Beethoven ³
Seiteninhalt
→ CD-Inhalt
→ Silvester 1939 – Eine halbe Stunde vor Mitternacht
→ „An die Freude“ als deutschlandweite Radio-Botschaft
→ Spurensuche
→ „… die Nachwelt entscheidet darüber!“
→ „Herausgekommen ist ein Meisterwerk“
→ CD-Release-Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse
Mit Volume 4 unserer Gewandhaus-Editionsreihe wagen wir so etwas wie einen Dreiersprung, der uns mitten hinein in drei Jahrzehnte deutscher Geschichte führen wird; in die Jahre 1939, 1944 und 2011.
So unterschiedlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jeweils auch gewesen sind, gleich bleibt die Rolle des Rundfunks in seiner Eigenschaft als Musikproduzent und Zeitzeuge. Und das, obwohl wir es mit Aufnahmetechniken vom mechanisch arbeitenden Plattenschneider über die erste Magnetophon-Generation bis hin zur Digitalaufnahme zu tun haben. Dreimal geht es dabei um Beethovens Werke und wir kommen nicht umhin, uns die Frage zu stellen, ob auch Beethovens Neunte durch den Nationalsozialismus vereinnahmt wurde. Oder war es nicht vielleicht doch auch ein Lichtblick, den der Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth und das Gewandhausorchester den Menschen mit Beethovens Freudenbotschaft am ersten Kriegs-Silvesterabend, dem des Jahres 1939, offerieren wollten?
Wir wollen die Fakten nun gern selbst für sich sprechen lassen und heißen Sie wiederum herzlich willkommen zu einer spannenden Zeitreise in die Geschichte des Gewandhausorchesters.
Ludwig van Beethoven (1770 –1827)
1 Schlusschor über Schillers „Ode an die Freude“ für Orchester, vier Solostimmen und Chor aus der Sinfonie Nr. 9 d-Moll, op. 125
Lea Piltti Sopran
Charlotte Wolf-Matthäus Alt
Heinz Matthéi Tenor
Josef Greindl Bass
Gewandhausorchester Leipzig I Gewandhauschor Leipzig I Chor des Reichssenders Leipzig
Dirigent: Hermann Abendroth
Aufnahme einer Liveübertragung des Silvesterkonzertes aus dem Neuen Gewandhaus durch den Reichssender Leipzig am 31. Dezember 1939
Originalquelle: Sieben Rundfunkschallplatten von innen nach außen abtastend
(Matr.-Nr.: 56977-56983) aus dem DRA Frankfurt
2 Mitternachts-Geläut der Deutschen Glocke am Rhein (St. Petersglocke des Kölner Domes) Originalquelle: Rundfunkschallplatten aus dem DRA Frankfurt
Ludwig van Beethoven
Sinfonie Nr. 8 F-Dur, op. 93
I. Allegro vivace e con brio
II. Allegretto scherzando III. Tempo di Menuetto IV. Allegro vivace
Gewandhausorchester Leipzig
Dirigent: Hermann Abendroth
Rundfunkaufnahme für die Sendereihe „Musik zur Dämmerstunde“, ausgestrahlt über den Deutschlandsender am 27. Dezember 1944
Aufnahmeort: Concordia-Festsaal Leipzig-Gohlis
Originalquelle: Rundfunk-Magnetband 77,1 cm/s aus dem DRA Frankfurt
Friedrich Cerha (1926)
Paraphrase über den Anfang der 9. Symphonie von Beethoven
Gewandhausorchester Leipzig
Dirigent: Riccardo Chailly
Ein Auftragswerk des Gewandhauses zu Leipzig 2010
Aufzeichnung der Uraufführung am 6. Oktober 2011 im heutigen Neuen Gewandhaus Leipzig
Originalquelle: Gewandhausmitschnitt
Booklettext und Redaktion: Dr. Steffen Lieberwirth, MDR
Digital CDRemastering: Matthias Helling, DRA
Fachberatung: Jörg Wyrschowy, DRA · Claudius Böhm, Dr. Jens-Uwe Völmecke
Silvester 1939 – Eine halbe Stunde vor Mitternacht

Zeitungsartikel der „Leipziger Neuesten Nachrichten“
Weitere Leipziger Veranstaltungs-Anzeigen in dieser Silvesterausgabe 1939:
Neues Theater – Berlioz, Oper „Carmen“ Alberthalle des Krystallpalastes – Beethoven, „Missa Solemnis“
Leipziger Krystallpalast – Paul-Lincke-Revue „Donnerwetter Tadellos“
Kino Capitol – Kristina Söderbaum im Tobis-Film „Die Reise nach Tilsit“,
Drehbuch und Regie Veit Harlan
Kino City Promenadenstraße 8 – Kinofilm „Premiere der Butterfly“ mit Maria Cebotari, Lucie Englisch und Paul Kemp
Der Kalender zeigt uns mit dem 31. Dezember den letzten Tag des Jahres 1939 an.
Anders als in den Jahren zuvor erscheint kriegsbedingt nur noch eine Tageszeitung in Leipzig. Und in der scheint neben seitenfüllender markiger Kriegspropaganda und Traueranzeigen über Kriegsgefallene eine kleine Kultur-Meldung ziemlich unterzugehen, obwohl sie ob ihres Inhaltes wie ein Lichtblick neben Hitlers, Görings und Mutschmanns säbelrasselnden Parolen erscheint.
Es ist die Ankündigung, dass die „Neujahrsfeier des Großdeutschen Rundfunks“ in jenem ersten Kriegs-Silvester 1939 aus Leipzig kommen würde.
Für diese Rundfunkübertragung hat Abendroth mit der Sopranistin Lea Piltti von der Wiener Staatsoper, der gebürtigen Leipziger Altistin Charlotte Wolf-Matthäus, dem Tenor Heinz Matthéi aus Lübeck und dem dann wenige Jahre später in Bayreuth als Hunding gefeierten Bassisten Josef Greindl eine erstklassige Solistenbesetzung engagiert.
Apropos: Für Charlotte Wolf-Matthäus ist der Auftritt mit dem Gewandhausorchester fast schon Routine, hat die gefeierte Oratoriensängerin doch schon seit Anfang der 1930er Jahre bei den von Karl Straube geleiteten und vom Rundfunk europaweit übertragen Bach-Kantaten mitgewirkt (Edition Gewandhausorchester Vol. 3). Und die finnische Sängerin Lea Piltti hatte 1933 sogar im Gewandhaus ihre Europakarriere begonnen. Heinz Matthéi und Josef Greindl hingegen geben ihr Leipziger Debüt. Sie treten an diesem Silvesterabend erstmals im Gewandhaus auf.
„An die Freude“ als deutschlandweite Radio-Botschaft
Wie sich der Silvester-Abend für die Rundfunkhörer an ihren Radioapparaten gestalten würde, recherchieren wir in vergilbten Rundfunkzeitschriften.
Danach sendeten bis 23.30 Uhr alle deutschen Reichssender jeweils eigene Unterhaltungsprogramme.
Aus Leipzig gab es bis dahin „Tanzmusik in die Silvesternacht“.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht schaltet dann der Reichssender Leipzig als „Gebende Rundfunkanstalt“ die Übertragungsleitungen ins Neue Gewandhaus, wo der Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth und das Gewandhausorchester schon auf das Kommando „Ruhe! Sendung!“ warten. Die Übertragung von Beethovens „Freudenbotschaft“ in der Silvesternacht 1939 scheint dem Leipziger Radiosender so bedeutend und erhaltenswürdig, dass er die Live-Sendung gleichzeitig aufzeichnet.
1939 verwendet der Rundfunk zu Aufnahmezwecken sogenannte Plattenschneider, die das Tonsignal in erwärmte Wachs-Matrizen eingraviert.
Für den Mitschnitt des Finalsatzes der Neunten müssen bei einer Umdrehungsgeschwindigkeit von 76cm/s und bei einer Spieldauer von über fünfundzwanzig Minuten sieben solcher Matrizen bereitgehalten werden. Davon lassen sich dann Schellackplatten in einer Kleinstauflage von wenigen Stück zu Abhör- und Aufbewahrungszwecken pressen.
Glücklicherweise haben alle sieben Rundfunk-Schellackplatten die Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit überstanden und werden heute wohlbehütet als Originaltonträger im Deutschen Rundfunkarchiv im Frankfurt am Main aufbewahrt.
Eigens für unsere CD-Veröffentlichung wurden diese Unikate nach über siebzig Jahren wieder zur Hand genommen und mittels heutiger Rundfunktechnik abgetastet.
⇒ weitere Details zum Plattenschneideverfahren
Doch versetzen wir uns noch einmal zurück in das Hörerlebnis am Rundfunkempfänger in jener Silvesternacht des Jahres 1939:
Nach dem freudvollen Ausklang der Neunten überträgt der Rundfunk um Mitternacht das eindrucksvolle Geläut des Kölner Domes mit der St. Petersglocke, der größten freischwingenden Kirchenglocke der Welt.
Den ersten Tag des Kriegsjahres 1940 eröffnet der Filmschauspieler Heinrich George mit dem martialischen „Bekenntnis“ aus der Feder des preußischen Generals Carl von Clausewitz. Obwohl auch diese Aufnahme im Originalton im Deutschen Rundfunkarchiv erhalten ist, wollen wir hier von einer Wiedergabe wegen ihrer kriegsverherrlichenden „Tonart“ bewusst absehen.
⇒ weitere Details zur St. Petersglocke

„Festakt im Gewandhaus“ 1940. Gut zu erkennen sind die Neumann-Mikrofone für die Rundfunkübertragung.
Spurensuche
Während der Spurensuche im Gewandhausarchiv nach weiterführenden Dokumenten machen Hinweise des Gewandhausarchivars Claudius Böhm deutlich, wie problematisch dieses Silvester-Konzert in die Gewandhausgeschichte einzuordnen ist, wenngleich der dokumentarische und künstlerische Wert der Aufnahme dabei keineswegs geschmälert oder in Frage gestellt wird.
Um das nachzuvollziehen, wollen wir zurückblicken in das Jahr 1918:
Damals hatte das Allgemeine Arbeiter-Bildungs-Institut für die Silvesternacht zu einer „Friedens- und Freiheitsfeier“ in die Alberthalle des Leipziger Krystallpalastes eingeladen.
Fast dreitausend Zuhörer gedachten an jenem Abend mit Beethovens Freudenbotschaft aus der Neunten Sinfonie den tausenden Gefallenen und dem weltweit herbeigesehnten Ende des Ersten Weltkrieges.
Am Dirigentenpult stand Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch und konnte in jener Nacht eine Tradition begründen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst wieder aufgegriffen und vom Gewandhausorchester seitdem bis heute fortgeführt wird.
1939 aber sind für das Silvesterkonzert gänzlich andere Vorzeichen gesetzt:
Die nationalsozialistische Staatsdoktrin mit ihren Machtinstrumenten und ihrer menschenverachtenden Rassenideologie schließt auch das traditionsreiche Gewandhaus nicht von restriktiven Entscheidungen aus.
Die Gewandhauschronik berichtet: „Ein erster Schritt auf diesem Wege war die rigorose Einschränkung der Befugnisse der Gewandhausdirektion. Keine Entscheidungen über die Geschicke des Gewandhausorchesters konnten nunmehr selbständig getroffen werden, da das Direktorium systematisch mit neuen, dem Staat ergebenen Mitgliedern besetzt wurde. Selbst bedeutende Persönlichkeiten wie die bekannten Verleger Max Brockhaus und Anton Kippenberg konnten die rücksichtslosen Eingriffe des autoritären Staats- und Parteiapparates nicht verhindern.“

Max Brockhaus spricht im Großen Saal des Neuen Gewandhauses.
© Foto aus dem Booklet – Stadtarchiv Leipzig
Ihre Machtlosigkeit wurde ihnen wohl schon ganz zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft klar, als Brockhaus es nicht vermochte, den Gewandhauskapellmeister Bruno Walter wegen dessen jüdischer Herkunft wenigstens noch vorübergehend gegen den Willen der Behörden zu halten.
Konzertmeister Leo Schwarz war das zweite prominente Opfer aus den Reihen des Orchesters. Er wurde ein Jahr später fristlos entlassen.
Das Gewandhausorchester verhielt sich öffentlich passiv zu allen Vorfällen: „Die relative Sicherheit, die der einzelne Gewandhausmusiker jetzt genoss – und die Unsicherheit während der Weltwirtschaftskrise war auch diesen beamteten Musikern deutlich spürbar gewesen –, verleitete wohl machen, über die Politisierung seines Berufes hinwegzusehen. Das Orchester als ganzes genoss im damaligen Deutschen Reich großes Ansehen, vergleichbar vielleicht dem Berliner Philharmonischen Orchester“, so die Gewandhauschronik. Das erklärt auch das politische Interesse des „Großdeutschen Rundfunks“, an dem vielleicht einschaltquotenstärksten Radioabend – und noch dazu unmittelbar vor Mitternacht – das Gewandhausorchester aus seiner Wirkungsstätte zu übertragen.
Programmzettel oder Eintrittskarten für die Silvesterfeier suchen wir im Gewandhausarchiv und im Leipziger Stadtarchiv vergebens.
Das lässt vermuten, dass es sich um eine geschlossene Veranstaltung des Leipziger Stadtrates oder des Reichsrundfunks gehandelt haben könnte. Im Gewandhaus werden wohl nur hohe Funktionäre und deren geladene Gäste gesessen haben.
Ob aber dem Gewandhausdirektorium an diesem Übergang in das Jahr 1940 zum Feiern zumute war, das muss bezweifelt werden, denn auch juristisch reglementierte jetzt die nationalsozialistisch stramm agierende Stadtverwaltung immer spürbarer die seit fast zweihundert Jahren hoheitlich in bürgerlicher Eigenregie getroffenen Gewandhausentscheidungen.
Aus der anfänglichen Verunsicherung zur Zukunft des Hauses soll schon im September 1940 Gewissheit werden: „Das Gewandhaus-Direktorium wird nun in eine Stiftung ‚Gewandhaus in Leipzig’ umgewandelt, in die alles Vermögen und das Kon- zerthaus samt Grundstück eingehen. Kurator ist der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, der die Geschäftsführung beaufsichtigt, die Mitglieder des Direktoriums und dessen Vorsitzenden beruft sowie Verträge mit dem Kapellmeister und dem Geschäftsführer schließt. Vorsitzender des Direktoriums bleibt auf Grund seines internationalen Ansehens der Verleger Anton Kippenberg, seit 1905 Leiter des von ihm gegründeten Inselverlages“, so nachzulesen in der Dokumentation „Das Leipziger Stadt- und Gewandhausorchester“.
Aber auch Kippenberg muss tatenlos zusehen, wie von Monat zu Monat immer mehr Gewandhausmusiker als Soldaten eingezogen und an die Front kommandiert werden.
„… die Nachwelt entscheidet darüber!“
„… die Nachwelt entscheidet darüber!“ … Mit diesen Worten endet das Clausewitzsche „Bekenntnis“. Fünf Jahre sind vergangen, seitdem Heinrich George die vom Nationalsozialismus propagandistisch vereinnahmte Proklamation im Silvesterprogramm des Reichsrundfunks zelebrierte. Fünf Jahre, nach denen Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen ist. Untergegangen im Bombenhagel auf Leipzig sind mit dem Neuen Theater und dem Neuen Gewandhaus auch die traditionellen Spielstätten des Gewandhausorchesters. Doch das Orchester spielt, wenn auch teilweise auf geliehenen Instrumenten. Und wieder ist es eine Beethoven-Sinfonie, die zu den Menschen spricht.

Für Gewandhausorchester und Schauspiel wurden nach der Zerstörung ihrer Häuser die „Concordia-Festsäle “ zur Interim-Spielstätte umgerüstet. 1945 wurde brennt auch dieses Haus aus.
© Foto aus dem Booklet – Stadtarchiv Leipzig
Wir schreiben das Jahr 1944. Wieder ist es Dezember.
Seit vier Monaten produziert das Gewandhausorchester – quasi zum „Studio-Orcheter“ umfunktioniert – für eine eigene Sendereihe im Großdeutschen Rundfunk. Als Interim dient ein notdürftig hergerichteter einstmaliger Festsaal, derjenige der in Leipzig-Gohlis ansässigen Brauereigaststätte „Concordia“. Von hier aus überträgt der Berliner Deutschlandsender jeden Freitag von 17.15 bis 18.30 Uhr eine Sendung mit dem bezeichnenden Titel „Musik zur Dämmerstunde“ (Edition Gewandhausorchester Vol. 1). Aufgezeichnet wird jetzt mittels Tonbandgeräten, die seit 1942 zunehmend die alten Plattenschneider abgelöst haben. Klanglich ist diese neue Technik ein Quantensprung und erlaubt zudem, nun auch längere Werke wie komplette Sinfonien aufzunehmen. Wie oft aber wird in der Zeit des sogenannten Totalen Krieges dieser tontechnisch verfeinerte Radioklang durch Sirenenalarm unterbrochen worden sein?
„Herausgekommen ist ein Meisterwerk“ „Kurier“, Wien
Das dritte Stück auf der CD zum Thema Beethoven wagt den Schluss-Sprung in unsere Gegenwart und führt uns mitten hinein in das Neue Gewandhaus unserer Tage auf dem Augustusplatz.
Gewandhauskapellmeister ist seit 2005 Riccardo Chailly. Als ich ihm im Beisein von Gewandhausmusikern erzähle, dass es eine Live-Aufnahme des Finalsatzes der Neunten im Rundfunkarchiv gäbe, ist er anfangs überrascht, dann so begeistert, dass er spontan mit einer fabelhaften Idee aufwartet: Als kongeniale Ergänzung zur den historischen Aufnahmen könnte die CD mit einer Uraufführung bereichert werden, die 2011 mit ihm am Pult im Neuen Gewandhaus aufgezeichnet wurde. Mit Friedrich Cerhas „Paraphrase über den Anfang der 9. Symphonie von Beethoven’“ würde ein Bogenzu Beethoven geschlagen und gleichermaßen in die Zukunft gewiesen.

Friedrich Cerha
„Trotz meines hohen Alters suche ich immer noch nach Neuem. Der Weg auf dem ich suche, führt notgedrungen zu mir selbst. Es geht also auch noch immer darum, neue Seiten an mir selbst zu finden. Das intensive Erleben von Musik ist ein Weg in sich hinein – auch für den Zuhörer.“
© Foto aus dem Booklet – Manu Theobald
Die Einzelheiten erfahren wir von Cerha selbst:
„Als eine Anfrage vom Gewandhausorchester kam, ob ich an einem Auftrag zu einem kurzen Stück interessiert wäre, das man vor der 9. Symphonie von Beethoven spielen könne und das nach Möglichkeit in einem Zusammenhang zu dieser stehen sollte, war meine erste Reaktion ein entschiedenes Nein; ich wollte nicht Musik über die Musik eines Anderen machen.
Gegen meinen Willen aber spukte in den folgenden Tagen der Anfang der Symphonie in meinem Kopf herum und ich konnte ihn nicht loswerden. Er hat mich, seit ich als Kind das Werk zum ersten Mal hörte, ganz besonders fasziniert: die geheimnisvollen Quinten und Quartfälle über dem Tremolo bis hin zur machtvollen Entschiedenheit der kadenzierenden Endfloskel. Dieses Material begann sich in meinem Kopf umzubilden und zu wuchern wie ein Myzel. Die Elemente variierten immer mehr bis zur Unkenntlichkeit ihres Ursprungs. Langsam schälte sich aus den nebulosen Vorstellungen meiner Phantasie die Dramaturgie eines Stücks heraus – ohne dass ich eine Note aufschrieb. Schließlich nahm ich den Auftrag an. Ich setzte mich hin und begann in einem Furor mit der ersten Niederschrift des Stücks. Die erste Fassung meiner Werke ist immer die kürzeste. Bei der Reinschrift erweitert sich das Stück meistens, einerseits weil zunächst unmittelbar nebeneinander Stehendes nach gearbeiteten Übergängen verlangt, andererseits weil die Phantasie nach der ersten Konzeption ja nicht aufhört und sich weiterhin immer wieder neue Tore auftun. Gleichwohl dauert das gesamte Stück nicht länger als 14 Minuten. Technisch ist die Harmonik aus einer Kette von absteigenden Quarten abgeleitet, die ja das erste Motiv in der 9. Symphonie bildet. Die Orchesterbesetzung entspricht jener Beethovens, wobei die drei Schlagzeuger natürlich andere Instrumente spielen. Ich hoffe sehr, dass die Kluft zwischen meiner Paraphrase und seinem Werk nicht als ein unheilbarer Riss zwischen Fremdem empfunden wird, sondern als Verwandtes erfahrbar bleibt.“
Die in- und ausländische Presse ist voll des Lobes für das Cerha-Meisterwerk und schreibt begeistert:
„Solche fixen Ideen, auch Ohrwürmer genannt, kennt jeder Musikfreund. Ein Genie kann sich ihrer auf kreative Weise entledigen – oder besser: aus ihnen Nutzen ziehen. Cerha ließ die leeren Quinten, die kargen Quint- und Quartfälle in seiner Fantasie spuken. Wie bei Beethoven, aber natürlich ganz anders, verdichteten sie sich mit der Zeit auch für ihn zu immensen Klangballungen und entfachten hitzige Steigerungswellen. Deren erste mündet im neuen Stück in ein kaleidoskopisch aufgefächertes, wie durch ein Prisma betrachtetes, also vielfach gebrochenes Echo der straff rhythmisierten Beethoven’schen Kadenz. Die letzte ufert in gewaltigen Entladungen des Schlagwerks aus – mit besonderer Betonung des Pauken-Parts, der virtuose Beweglichkeit vom Spieler verlangt und vom Leipziger Paukisten auch prompt geliefert bekam. Wie überhaupt die Disziplin und die Klangschönheit des Orchesterspiels der Gewandhaus-Musiker exzellent genannt werden dürfen. Die stillen, subtil geschichteten Klangflächen, aus denen Cerhas Komposition herauswächst – und in die sie, von sanften Glockentönen überwölbt, wieder zurücksinkt –, malen die Gäste unter Chaillys klarer Zeichengebung mit äußerstem Feingefühl. Durchwegs regiert das Gefühl für sinnlichen Schönklang, der, dunkel und satt timbriert, das Markenzeichen des Orchesters geblieben ist. Klangtradition für die Zukunft. Wer solche Traditionen zu pflegen weiß, erhält sich seine Unverwechselbarkeit – und bietet auch zeitgenössischen Komponisten ein nicht alltägliches, edles Forum. Friedrich Cerha schien bewegt vom starken Applaus: Das Publikum war zuvor eine Viertelstunde lang spürbar gebannt von den dramatischen Klang-Ereignissen. Die neue ‚Paraphrase über den Anfang der Neunten Symphonie von Beethoven’ ist tatsächlich ein weiter Wurf, packend und stringent in der Entwicklung – und dabei schillernd farbenprächtig. Manch einer hätte gern auf die Wiederholungstaste gedrückt“, resümiert die Wiener Zeitung „Die Presse“.
Steffen Lieberwirth
Die Solisten
Lea Piltti 1904 –1982Die in Finnland geborene Koloratursopranistin Lea Piltti kam 1930 nach Deutschland, um ihr in Paris begonnenes Auslandsstudium fortzusetzen. 1932 heiratete sie in Deutschland und erwarb die deutsche Staatsangehörigkeit. Lea Piltti debütierte 1933 im Gewandhaus Leipzig. Erste Engagements führten sie über Königsberg und Danzig nach Weimar. 1938 ging Lea Piltti nach Wien, wo insbesondere der Dirigent Hans Knappertsbusch ihre Karriere förderte. An der Wiener Staatsoper war sie engagiert als Erste Koloratursopranistin. Lea Piltti sang auch bei dem Festkonzert anlässlich des 75. Geburtstages von Richard Strauss in Weimar unter der Leitung des Komponisten selbst. 1941 debütierte sie bei den Salzburger Festspielen. Nach ihrer Scheidung 1943 und wegen der problematischen Verhältnisse in Mitteleuropa beschloss Lea Piltti nach Finnland zurückzukehren. Obwohl sie die finnische Staatsangehörigkeit zurückerhielt, überschatteten ihre früheren Erfolge in Nazideutschland eine Karriere als Opern- und Liedsängerin in ihrem Heimatland. Als Gesangslehrerin war sie jedoch sehr gefragt und bildete mehrere Generationen finnischer Sänger und Sängerinnen aus.
Charlotte Wolf-Matthäus 1908 – 1979Die Altistin Charlotte Wolf-Matthäus wurde als Tochter eines Kantors und Lehrers in Brünlos bei Chemnitz geboren. Von 1926 bis 1930 absolvierte sie ein Gesangsstudium am Landeskon- servatorium Leipzig. Mit 21 Jahren sang sie in der Leipziger Thomaskirche erstmals unter der Leitung von Thomaskantor Karl Straube mit dem Gewandhausorchester und dem Thomanerchor die Altsolopartie in Bachs Weihnachtsoratorium.Zudem wirkte sie bei fast allen Bach-Kantaten-Sendungen der Mitteldeutschen Rundfunk AG mit (Edition Gewandhausorchester Vol. 3). Bis 1970 trat sie als gefragte Konzert- und Oratoriensängerin in den Konzertsälen und Kirchen von ganz Deutschland und in Westeuropa auf, pflegte aber auch die Literatur als Liedsängerin.
Heinz Matthéi 1907 – ?Die Karriere des hoffnungsvollen Tenors ist leider nur lückenhaft nachweisbar. Er studierte bei seinem Vater, dem Konzertsänger Walter Matthéi, und von 1928 bis 1931 an der Musikhochschule Berlin Gesang und Klavier. Von 1931 bis 1935 war als Rundfunksänger beim Deutschlandsender fest angestellt. Nebenher ging er einer Tätigkeit als freier Konzert-, Opern- und Oratoriensänger nach. Als Solist wurde er ab 1935 mehrfach auch vom Deutschlandsender Berlin für Rundfunk-Opernproduktionen unter der Leitung des Dirigenten Hans Rosbaud verpflichtet, so in der Partie des Edelknechts in der Oper „Genoveva“ von Werner Egk und als Godefroy de Vaudémont in Peter Tschaikowskis Oper „Jolanthe“. 1939 vom Stadttheater Lübeck in das Solistenensemble engagiert, lässt er sich hier bis zur Schließung aller deutschen Bühnen mit Beginn des „Totalen Krieges“ nachweisen. Ab 1945 ging er, wohl kriegsversehrt, einer Lehrtätigkeit an der Landesmusikschule Lübeck nach. Programmzettel und die Kritik nennen ihn 1947 wieder als Sänger und zwar als Theseus in der gleichnamigen Händel-Oper im Rahmen der Göttinger Händel-Festspiele. Es scheint aber, als wäre ihm die Wiederaufnahme der Sängerlaufbahn nach einer mutmaßlichen Kriegsverletzung nicht geglückt. Danach verliert sich seine Spur im Dunklen.
Josef Greindl 1912 –1993Greindl studierte von 1932 bis 1936 an der Münchner Musikakademie Gesang bei Paul Bender und Anna Bahr-Mildenburg. 1936 gab er sein Debüt am Stadttheater von Krefeld als Hunding in der „Walküre“. Von 1938 bis 1942 sang er am Opernhaus von Düsseldorf, wo er 1941 in der Uraufführung der Oper „Die Hexe von Passau“ von Ottmar Gerster mitwirkte. 1942 engagierte ihn Heinz Tietjen an die Berliner Staatsoper, deren Mitglied er bis 1948 blieb. 1941 nahm er dort an der Uraufführung der Oper „Das Schloß Dürande“ von Othmar Schoeck teil. 1948 kam er an die Städtische Oper (später Deutsche Oper) Berlin, an der er bis 1970 in insgesamt 1369 Vorstellungen aufgetreten ist. Ab 1956 war er gleichzeitig auch Mitglied des Solistenensembles der Wiener Staatsoper. Kein Sänger ist so oft bei den Bayreuther Festspielen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetreten wie Josef Greindl. Aber auch durch die Mitwirkung an weiteren Uraufführungen machte sich Greindl einen Namen, so 1948 an der Städtischen Oper Berlin in „Circe“ von Werner Egk, in Carl Orffs „Antigonae“ (1949) und „De temporum fine comoedia“ (1973) bei den Salzburger Festspielen sowie 1971 in der Oper „Melusine“ von Aribert Reimann bei den Schwetzinger Festspielen. Gastspiele führten ihn nach London, Paris, Mailand, Buenos Aires und an die New Yorker Metropolitan Opera.

Zur CD-Buch-Präsentation auf der Leipziger Buchmesse im März 2015
mit Gewandhausorchester-Vorstand Tobias Haupt, Solohornist Ralf Götz, Autor und Executive Producer Dr. Steffen Lieberwirth, MDR FIGARO Moderator Martin Hoffmeister, Gewandhaus Dokumentarist und- Archivar Claudius Böhme und Verlagschef Klaus-Jürgen Kamprad (v.l.n.r.)