes Orchester und Orgel von Richard Strauss eine Besonderheit im doppelten Sinne. Zum einen handelt es sich um eine der ältesten bisher in den Archiven aufgefundenen Aufnahme des Gewandhausorchesters (März 1940), die zudem noch auf von innen nach außen abtastbaren Schellackplatten aufgezeichnet wurde, zum anderen ist es die bisher einzige bekannte Aufnahme, auf der die Walcker-Orgel im Großen Saal des Zweiten Gewandhauses zu hören ist, die zusammen mit dem ganzen Haus vier Jahre später bei einem Bombenangriff zerstört wurde.
Die im Anschluß an eine Nordafrikareise des Komponisten entstandene Maurische Rhapsodie von Engelbert Humperdinck zählt ebenso wie Eugen d’Alberts Cellokonzert (hier mit dem Berliner Cellovirtuosen Adolf Steiner als Solist) zu den heute nur selten zu hörenden Werken.
Hermann Abendroth und das Gewandhausorchester Leipzig
Richard Strauss 1864 – 1949
1 Festliches Präludium op. 61 (für großes Orchester und Orgel) → Gewandhaus-Werkgeschichte
Aufnahme: Reichssender Leipzig, 5. März 1940
Aufnahmeort: Großer Saal des Neuen Gewandhauses von 1884
Orgel: Walcker-Orgel des Neuen Gewandhauses von 1884
Der Organist ist nicht namentlich überliefert, vermutlich Günter Ramin
Originalquelle: Vier Rundfunkschallplatten von innen nach außen abtastend
Verlag: Keine Verlagsangaben
Eugene d’Albert 1864 – 1932
2 Konzert für Violoncello und Orchester C-Dur, op. 20 → Gewandhaus-Werkgeschichte
Adolf Steiner: Violoncello
Aufnahme: Reichsrundfunk, 6. November 1944
Aufnahmeort: „Concordia-Festsaal“, Leipzig-Gohlis
Originalquelle: Magnetbandaufzeichnung 77,1 cm/s
Verlag: Forberg
Engelbert Humperdinck 1854 – 1921
Maurische Rhapsodie → Gewandhaus-Werkgeschichte
3 Tarifa: Elegie bei Sonnenuntergang
4 Tanger: Eine Nacht im Mohrencafé
5 Tetuan: Ritt in der Wüste
Aufnahme: Reichsrundfunk, 12. März 1945
Aufnahmeort: „Concordia-Festsaal“, Leipzig-Gohlis
Originalquelle: Magnetbandaufzeichnung 77,1 cm/s
Verlag: Schott
CD total time: 1:14:27
CD-Onlineshop und Hörbeispiele
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Der Leipziger Markt mit dem Alten Rathaus zur Frühjahrsmesse: In der Bildmitte ist die fahnengeschmückte Alte Waage, der Sitz der Mitteldeutschen Rundfunk-AG bis 1929 zu erkennen. Leipzig zählt Ende der Dreissiger Jahre über 700.000 Einwohner.
© Foto aus dem Booklet – Stadtarchiv Leipzig
„Liebe Hörer, überlegt einmal:
Abend für Abend, Tag für Tag streut der Rundfunk Literatur und Musik in die Runde, ein Wegbereiter aller Künste.
Darin liegt der Kulturwert des Rundfunks!
Er nimmt den Künstlern kein Brot, er bringt ihnen Brot, nicht nur durch sich selbst, sondern durch die Steigerung des Verlangens nach Kunst,
das später befriedigt sein will in den Konzertsälen und Theatern.“ (1930)
Julius Witte
Künstlerischer Leiter der Mitteldeutschen Rundfunk-AG
„Achtung – Achtung! Hier ist der Mitteldeutsche Rundfunk! …“
In der hochsommerlichen August-Hitze des Jahres 1928 knattert ein Lastkraftwagen über Leipzigs Marktplatz. Sein Frachtgut sind große Kisten und mannshohe Metallschränke, die ebenso behutsam wie bedacht verstaut worden waren.
Soweit wäre das nichts Ungewöhnliches, würde seine Bordwand nicht ein runder Schriftzug mit der auffälligen Werbeaufschrift „Mirag“ zieren. Das speichenberäderte Gefährt hat keinen langen Transportweg vor sich, denn schon nach wenigen Metern hält es vor dem stattlichen Marktgebäude mit der Hausnummer 8. Leuchtbuchstaben verraten uns, dass hier die Mitteldeutsche Rundfunk-AG – kurz „Mirag“ genannt – ihre neuen Sende-, Betriebs und Technikräume einrichten will. Das wird auch allerhöchste Zeit, denn die seit der Frühjahrsmesse 1924 genutzten bisherigen Studio-Räume im Leipziger Messeamt (der „Alten Waage“ am Markt) sind längst viel zu klein für das expandierende und zukunftsweisende Medium Radio geworden.
Immerhin erreicht der Mitteldeutsche Rundfunk schon 300.000 angemeldete – also „zahlende“ – Haushalte. Gesendet wird, bis auf die so genannten Schallplattenkonzerte aus dem Funkhaus, immer live (!) und vor Ort.
Favoriten sind Opernübertragungen aus der Dresdner Semperoper, dem Nationaltheater Weimar oder dem Leipziger Neuen Theater.
Für Konzerte besitzt die „Mirag“ mit dem Leipziger Sinfonieorchester sogar ein eigenes Rundfunkorchester. Dessen Spielstätte ist die zum Sendesaal umfunktionierte „Alte Handelsbörse“ auf dem Naschmarkt.
Und das Gewandhausorchester? Es taucht bis dahin im Radio mit seinen Konzerten gar nicht auf!
Das ist für die „Mirag“ beileibe kein Fauxpas, wird doch die einschlägige Konzertliteratur naturgemäß durch den eigenen Klangkörper abgedeckt, den sich der Rundfunk für seine Sendungen leistet.
Aus Sicht der breit gefächerten Hörerschaft in Sachsen, Thüringen und der preußischen Provinz Sachsen (in etwa dem heutigen Sachsen-Anhalt entsprechend) aber ist das eine deutlich zu enge Programmpolitik und damit auf Dauer ein unhaltbarer Zustand, zumal das Dresdner „Mirag“- Funkhaus sogar zwei Orchester – die Sächsische Staatskapelle und die Dresdner Philharmonie – im Radio überträgt!
Mit dem Umzug in das neue „Mirag“-Domizil am Markt 8 soll das Programmangebot aus Leipzig nun deutlich hörbar erweitert werden.
„Nämlich: wer in diesen Tagen der Mirag (…) einen Besuch abstattete und kühn in den gewundenen Korridoren des altertümlich-vornehmen Hauses vordrang – in jenen Gängen, die sich weitläufig hinziehen wie die Stollenanlagen eines Bergwerkes –, der merkte an allerlei Anzeichen, daß der Leipziger Rundfunk eine Erweiterung seines Programms vorgenommen hat (…). Zwei riesige Geschosse stehen der Mirag zur Verfügung“, so die Leipziger Rundfunk-Hauszeitschrift „Die Mirag“ im April 1929.
Doch nicht nur die Erweiterung des Funkhauses selbst ist berichtenswert, sondern auch die im gleichen Atemzug geplanten technischen Installationen. Eine notwendige Voraussetzung, um demnächst neue Übertragungsstätten in das Sendeangebot einbinden zu können …
„Wir schalten jetzt um in das Neue Gewandhaus Leipzig!“

Antragsschreiben des „Mirag“-Intendanten Dr. Ludwig Neubeck an das Leipziger Theater- und Musikamt zur Genehmigung für eine Rundfunkübertragung des Gewandhausorchesters vom 20. November 1931
Nun geht alles in Windeseile: Die „Mirag“ mietet im Gewandhaus (das damals noch im so genannten Musikviertel neben dem Reichsgericht steht) mehrere Nebenräume – zwischen dem Großen Concertsaal und dem Kammermusiksaal gelegen – an, um sie als Rundfunkstudio auszubauen.
Ihre Funktionstüchtigkeit hat die neue „Mirag-Besprechungsstelle“ im Gewandhaus (wir würden heute kurz Außenübertragungs-Stelle dazu sagen) mit der Liveübertragung des Neujahrskonzertes des Gewandhausorchesters am 1. Januar 1930 zu beweisen. Und so können an diesem Abend die Hörer an ihren Rundfunkgeräten im gesamten mitteldeutschen Raum erstmals das Gewandhausorchester mit Regers Orgelfantasie op. 40 Nr. 1 mit dem Thomasorganisten Günther Ramin an der Walcker-Orgel des Neuen Gewandhauses, Mozarts Motette „Exultate, Jubilate“ KV 165 und Anton Bruckners 5. Sinfonie B-Dur unter der Leitung von Gewandhauskapellmeister Bruno Walter im heimischen Wohnzimmer erleben. Und das in einer Zeit, in der die Weltwirtschaftskrise binnen Jahresfrist allein in Deutschland zahllose Unternehmen in den Konkurs treiben wird und die Arbeitslosigkeit auf die Sechs-Millionen-Marke zusteuert, so dass selbst so große Kulturinstitute wie das Leipziger Gewandhaus und das Konservatorium in existenzielle Not geraten.
So wird wohl dem Gewandhaus das Ansinnen der „Mirag“, das Gewandhausorchester regelmäßig zu übertragen, sehr willkommen gewesen sein.
Im Juli 1931 unterzeichnen schließlich nach langwierigen Verhandlungen der „Mirag“-Intendant und das „Theater- und Musikamt der Stadt Leipzig“ – als Träger des Gewandhausorchesters – einen Vertrag mit dem Passus, „pro Jahr drei Gewandhauskonzerte für 10.000 RM mitzuschneiden und ins Programm aufzunehmen“.
Theoretisch müsste demnach eigentlich das Deutsche Rundfunkarchiv gut bestückt sein mit Aufnahmen von Originalübertragungen des Gewandhausorchesters aus den 30-er Jahren!
Nun ist dem nicht so, denn technisch ist es damals nicht einfach, das sich sofort verflüchtigende Live-Ereignis auf einem Tonträger festzuhalten.
Das Tonband ist noch nicht erfunden und so kommt nur der so genannte Plattenschneider in Frage; eine Apparatur, die Rundfunktechniker für ihre Sendezwecke entwickelt hatten.
Trotz ihres hohen Gewichtes und der schwierigen Handhabung bewährt sich die Wachsplatte als Aufzeichnungsmedium für ein Jahrzehnt im Rundfunkalltag. Leider ist sie aber nur einmal abspielbar. Erst durch die Herstellung einer Schellack-Kopie wird der mehrfache Musikeinsatz möglich. Jetzt endlich kann der Plan, ein eigenes Schallarchiv mit Eigenproduktionen aufzubauen, in die Tat umgesetzt werden.
Die Produktion eigener kleiner Stücke von drei bis vier Minuten Spieldauer bildet auch kein großes Problem. Schwierig bis gänzlich unmöglich aber ist noch die Aufnahme langer Sinfonien und Opern.
Fieberhaft suchen die Rundfunktechniker nach Lösungen. Wie müssten Maschinen funktionieren, die später auch eine nahtlose Wiedergabe in der Radiosendung ermöglichen könnten?
Schellackplatten und die hierfür notwendigen Aufnahmewachse mit 78er Tourenzahl erlaubten allenfalls eine Aufnahmekapazität von maximal viereinhalb Minuten pro Platte.
Um nun eine unterbrechungsfreie Aufzeichnung zu gewährleisten, sollten sich die Aufzeichnungen auf den Wachsplatten überblenden lassen. Eine „Überlappungsstelle“ wäre die Lösung!
Das bedeutet nichts anderes, als dass die letzten 30 Sekunden einer Plattenseite auf der nächsten Platte schon mit aufgenommen werden müssten. Dies könnte erreicht werden, indem zwei Plattenschneidgeräte parallel zum Einsatz kämen. Die zweite Maschine würde kurz vor Ablauf der ersten Maschine zugeschaltet, so dass beide Geräte nun für kurze Zeit gleichzeitig das Audiosignal aufzeichneten. Dieser Vorgang müsste dann so oft wiederholt werden, bis das komplette Werk mitgeschnitten war.
Die Wiedergabe des Mitschnitts in der Radiosendung hätte dann mittels zweier Plattenspieler zu erfolgen. Die Kunst des Sendetechnikers bestünde darin, innerhalb der Überlappungsstellen der Schallplatten den jeweils günstigsten Zeitpunkt zum Umschalten von Maschine „A“ auf Maschine „B“ anzupeilen und auszuführen. Ein mühsames und vor allen Dingen mit vielen Risiken behaftetes Verfahren. Eine Übersteuerung, ein falscher Handgriff oder nur ein Fehler auf einer der erwärmten Wachsplatten hätte genügt, um die ganze Aufnahme zu ruinieren.
Anders als bei Industrietonträgern, die ohne diese Überlappungsstelle auf den Schallplatten arbeiteten, wäre es nämlich nicht möglich gewesen, nur eine Plattenseite stillschweigend durch eine Neuaufnahme zu ersetzen. Der Musikfluss wäre durchbrochen gewesen, der musikalische Bogen verloren – für eine seriöse Konzertaufzeichnung ein unhaltbarer Zustand!
Was sich hier noch hochkompliziert und visionär liest, wird zum Ende der zwanziger Jahre nun für ein ganzes Jahrzehnt zur gängigen Aufnahme- und Sendepraxis in den Rundfunkstudios und Funkhäusern, die jedoch auch die Archivare vor ein großes Problem stellt.
Der so entstandene Mitschnitt oder die Produktion einer Sinfonie, geschweige denn einer ganzen Oper besteht am Ende nicht selten aus einem Dutzend oder – im Falle einer Wagner-Oper – aus mehr als 40 einseitig bespielten, sehr zerbrechlichen Schellackplatten, die zudem auch noch ein enormes Gewicht haben. (Faustregel: Drei Platten mit einem Abspieldurchmesser von 30 cm – dem Durchmesser einer später gängigen Langspielplatte – wiegen etwa ein Kilo!). Von jeder Platte wurde aber nur eine bestimmte, geringe Anzahl für den Rundfunkbetrieb hergestellt. – Der Verlust auch nur einer Platte machte die ganze Aufnahme unbrauchbar.
Nun kann man sich vorstellen, welche enormen Schäden in den Schallarchiven durch Kriegseinwirkung entstanden sind.

(links oben)
57580: Lzg 57580 Hakenkreuz später überklebt. Höchstwahrscheinlich Originalbeschriftung. Matrizennummer mit Bleistift (möglicherweise nachträglich hinzugefügt).
(rechts oben)
57582V: Vorderseite von Lzg57582, ursprüngliches Label (Schallaufnahme des Deutschen Rundfunks ohne Hakenkreuz!) später überklebt. Wann die Überklebung erfolgte, ist unklar.
(links unten)
57579: Lzg 57579 unverändertes, aber unbeschriftetes Originaletikett. Matrizennummer mit Bleistift (möglicherweise nachträglich hinzugefügt).
(rechts unten)
57582R: Rückseite von Lzg 57582, zusätzlicher Aufkleber auf der unbespielten Rückseite.
Vom „Festlichen Präludium“ sind zwei Sets mit Originaltonträgern überliefert. Ein Set ist vollständig erhalten und umfasst vier einseitig bespielte Schellackplatten (3 mit 30 cm Durchmesser, 1 mit 25 cm Durchmesser). Vom zweiten Set fehlt die dritte Platte. Heute werden die Platten sachkundig vom Deutschen Rundfunkarchiv [DRA] in Frankfurt am Main für die Nachwelt erhalten.
Authentischer Klang
Umso sensationeller ist es, dass unsere auf dieser CD veröffentlichten Rundfunkplatten unbeschadet die Wirren wechselvoller Jahrzehnte und die damit verbundenen mehrfachen Transporte überstanden haben! Eindrucksvoll belegt durch die verschiedenen Label-Aufdrucke und -Überklebungen.
Das am 5. März 1940 auf vier – von innen nach außen (!) abzuspielenden – Rundfunkplatten festgehaltene „Festliche Präludium“ von Richard Strauss ist ohne Zweifel ein echter Glücksfall.
Mit dieser Aufnahme erleben wir quasi ein „Echo“ aus vergangener Zeit! Ein einmaliges Zeitdokument, denn so hat er geklungen, der 1884 erbaute Große Concertsaal im Neuen Gewandhaus!
Mehr noch: Wir haben hier die einzige Aufnahme vor uns, auf der die Walcker-Orgel des Gewandhaussaales zu hören ist.
Es ist jenes Instrument, auf dem Anton Bruckner einen Tag vor der Uraufführung seiner 7. Sinfonie im Dezember 1884 ein erstes Orgelkonzert gegeben hatte und auf der die Thomaskantoren Karl Straube und Günther Ramin vielfach als Virtuosen zu erleben waren.

Die Walcker-Orgel im Großen Saal des Neuen Gewandhauses von 1884
© Foto aus dem Booklet – Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Richard Strauss: Festliches Präludium für Orgel und Orchester op. 61
Aufnahme: Reichssender Leipzig, 5. März 1940
Aufnahmeort: Großer Saal des Neuen Gewandhauses von 1884
Orgel: Walcker-Orgel des Neuen Gewandhauses von 1884
Der Organist ist nicht namentlich überliefert, vermutlich Günter Ramin
Originalquelle: Vier Rundfunkschallplatten von innen nach außen abtastend
Zurück zum Radioprogramm der ausgehenden 1930-er Jahre. Neben Konzertübertragungen und Rundfunkaufnahmen aus dem Gewandhaus bestimmen jetzt zunehmend andere Töne den Sendeablauf. So lässt Joseph Goebbels „seinen“ Rundfunk Märsche blasen, die immer unverhohlener den bevorstehenden Feldzug ankündigen. Zunächst scheint alles „gut“ zu gehen. Hitlers Armeen siegen. Deutschland und sein Rundfunk erobern halb Europa.
„Fatale Konsequenz: Immer mehr Einberufungen zur Wehrmacht sowie volkswirtschaftliche Umstrukturierungen (Rüstungsbetriebe) machen es unmöglich, alle Reichssender im vollen Leistungsumfang zu betreiben. An deren Stelle tritt nun das ‚großdeutsche Einheitsprogramm‘.
Zunächst werden Leipziger Eigenproduktionen wie die Sendungen klassischer Sinfoniekonzerte auf ein Minimum (eins pro Woche) reduziert.
Das wird an den abgespeckten Programmübersichten in den Rundfunkzeitungen immer sichtbarer.“ Zudem schrumpft „im Zuge fortlaufender Berlin-Zentralisierung einerseits sowie verstärkter Einberufungen zum Wehrdienst andererseits der Rundfunk in Leipzig im Laufe des Jahres 1941 zur Bedeutungslosigkeit.
Am 10. März überträgt der Leipziger Sender ein letztes Mal ein Sinfoniekonzert mit seinen eigenen Klangkörpern. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis Orchester und Chor entbehrlich sind. Die Musiker und Sänger erhalten entweder einen Einberufungsbefehl oder werden zu anderen Sendern abkommandiert.
Den Blick hinter die Kulissen öffnet eine handschriftliche Geheimnotiz aus der Korrespondenz zwischen Reichsmusikkammer und Reichskulturkammer vom November 1942:
Danach ‚soll der RS Leipzig nach der neuesten Entscheidung des Herrn Ministers völlig geschlossen werden! Vertraulich zu behandeln!‘
So weit gehen also bereits 1942 die Überlegungen des Propagandaministers!“, schreibt Jörg Clemen in der MDR-Programmzeitschrift „TRIANGEL“.
Dabei hatte der Sender doch bereits reichlich Tribut gezahlt. Nun soll der Reichssender Leipzig auch noch zum „Ersatzteilspender“ für den so genannten Großdeutschen Rundfunk werden:
Etwa 100.000 Schallaufnahmen des Leipziger Schallarchivs werden schließlich 1942 in die Reichshauptstadt verlagert, damals fast ein Drittel des gesamten deutschen Tonmaterials!
Darunter befinden sich auch unsere vier Rundfunkplatten mit dem „Festlichen Präludium“ …
1943 bekommen dann die Leipziger die hässliche Fratze des Krieges auch sichtbar in ihrer Stadt zu spüren:
In den Morgenstunden des 4. Dezember brennt das Neue Theater auf dem Augustusplatz aus und in der Nacht zum 20. Februar 1944 wird das Neue Gewandhaus von Fliegerbomben getroffen. Wertvolle Orchesterinstrumente, die Orgel sowie das Notenarchiv werden von den Flammen vernichtet.

Blick aus dem Foyer im Erdgeschoss auf den inneren Eingangsbereich und den Innenraum des ausgebrannten Neuen Gewandhauses. Boden und Decke des über dem Foyer liegenden Konzertsaales sind völlig zerstört.
© Foto aus dem Booklet – Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Ungewohnte Aufgaben …
Propagandistisch ist es nun höchste Zeit und befohlene Aufgabe des „Großdeutschen Rundfunks“, die Menschen vom Alltag mit seinen Entbehrungen und Verlusten, der Trauer um gefallene Angehörige und den Kriegsgräueln abzulenken.
Es klingt makaber, aber niemals zuvor hat der Rundfunk so viel Musik produziert. Ein bis dahin nicht gekanntes gewaltiges Produktionsvolumen entsteht. Und das in bislang ungehörter Tonqualität.

Blick in den Übertragungswagen mit dem „Olympia“-Verstärker von 1936 und einem AEG „Magnetophon-Gerät“ unterhalb des Fensters.
Aufnahmetechnisch sind jetzt die besten Voraussetzungen für Neueinspielungen geschaffen, denn das Tonband hat Einzug in die Rundfunkstudios gehalten und nun den Plattenschnitt abgelöst.
Zudem kann ein Magnetband klanglich weitaus mehr, als es die Schellackplatte jemals vermochte. Endlich kann man sich auch an die große romantische Opern- und Konzertliteratur in Gesamtaufnahmen heranwagen. Was für ein technischer und künstlerischer Quantensprung!
Doch mit wem soll produziert werden?
Das rundfunkeigene Sinfonieorchester war doch längst aufgelöst, ebenso der Rundfunkchor! Jetzt sind die Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester in der Pflicht! Mit denen wird in den Jahren 1944 und 1945 eine Aufnahmesitzung nach der anderen abgehalten.
Den Musikern wird diese (obwohl für sie noch abenteuerliche) Aufgabe eines „Rundfunkorchesters“ wohl über alle Maßen willkommen gewesen sein.
Die neue Funktion wird für sie sogar überlebenswichtig, vor allem für das Gewandhausorchester, kann Abendroth doch so verhindern, dass seine Gewandhausmusiker an die Front abkommandiert werden. Sie spielen buchstäblich um ihr Überleben! Zumal das Neue Gewandhaus als ihre traditionelle Auftrittsstätte ohnehin in Trümmern liegt …
Interimsspielstätten für die Gewandhauskonzerte finden sich, bis der offizielle Konzertbetrieb wegen des „Totalen Krieges“ Ende September 1944 gänzlich eingestellt wird, im Haus „Drei Linden“ in Lindenau und im Kino „Capitol“ in der innerstädtischen Petersstraße – für Rundfunkaufnahmen allerdings ungeeignete Räumlichkeiten. Wohl wäre dafür der ehemalige Sendesaal des Rundfunk-Sinfonieorchesters in der Alten Handelsbörse in Frage gekommen, wäre nicht auch dieses kleine Gebäude auf dem Naschmarkt in der gleichen Nacht wie das Neue Theater auf dem Augustusplatz im Bombenhagel ausgebrannt.

Die Concordia-Festsäle in der Gohliser Straße 30 stadtauswärts rechts eine Kreuzung vor der Friedenskirche

Schreiben der Reichs-Rundfunk GmbH an den Leipziger Oberbürgermeister vom 7. November 1944 mit der Mitteilung eines festen Sendeplatzes für die Aufnahmen des Gewandhausorchesters unter dem Sendetitel „Musik zur Dämmerstunde“.
Wo nun die Rundfunkmikrofone für die Gewandhausorchester-Aufnahmen aufgebaut werden, erfahren wir einzig und allein aus den Produktionsplänen des Reichsrundfunks, die uns zu den Concordia-Festsälen im Leipziger Vorort Gohlis führen.
Hier, in einem für das Gewandhausorchester viel zu engen und wegen des Kohlemangels ungeheizten Ballsaal, sitzen die Musiker auf knarrenden Stühlen, spielen zum Teil auf geliehenen Instrumenten.
Mikrofonleitungen führen auf die Straße zu einem Rundfunk-Übertragungswagen, dessen Bandmaschinen das Spiel im Saal aufzeichnen.
Ausgestrahlt werden die Aufnahmen jeweils freitags zwischen 17.15 und 18.30 Uhr vom Deutschlandsender aus Berlin; in der eigens für das Gewandhausorchester geschaffenen Sendung „Musik zur Dämmerstunde“ [sic!].
Auch das auf unserer CD wiederveröffentlichte Violoncellokonzert von d’Albert ebenso wie die „Maurische Rhapsodie“ von Humperdinck werden auf diesem abendlichen Sendeplatz angehört worden sein: hinter verdunkelten Fensterscheiben und falls die Sendung nicht durch die Meldung „Feindliche Bomberverbände im Anflug!“ unterbrochen wurde oder ausfiel.
Überliefert aus dieser dunklen Zeit sind uns nur die über Jahrzehnte archivierten Tonbänder.
Was aber in den Köpfen und Seelen der Gewandhausmusiker an jenem 12. März 1945 während der Aufnahme des melancholisch anmutenden Humperdinck-Werkes vorgegangen sein wird, können wir Nachgeborenen nicht einmal ansatzweise erahnen …
Steffen Lieberwirth
© Text aus dem Booklet
CD-Besprechungen
MDR FIGARO
Besprechung von Claus Fischer
Weitere CDs mit Hermann Abendroth und dem Gewandhausorchester
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