Gewandhausorchester-LogoDas Gewandhausorchester in der Oper

 

www 02 Titel

Edition Gewandhausorchester Vol. 2 VKJK 1110
© 2012 by querstand, einem Label des Verlages Klaus-Jürgen Kamprad

 

 

Die Oper wird sich mittels des Rundfunks bald allen Gesellschaftsschichten
als eine Art Volksbühne
im gigantischen Maßstabe eröffnen!

Der Rundfunk wird dabei die sozial exklusive Operngattung ins Grenzenlose verstreuen
und deren großbürgerliche Wurzeln zerbrechen lassen!

Zur Rolle von Opernübertragungen im Rundfunk, 1929

 

Neues-Theater-Leipzig-Zuschauerraum-for-web

Der Zuschauerraum des Leipziger Neuen Theaters vor der Zerstörung 1943

 

Seiteninhalt

  CD-Inhalt
  Das Gewandhausorchester – verborgen im Orchestergraben
  Das Neue Theater
  Oper „im trauten Heim“
  Der Leipziger Generalmusikdirektor Gustav Brecher
  „Ergrimmte Theaterdirektoren“ ?
  Der Leipziger Generalmusikdirektor Paul Schmitz
  Dokumente der Klangfülle
  Untergang im Feuerzauber

Lautsprechersymbol-klein-1  PRODUKTIONSDETAILS ZUR „FREISCHÜTZ“-AUFNAHME 1929
Lautsprechersymbol-klein-1  PRODUKTIONSDETAILS ZU „TANNHÄUSER“ 1938/1942
Lautsprechersymbol-klein-1  PRODUKTIONSDETAILS ZU „TRISTAN UND ISOLDE“ 1938/1942
Lautsprechersymbol-klein-1  PRODUKTIONSDETAILS ZU „LOHENGRIN“ 1938/1942
Lautsprechersymbol-klein-1  PRODUKTIONSDETAILS ZU „DON CARLOS“ 1943
Lautsprechersymbol-klein-1   PRODUKTIONSDETAILS ZU „FIDELIO“ 1943/1950

 

 CD-Inhalt

Die vorliegende Doppel-CD setzt die vom querstand-Label in Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR Figaro) und dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) herausgegebene neue CD-Serie fort.
Sie enthält Aufnahmen des Gewandhausorchesters, die in den Jahrzehnten seit 1929 eingespielt wurden und seither in den Archiven schlummerten. Zahlreiche Schätze warten darauf, gehoben zu werden und dem Hörer von heute zum einen die verblüffende Kontinuität in der Kultivierung bestimmter Klangaspekte des Orchesters, zum anderen aber natürlich auch die immense spiel- wie produktionstechnische Weiterentwicklung in diesen Jahrzehnten zu demonstrieren.

Der zweite Teil der CD-Serie enthält auf zwei CDs insgesamt 17 Ausschnitte von acht Opern in Aufnahmen von 1929 bis 1945.
Bereits seit dem 18. Jahrhundert wirkt das Gewandhausorchester auch als Klangkörper der Leipziger Oper, und diese doppelte Erfahrung als Sinfonie- und als Theaterorchester hört man ihm auch deutlich an.

Die vorliegenden Aufnahmen bieten eine der wenigen Möglichkeiten, den Saal des Neuen Theaters Leipzig akustisch zu erleben – das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ebenso wie das Zweite Gewandhaus, das mit einer sehr frühen Aufnahme die erste CD eröffnet: Die bisher in Deutschland unveröffentlichte Einspielung der „Freischütz“-Ouvertüre wurde bereits 1929 getätigt. Auch das Gros der anderen Aufnahmen erlebt hier eine Tonträgerpremiere.

Die CDs sind wie schon bei Vol. 1 in einem Festeinband mit DVD-Größe enthalten, das zugehörige Booklet wirft textlich und mit dem reichlichen Bildmaterial einen eindrucksvollen Blick in Leipzig Musikgeschichte.


CD 1

Eine in Deutschland unveröffentlicht gebliebene Schallplattenaufnahme der Carl Lindström AG
vom 11. April 1929 im Großen Saal des Neuen Gewandhauses zu Leipzig:

Carl Maria von Weber 1786 –1826
Aus Der Freischütz
1 
Ouvertüre
Dirigent: Gustav Brecher
GB Parlophone E 11039/40 Matrizen: 2-21347/348/349 [Collection Jens-Uwe Völmecke]
Lautsprechersymbol-klein-1 & WEITERE PRODUKTIONS-DETAILS

 

Eine Magnetband-Aufnahme des Reichssenders Berlin aus dem Leipzig-Gohliser Concordia-Saal von 1945 für die vom Deutschlandsender Berlin ausgestrahlte freitägliche Abendsendung „Musik zur Dämmerstunde“

Carl Maria von Weber
Aus  Der Freischütz
2 
Nein, länger trag ich nicht die Qualen (Rezitativ des Max)
3 
Durch die Wälder, durch die Auen (Arie des Max)
Dirigent: Paul Schmitz
Max: August Seider Tenor


Sämtliche Magnetband-Aufnahmen der Rundfunk-Liveübertragung des Reichssenders Leipzig vom 25. September 1942 im Saal des Neuen Theaters Leipzig:

Wolfgang Amadeus Mozart  1756 – 1791
Aus  Don Giovanni
4  
So allein in diesem Dunkel (Sextett aus dem II. Akt)
Dirigent: Paul Schmitz
Donna Anna: Margarete Bäumer Sopran
Donna Elvira: Rita Meinl-Weise Sopran
Zerlina: Lotte Schürhoff Sopran
Don Ottavio: Heinz Daum Tenor
Leporello: Joseph Olberts Bass
Masetto: Gottlieb Zeithammer Bass

Aus Così fan tutte
5 
Wie der Felsen (Arie der Fiordiligi)
Dirigent: Paul Schmitz
Fiordiligi: Rita Meinl-Weise Sopran

Richard Wagner  1813 –1883
Aus  Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg
Ouvertüre
Dirigent: Paul Schmitz
Lautsprechersymbol-klein-1 & PRODUKTIONS-DETAILS

Aus  Lohengrin
In fernem Land, unnahbar euren Schritten (Gralserzählung des Lohengrin)
Dirigent: Paul Schmitz
Lohengrin: August Seider Tenor

 Lautsprechersymbol-klein-1 & PRODUKTIONS-DETAILS

Eine Magnetband-Aufnahme der Reichsrundfunkgesellschaft (RRG) vom 11. Juni 1943
im Saal des Neuen Theaters Leipzig

Giuseppe Verdi  1813 – 1901
Aus  Don Carlos
8 
Sie hat mich nie geliebt (Introduktion, Szene und Arie des König Philipp)
Dirigent: Paul Schmitz
Philipp: Friedrich Dalberg Bass
Die Arie wurde in gleicher Besetzung am 19. August 1943 auch von Odeon für Schallplatte produziert und 1944 veröffentlicht.
Lautsprechersymbol-klein-1  & PRODUKTIONSDETAILS


CD 2

Sämtliche veröffentlichte Odeon-Schallplattenaufnahmen der Produktionsstaffel vom 17./18. und 20. August 1943 im Saal des Neuen Theaters Leipzig

Giuseppe Verdi
Aus  Don Carlos
1   Ihr habt zu mir persönlich
2   Du mein Erretter (Duett Philipp/Posa)
Philipp: Friedrich Dalberg Bass
Marquis Posa: Theodor Horand Bariton
Aufnahme: Leipzig, 18. August 1943 Odeon O-3655 Matrizen: xxB 9181-9183 Erstveröffentlicht: 1944

3   Oh Carlos, schnell höre
4   Noch hier im Sterben fühle ich Wonne (Posas Tod)
Marquis Posa: Theodor Horand Bariton
Aufnahme: Leipzig, 18. August 1943 Odeon O-3656 3655 Matrize: xxB 9184 Erstveröffentlicht: 1944
Lautsprechersymbol-klein-1  & PRODUKTIONSDETAILS

Richard Wagner
Aus  Tristan und Isolde
5   Soll ich lauschen? – Laß mich sterben!
Isolde: Margarete Bäumer Sopran
Tristan: August Seider Tenor
Kurwenal: Willi Schwenkreis Bass
Melot: Walter Streckfuß Bass
König Marke: Friedrich Dalberg Bass
Aufnahme: Leipzig, 20. August 1943 Odeon O-8806-8808 Matrizen: xxB9187-9192 Erstveröffentlicht: Nov./Dez. 1943
Der am 17. August 1943 aufgenommene „Schlussgesang der Brünhilde“ aus der „Götterdämmerung“ (mit Bäumer und Dalberg) blieb unveröffentlicht.  Das Aufnahmeprotokoll vermerkt dazu am 12. Oktober 1943: „abwarten“.
Der Verbleib dieser Matritzen ist bislang nicht nachgewiesen.
  Lautsprechersymbol-klein-1  & PRODUKTIONSDETAILS

 

Alle nachweisbar veröffentlichten und unveröffentlichten Odeon-Schallplattenaufnahmen der Produktionsstaffel vom 21. und 26. August 1943 im Saal des Neuen Theaters Leipzig.

Ludwig van Beethoven  1770 –1827
Aus  Fidelio
6  
Gott, welch Dunkel hier (Arie des Florestan)
Dirigent: Paul Schmitz
Florestan: August Seider Tenor
Aufnahme: Leipzig, 21. August 1943 Odeon, O-3683, xxB 9194-9195 Erstveröffentlicht Juni 1950

7   Euch werde Lohn in bessern Welten
Dirigent: Paul Schmitz
Leonore: Margarete Bäumer Sopran
Florestan: August Seider Tenor
Rocco: Willi Schwenkreis Bariton
Aufnahme: Leipzig, 26. August 1943 Odeon, gänzlich unveröffentlicht, xxB 9200-9201

8   Heil sei dem Tag (Finale)

Dirigent: Paul Schmitz
Leonore: Margarete Bäumer Sopran
Florestan: August Seider Tenor
Rocco: Willi Schwenkreis Bariton
Marcelline: Rosel Schaffrian Sopran
Don Fernando: Theodor Horand Bass
Jacquino: Paul Reinecke Tenor
Aufnahme: Leipzig, 21. August 1943 Odeon, gänzlich unveröffentlicht, xxB 9196-9199Von diesen drei Einspielungen erschien nur die Florestan-Arie „Gott, welch Dunkel hier“ und zwar erstmalig im Juni 1950 im Handel.
Die aufgenommene Szene „Euch werde Lohn in bessern Welten“ und das Finale „Heil sei dem Tag“ waren laut Aufnahmeprotokoll mit der Bemerkung „klingt hart – Verbesserung erwartet“ gesperrt worden. Unserer CD-Veröffentlichung liegen die Odeon-Testpressungen als Unikat aus dem Deutschen Rundfunkarchiv zugrunde.
Lautsprechersymbol-klein-1  & PRODUKTIONSDETAILS

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG


 

Das Neue Theater in Leipzig um 1930 Foto: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Das Neue Theater in Leipzig um 1930
Foto: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

 

Das Gewandhausorchester – verborgen im Orchestergraben

Wir bekommen sie hier im Opernhaus nicht zu Gesicht, die Musiker des Gewandhausorchesters. Und doch ist es immer wieder ein hochemotionales Erlebnis, ergriffen ihrem Spiel zu lauschen, wenn es von tief unten aus dem abgedunkelten Orchestergraben zu uns in den Zuschauerraum der Oper dringt, noch bevor sich der Bühnenvorhang öffnet.

„Das Gewandhausorchester in der Oper“, so lautet das Thema der zweiten Folge unserer Edition und wieder begeben wir uns auf die Suche nach den frühesten einschlägigen Tondokumenten. Wichtig war uns dabei, dass diesmal Generalmusikdirektoren der Leipziger Oper das Gewandhausorchester dirigieren.

Wie weit zurück in der Geschichte des Leipziger Opernhauses würden wir gehen können? Seit wann gibt es Schellack-Opernplatten mit dem Gewandhausorchester? Oder Rundfunkaufzeichnungen?

Zu Hilfe kamen uns alte vergilbte Aufnahmeprotokolle der Schallplattenfirma „Carl Lindström“. Danach hatte es doch tatsächlich schon 1929 (!) eine Aufnahmesitzung des Gewandhausorchesters unter der Leitung des damaligen Generalmusikdirektors Gustav Brecher gegeben. Jenem Brecher, der in die Leipziger Musikgeschichte wegen seiner progressiven Spielplanpolitik als „Bürgerschreck“ eingehen sollte und der schon Anfang März 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten pfeifend aus seinem Amt vertrieben worden war. Nichts mehr sollte an die Ära Brecher erinnern.

Schallplatten jener frühen Aufnahme unter seiner Stabführung konnten aber aus einem anderen Grund nicht erscheinen: Während der Aufzeichnung hatte die fragile Technik versagt. Dann unser Jubelschrei: Wir erfuhren von einem Sammler aus Amerika, dass er eine dieser damals technisch verworfenen Aufnahmen besitze und unserem Vorhaben zur Verfügung stellen würde. Gleichermaßen ein einmaliges Zeugnis zu Gustav Brechers Wirken in Leipzig und auf sinnstiftende Weise auch Wiedergutmachung und Heimkehr …

Trouvaillen konnte auch das Deutsche Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main beisteuern: Erstmalig ist hier das Ensemble des Leipziger Opernhauses unter der Leitung ihres jahrzehntelangen Generalmusikdirektors Paul Schmitz mit bislang unveröffentlichten Szenen aus Beethovens „Fidelio“ zu hören. Aufgenommen in Leipzigs prachtvollem Opernhaus – dem „Neuen Theater auf dem Augustusplatz“, heute nur noch auf alten Fotos existierend.

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG


 

Das „Neue Theater“

Eines der beliebtesten Leipziger Ansichtskartenmotive vor dem Zweiten Weltkrieg ist der Blick über den Augustusplatz auf die Universität mit ihrer altehrwürdigen Paulinerkirche, dem Bildermuseum und dessen Gegenüber, dem Neuen Theater. In diesem messestädtisch repräsentativen Gebäude hat das Leipziger Opernensemble seine Spielstätte.

 

    Der Leipziger Augustusplatz mit dem Neuen Theater, um 1930     Das Leipziger „Neue Theater“ wurde in den Jahren 1864 bis 1868 von Carl Ferdinand Langhans an der Nordseite des Augustusplatzes erbaut. Es besaß 1700 Sitz- und 300 Stehplätze. Errichtet wurde das Haus als Nachfolgerbau für das „Alte Theater“ am Fleischerplatz (heute Richard-Wagner-Platz), das als Spielstätte dem Leipziger Schauspiel zugesprochen wurde.     Von 1935 bis 1938 wurden Bühne und Orchestergraben des Neuen Theaters vergrößert, um den gewachsenen Anforderungen des neueren Opernschaffens zu entsprechen. In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 zerstörten englische Fliegerbomben neben dem Alten Theater und dem Neuen Gewandhaus auch den Zuschauerraum und die Bühne des Neuen Theaters. An jenem Abend hatte sich der Vorhang noch für Wagners „Walküre“ geöffnet und das Publikum dem „Feuerzauber“ (!) gelauscht ... Am Dirigentenpult vor dem Gewandhausorchester hatte Paul Schmitz gestanden.     Die Ruine des ausgebrannten Opernhauses wurde – obwohl deutlich weniger zerstört als die Dresdener Semperoper – 1950 abgetragen, um dem 1960 eingeweihten ersten Opernneubau der DDR Platz zu machen.

Der Leipziger Augustusplatz mit der Universität, der Universitätskirche, dem Kroch-Hochhaus und dem Neuen Theater (von links nach rechts), um 1930. Das Leipziger „Neue Theater“ wurde in den Jahren 1864 bis 1868 von Carl Ferdinand Langhans an der Nordseite des Augustusplatzes erbaut. Es besaß 1700 Sitz- und 300 Stehplätze. Errichtet wurde das Haus als Nachfolgerbau für das „Alte Theater“ am Fleischerplatz (heute Richard-Wagner-Platz), das als Spielstätte dem Leipziger Schauspiel zugesprochen wurde. Von 1935 bis 1938 wurden Bühne und Orchestergraben des Neuen Theaters vergrößert, um den gewachsenen Anforderungen des neueren Opernschaffens zu entsprechen. In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 zerstörten englische Fliegerbomben neben dem Alten Theater und dem Neuen Gewandhaus auch den Zuschauerraum und die Bühne des Neuen Theaters. An jenem Abend hatte sich der Vorhang noch für Wagners „Walküre“ geöffnet und das Publikum dem „Feuerzauber“ (!) gelauscht … Am Dirigentenpult vor dem Gewandhausorchester hatte Paul Schmitz gestanden. Die Ruine des ausgebrannten Opernhauses wurde – obwohl deutlich weniger zerstört als die Dresdener Semperoper – 1950 abgetragen, um für den 1960 eingeweihten ersten Opernneubau der DDR Platz zu schaffen.

 

Große Sängernamen, die zu jener Zeit den Vergleich zur residenzstädtischen Semperoper keinesfalls zu scheuen brauchen, lassen das Ensemble in voller Blüte stehen und weit in die Welt hinaus strahlen.

Am Dirigentenpult im Orchestergraben des Opernhauses wirken Ende des 19. Jahrhunderts der junge Arthur Nikisch und sein Rivale Gustav Mahler als Erster und Zweiter Theaterkapellmeister, später dann Gustav Brecher und jahrzehntelang Paul Schmitz.

Das Besondere daran: Die Oper besitzt kein eigenes Orchester. Und doch haben die Sänger einen hochkarätigen Begleiter, denn im Orchestergraben sitzen traditionsgemäß die Musiker des Gewandhausorchesters. Wir sagen gern, seit Alters her …

Doch wir wollen es genauer wissen und schlagen nach in großformatigen Aktenmatrikeln des Leipziger Stadtarchivs. Dort finden sich alle aussagekräftigen Quellen, mit deren Hilfe sich die Geschichte der städtischen Oper in Leipzig bis in das Jahr 1693 zurückverfolgen lässt. Immerhin ist die Leipziger Oper somit nach Venedig und Hamburg die drittälteste bürgerlich-städtische Musiktheaterbühne Europas!

Damals allerdings gab es noch kein festes Ensemble. Es waren zumeist gastierende italienische Theatertruppen, die eigene „Spielleute“ im Gefolge hatten. Wenn nicht, dann wurden die vom Leipziger Rat besoldeten „Stadtpfeiffer und Kunstgeyger“ zu Lasten der Stadtkämmerei bereitgestellt. Obwohl diese so genannten Ratsmusiker nach Handwerkerart als Universalmusiker „auf allen blasenden und streichenden Instrumenten“ ausgebildet worden waren, reichten ihre musikalischen wie besetzungstechnischen Qualitäten zur künstlerischen Umsetzung der immer anspruchsvoller werdenden und üppiger besetzten Opernliteratur schlichtweg nicht mehr aus.

    Das „Leipziger Komödienhaus vor dem Ranstaedter Thore“ mit der Stadtpromenade. Aquarellierte Radierung von Carl Ehrenfried Weise um 1785     © Foto aus dem Booklet - Quelle: Stadtgeschichtliches Musem Leipzig

Das „Leipziger Komödienhaus vor dem Ranstaedter Thore“ mit der Stadtpromenade. Aquarellierte Radierung von Carl Ehrenfried Weise um 1785
© Foto aus dem Booklet – Quelle: Stadtgeschichtliches Musem Leipzig

Dann endlich, und fast über Nacht, konnte Leipzig weit über seine Stadtgrenzen hinaus von sich hören lassen. Für die Oper der Handelsstadt war ein neues Zeitalter angebrochen. Blicken wir deshalb in das spätbarocke Leipzig des Jahres 1766:

Damals war ein neues Komödienhaus eröffnet worden. Die willkommene Gelegenheit für den Leipziger „Compositeur“ Johann Adam Hiller, am Abend des 25. November sein neues Singspiel „Lisuard und Dariolette“ uraufzuführen und damit ein Zeichen der künstlerischen Erneuerung zu setzen. Dazu bediente sich Hiller erstmals einschlägiger Konzertmusiker. Die rekrutierten sich aus einer von Leipziger Kaufleuten getragenen jungen Konzertgesellschaft, die bald darauf den Namen „Gewandhausorchester“ tragen sollte und deren erster Gewandhauskapellmeister Johann Adam Hiller wurde. Hillers Entscheidung, „seine“ Gewandhausmusiker mit den Leipziger Operndiensten zu betrauen, war weitsichtig und damit existenzsichernd über Jahrhunderte hinweg. Ein visionärer Schritt, der bis in unsere Gegenwart reicht!

Nach unserem Exkurs zu den gesellschaftlichen Wurzeln wollen wir nun mit dem nächsten Kapitel wieder zurückkehren zu unserem eigentlichen Thema, den frühesten Opernaufnahmen des Gewandhausorchesters durch die Schallplatte und den Rundfunk am Ende der 1920-er Jahre …

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG



Oper „im trauten Heim“

Deutschland in den so genannten goldenen Zwanziger Jahren: Es herrscht Aufbruchstimmung. Und die zeigt sich nicht nur wirtschaftlich und technisch. Die Mode besticht durch kniefreie Röcke und tiefe Dekolletés. Letzter Schrei ist der Bubikopf. Einer halbnackten Josephine Baker im Bananenröckchen liegt die Männerwelt zu Füßen. In Berlin wird der Funkturm erbaut. Charles Lindbergh macht sich auf, den Ozean zu überfliegen. Fritz Lang dreht seinen Zukunftsfilm „Metropolis“. Kino, Rundfunk und Phonoindustrie werden zu den beliebtesten Massenmedien. Jeder will im Trend einer neuen modernen Zeit sein. „Die Luft scheint elektrisch geladen“, lesen wir in einer der unterhaltsamen Illustrierten. Eine Stimmung, die mitzureißen vermochte! Auch das Gewandhausorchester?

Eigentlich hatte sich auch die Gewandhausdirektion wirkungsvolle Schlagzeilen in den deutschen Feuilletons ausgemalt, die deutschlandweit für Furore sorgen sollten – hätte nicht eine lächerliche technische Panne den gewagten mutigen Sprung in die moderne Zeit gründlich vereitelt und das Vorhaben mit einem Fiasko enden lassen. Also landen vorbereitete Meldungen wie diese hier, dass „… nun erstmals das Gewandhausorchester auch im trauten Heim zu hören“ sein werde, in den Papierkörben der Zeitungsredakteure. Welch verpasste Chance! Zu schade für Leipzig und sein führendes Orchester, zumal die Dresdner Kollegen der Staatskapelle fortschrittlicher agieren. Sie sind schon längst auf Grammophonplatten in den Auslagen der Schallplattengeschäfte vertreten und durften mit ihren Erst-Einspielungen der großen Turandot-Arien unmittelbar nach der Uraufführung der Puccini-Oper einen Welterfolg verbuchen. Doch von Anfang an und der Reihe nach:

Gustav Brecher mit dem Gewandhausorchester im Orchestergraben des Neuen Theaters, Ende der 1920er-Jahre. © Foto aus dem Booklet - Festschrift zue Eröffnung des Neuen Opernhauses 1960

Gustav Brecher mit dem Gewandhausorchester im Orchestergraben des Neuen Theaters, Ende der 1920er-Jahre.
© Foto aus dem Booklet – Festschrift zue Eröffnung des Neuen Opernhauses 1960

Am 11. April 1929 wird erstmals mit der sinfonischen Besetzung des Gewandhausorchesters für ein Schallplattenlabel produziert. Es ist die „Carl Lindström AG“, die ihr modernes elektrisches Mikrophon von ihrem Berliner Stammsitz nach Leipzig mitgebracht hat. Als Aufnahmeort wird mit dem Großen Saal des Neuen Gewandhauses die traditionelle Leipziger Spielstätte des Gewandhausorchesters auserkoren. Am Dirigentenpult steht zu unserer Überraschung aber nicht der Gewandhauskapellmeister, sondern der Generalmusikdirektor des Leipziger Opernhauses, Gustav Brecher. Also ist auch der Zeitpunkt der Aufnahme bemerkenswert, denn Wilhelm Furtwängler hat sein Amt als Gewandhauskapellmeister vor gar nicht allzu langer Zeit aufgegeben und sein Nachfolger Bruno Walter hat es noch nicht angetreten. Für Brecher ist das wohl seine „Gunst der Stunde“ …

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG


 

Der Leipziger Generalmusikdirektor Gustav Brecher

Dieser Gustav Brecher ist kein einfacher Zeitgenosse. Er sucht die künstlerische Provokation und lässt sein Leipziger Opernhaus zur Uraufführungsstätte heftig umstrittener Opernschöpfungen werden. Aufsehenerregende Beifallsstürme werden übertönt von wütenden Pfeiftiraden. 1927 bringt Brecher mit seinem Regisseur Walter Brügmann Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ mit Theodor Horand als Daniello auf die Leipziger Bühne. Radikal, grotesk und geprägt vom Jazz der 1920-er Jahre. Kurt Weills „Der Zar läßt sich photographieren“ und Ernst Kreneks „Das Leben des Orest“ folgen, bis dann bei der Uraufführung von Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ die Hölle losbricht. Ein handfester Theaterskandal ist die Folge. Die „Leipziger Volkszeitung“ schreibt im März 1930 über die „Mahagonny“-Uraufführung:
Das Leipziger Neue Theater hat Bewundernswertes geleistet. Man sollte Brecher wegen seines Mutes ,Auf nach Mahagonny!‘ zu rufen, keinen Vorwurf machen. Skandale, wie der gestrige, sind verdienstlicher und erziehlicher als mancher glatte Erfolg.

Doch wir schweifen ab und wollen gedanklich zurückkehren zu unserer ersten Schallplattenaufnahme:
Eingespielt werden also 1929 unter Brechers Leitung die Symphonische Dichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss und die „Freischütz“- Ouvertüre von Carl Maria von Weber. Allerdings stellen sich schon während der Aufnahmen unlösbare Materialprobleme an den Wachsmatrizen ein. Laut Aufnahmeprotokoll wird die Strauss- Aufnahme deshalb „nachträglich verworfen“. Immerhin lässt die Plattenfirma noch eine Abhörkopie pressen, aber diese wird „nur versuchweise angefertigt“. Das war es dann also endgültig für das Strauss-Werk! Etwas besser gelingt die Aufzeichnung der „Freischütz- Ouvertüre“.

Protokollseiten aus dem Aufnahmebuch der Carl Lindström AG zum 10. April 1929. Hinter dem Namen des Generalmusikdirektors Gustav Brecher ist in anderer Handschrift vermerkt: „Nichtarier“! In der letzten Spalte „Bemerkungen“ wurde in die Zeilen zu den je- weiligen Matrizen von „Tod und Verklärung“ eingetragen: „nachtr. verworfen – 21. 11. 29“, „Wachs beschädigt eingegangen, wird nur versuchweise angefertigt – 10. 4. 29“, und zur „Freischütz“-Ouvertüre: „arbeitet zu stark“, „Fabrikation beanstandet – 27. 5.“

Protokollseiten aus dem Aufnahmebuch der Carl Lindström AG zum 10. April 1929. Hinter dem Namen des Generalmusikdirektors Gustav Brecher ist in anderer Handschrift vermerkt: „Nichtarier“! In der letzten Spalte „Bemerkungen“ wurde in die Zeilen zu den jeweiligen Matrizen von „Tod und Verklärung“ eingetragen: „nachtr. verworfen – 21. 11. 29“, „Wachs beschädigt eingegangen, wird nur versuchweise angefertigt – 10. 4. 29“, und zur „Freischütz“-Ouvertüre: „arbeitet zu stark“, „Fabrikation beanstandet – 27. 5.“

Das englische Parlophone-Label mit dem „Leipzig Gewand- haus Orchestra“

Das englische Parlophone-Label mit dem „Leipzig Gewandhaus Orchestra“

Aber auch für sie verrät das Aufnahmeprotokoll nachträglich: „Fabrikation beanstandet“. Also bleiben sämtliche Platten dieser ersten Aufnahmesitzung des Gewandhausorchesters unveröffentlicht. Während die Aufnahme-Matritzen von „Tod und Verklärung“ vermutlich noch in Leipzig an Ort und Stelle vernichtet werden, finden die ebenfalls verworfenen Matritzen mit der „Freischütz“-Ouvertüre den Weg über den Atlantik bis nach Amerika.

Dort sowie in England erscheinen schließlich 1931 – wenn auch nur für kurze Zeit – die Aufnahmen des „Leipzig Gewandhaus Orchestra“ im Handel: in England auf dem „Parlophone“-Label sowie in Amerika bei „US-Decca“!

Eine jener höchst seltenen Platten hat in Sammlerhand die turbulenten Zeiten überlebt und stand uns nun als Tondokument für die CD-Box zur Verfügung. Gleichermaßen ein einmaliges Zeugnis zu Gustav Brechers Wirken in Leipzig und auf sinnstiftende Weise auch Wiedergutmachung und Heimkehr …
→   Lautsprechersymbol-klein-1 & WEITERE PRODUKTIONS-DETAILS

Nach dem Produktions-Dilemma 1929 sind die Gewandhausmusiker sicher zu recht verstimmt, denn über dreizehn lange Jahre nimmt das Orchester keine einzige Schallplatte für ein Label auf! Somit liegt uns leider kein klangliches Dokument unter der Stabführung von Bruno Walter vor.

1942 endlich ist es soweit. Nun werden erstmals Schellack-Platten des Gewandhausorchesters im heimischen Plattenschrank zu entdecken sein: Brahms’ Vierte Sinfonie unter Leitung des Gewandhauskapellmeisters Hermann Abendroth, wie es das Plattenetikett verrät.

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG



„Ergrimmte Theaterdirektoren“ ?

www 02 Uebertragungswagen

Ein Rundfunkübertragungswagen der Mitteldeutschen Rundfunk AG auf der Titelseite einer MIRAG-Programmzeitschrift aus dem Jahr 1931
© Foto: Radio-Nostalgie Hagen Pfau

Zudem gibt es erbitterten Streit: Darf das Radio überhaupt Opernvorstellungen übertragen, wenn ihm doch die Bühnenpräsenz fehlt?

Hörerbefragungen aus den 1920-er Jahren verraten uns dazu jene Werturteile, über die sich bis in unsere Tage die Radioredakteure Gedanken machen. Ein willkommener Grund, um zurückzublicken auf die nicht enden wollenden Diskussionen zu „pro“ und „contra“ Oper im Rundfunk:

Das Radio, so ein zeitgenössischer Rundfunkbeitrag von 1929, werde „als die größte überhaupt denkbare Besucherorganisation eine Art Volksbühne im gigantischen Maßstabe bildnerische und erzieherische Wirkung zeigen und den Massen neue Erlebnisformen eröffnen“.

Tatsächlich scheinen sich jene Hoffnungen zu bestätigen, denn immerhin rangieren Opern und Operettensendungen in der Pionierzeit des Rundfunks ganz oben auf der Beliebtheitsskala aller Programmangebote der Rundfunksender. Willkommene Argumente für bürokratische Kulturverwalter, „die Existenzberechtigung traditioneller Opernhäuser als kostspielige Subventionsunternehmen in Frage zu stellen“, so nachzulesen in einem Artikel unter der Überschrift „Die Oper stirbt – der Rundfunk lebt“ in der Zeitschrift „Arbeiterfunk“ von 1931.

Solche radikalen Ideen erzürnen die Theaterintendanten. Sie starten zum Gegenangriff:
Die Reduktion auf die rein akustische Vermittlung (sei) zerstörerisch für die Bühnenillusion und deshalb ohne künstlerischen Wert und ein bloßer Notbehelf!

Aus den Worten einer Warnschrift mit dem beredten Titel „Die ergrimmten Theaterdirektoren“ lässt sich erahnen, wie groß Angst und Argwohn vor einer existenziellen Bedrohung durch den expandierenden jungen Rundfunk sind.

Die Leipziger Oper verbietet ihren Sängern noch 1926 grundsätzlich eine Mitwirkung in Rundfunksendungen. Andere Häuser sind da schon geschäftstüchtiger, erheben selbst Anspruch auf einen Teil der Künstlergagen, die der Rundfunk zahlt, und kürzen den Sängern schlichtweg ihre monatliche Gage.

Auf Dauer ist das kein Zustand. Die streitenden Parteien würden sich arrangieren müssen, wollten sie nicht ihre Sänger verprellen, die Rundfunkauftritte für sich längst als künstlerisches Marketinginstrument erkannt haben und somit dem neuen Medium wohlgesonnen sind. Doch allein die Schuld der Verhinderungen von Opernübertragungen bei den Opernvorständen zu suchen, wäre sicher zu einseitig dargestellt: Es darf nicht verschwiegen werden, dass auch die aufnahme- wie wiedergabetechnisch noch ungenügend beherrschbare Akustik großer Bühnen mit ihren breiten Orchestergräben nicht wenige Intendanten um das künstlerische Renomee ihres Hauses fürchten ließen und sich deshalb zögerlich verhielten.

1927 lenkt der Bühnenverein ein. Er erkennt, dass eine Zusammenarbeit der Konkurrenten nicht nur Einnahmen aus Rundfunkübertragungen, sondern auch einmalige publizistische Chancen für die Bühnenkunst bedeuten würden. Außerdem stellt das neue Medium geschickt seine Bereitschaft in den Vordergrund, die „Interessen der Theater kostenfrei zu befördern“.

Und tatsächlich, nun wird von der Mitteldeutschen Rundfunk AG (Mirag) eine einschlägige Sendung unter dem Titel „Sonntägliche Bühnenvorschau“ in das Radioprogramm eingebaut. Deren journalistische Elemente sind Premierenkritiken, Einblicke hinter die Kulissen in Form von Reportagen über die Probenarbeit, Interviews mit Sängern, Regisseuren und Intendanten sowie die hochbeliebten Opernquerschnitte. Zudem soll der umfassende „Mirag-Opernzyklus Tönende Operngeschichte“ die mitteldeutschen Musikfreunde an den heimischen Radiolautsprecher locken.

1930/31 folgen mehrteilige Radioserien mit solch stimmungsvollen Titeln wie „Ein Dresdner Opernwinter unter Carl Maria von Weber“ und „Leipzig als Wegbereiter der komischen Oper“. Fachlich gestützt wird die journalistische Rundfunkarbeit zudem durch Opernartikel in der hauseigenen Rundfunkzeitschrift „mirag“, wofür sich die Mitteldeutsche Rundfunk AG einer Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl Musikwissenschaft der Universität versichert. Nahezu alle Premieren aus Dresden, Weimar und Leipzig sind jetzt zeitgleich am Radio mitzuerleben! Ab 1929 bezieht der Sender auch die Häuser von Dessau, Altenburg, Chemnitz, Erfurt und Halle mit ein und 1931 kommen die Theater von Plauen, Zwickau, Braunschweig, Gotha und Gera dazu.

Szenenfoto aus der Uraufführung von Brecht-Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ im Leipziger Neuen Theater, März 1930

Szenenfoto aus der Uraufführung von Brecht-Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ im Leipziger Neuen Theater, März 1930

Aber keine Regel ohne Ausnahme:
Weills Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ bleibt schon vor der skandalumwitterten Uraufführung für alle Rundfunkanstalten der Weimarer Republik ein Tabu.
Wenigstens gibt die Mirag dem Komponisten Kurt Weill die Chance, sich im Leipziger Sender in einem aktuellen Interview zu seinem Stück zu äußern.

Den endgültigen Durchbruch für die Oper im Radioprogramm aber bringen nicht die Opernsendungen allein, sondern heiß begehrte Offerten des Rundfunks, für seine Hörerschaft die Opernkarten der Häuser des Sendegebietes zu subventionieren und preisgünstig anzubieten.
Dafür warb der Sender geschickt mit seinem Slogan: „Rundfunkhörer zahlen nur den halben Preis!

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG



Der Leipziger Generalmusikdirektor Paul Schmitz

Paul Schmitz, 1930 © Foto aus dem CD-Booklet - Sammlung Erika Schmitz

Paul Schmitz, 1930
© Foto aus dem CD-Booklet – Sammlung Erika Schmitz

Einer aus der jüngeren Dirigentengeneration, der keine Berührungsängste zum neuen Medium Rundfunk kennt, ist ein gewisser Paul Schmitz aus München. Dort ist er seit 1927 Erster Kapellmeister an der Münchner Staatsoper. Nach Leipzig führt den vierunddreißigjährigen Schmitz Anfang 1933 eine Einladung des dortigen Reichssenders. Hier würde er erstmals das hauseigene Rundfunk-Sinfonieorchester in einem der original übertragenen Konzertabende leiten dürfen.

Enttäuscht muss er während einer Orchesterprobe erfahren, dass die geplante Rundfunkübertragung kurzerhand von der Sendeleitung zugunsten der Ausstrahlung einer Propagandarede Hitlers abgesetzt werden soll.

Um auf andere Gedanken zu kommen, nutzt Schmitz den überraschend frei gewordenen Abend für einen Opernbesuch im Leipziger Neuen Theater. Er ahnt noch nicht, welche künstlerischen Chancen sich an jenem Abend für ihn auftun würden …

Um nähere Einzelheiten aus seinem Leben zu erfahren, suche ich den persönlichen Kontakt zur Tochter des Musikers. Als ich sie zu unserem ersten Gespräch treffe, bin ich angenehm überrascht. War sie zunächst am Telefon noch zurückhaltend und vorsichtig, empfängt mich nun eine gesprächsfreudige, zierliche Dame mit wachen Augen in ihrer Berliner Wohnung. Ausgebreitet auf dem Wohnzimmertisch liegt das Dirigentenleben ihres Vaters in Form alter Fotografien, schriftlicher Dokumente und Tonbänder, auf denen Schmitz in Erinnerungen schwelgt. Es sind die wohlbehüteten Familienschätze, die sie mir hier anvertraut. Vor allem weiß sie zu erzählen und berichtet, wie ihr Vater „an jenem für ihn nun unerwartet frei gewordenen Abend im Leipziger Neuen Theater ins Gespräch kommt mit dem Opernintendanten Hans Schüler und dass der ihn einlädt, nur einen Monat später, am 16. April 1933, den ‚Parsifal’ zu dirigieren“.

An diesem Tag (seinem 35. Geburtstag) wird seine Karriere als Dirigent den entscheidenden Impuls erhalten. Das Publikum jubelt und feiert den jungen Münchner Dirigenten. Auch die Kritik beschreibt in euphorischen Worten „das Gefühl, einem geborenen Dirigenten gegenüberzustehen“, so dass Intendant Hans Schüler – einem Wunsch des Gewandhausorchesters folgend – Paul Schmitz das Amt des Leipziger Generalmusikdirektors anbietet. Dass diese Position aber nur infolge der Vertreibung Brechers am 4. März 1933 neu zu besetzen ist, zählt zu den menschlichen und künstlerischen Tragödien des „Dritten Reiches“ und darf hier nicht verschwiegen werden.

Künstlerisch geht es für das Leipziger Opernhaus in der schon Maßstäbe setzenden Qualität und Reputation weiter voran, denn Schmitz ist beim Gewandhausorchester beliebt. Ältere Musiker erinnern sich gern an die Jahre mit ihm. Und auch Schmitz ist begeistert von seinem Leipziger Amt:
„Meine Wahl, nach Leipzig zu gehen, habe ich nie bereut! Im Gegenteil, schon nach wenigen Wochen meiner Tätigkeit dort wurde ich in meiner Entscheidung bestätigt. Wir brachten eine Wiederaufnahme des ‚Tristan’ … Dieser Abend der Aufführung hat mich so ungemein von dem Orchester gefesselt, dass damit eigentlich der Grundstein gelegt wurde für die wirklich großartige künstlerische Zusammenarbeit und den engen Kontakt mit diesen ganz hervorragenden Musikern.

 

Das Gewandhausorchester mit Paul Schmitz im Or- chestergraben des Leipziger Neuen Theaters, Mitte der 1930-er Jahre © Foto aus dem Booklet - Sammlung Erika Schmitz

Das Gewandhausorchester mit Paul Schmitz im Orchestergraben des Leipziger Neuen Theaters, Mitte der 1930-er Jahre
© Foto aus dem Booklet – Sammlung Erika Schmitz

Jeder Abend, den ich mit dem Orchester musizieren durfte, war für mich ein Erlebnis. Unvergeßlich, wenn der 1. Konzertmeister Wollgandt zu mir herauf schaute und an meinem Stock und meinen Augen hing – ein Blick genügte, und wir hatten uns verstanden. Unvergeßlich auch, wie er sein Instrument hegte und pflegte. Er verließ den Orchestergraben immer als letzter, denn das Verpacken seiner Stradivari war eine heilige Handlung, die seine Zeit brauchte! Die Frau von Wollgandt war ja eine Tochter von Arthur Nikisch. Vielleicht darf ich da auch mal ein Eigenlob einfügen, weil es mich so sehr gefreut hat. Als ich im Gewandhaus zum ersten Mal die ‚Pathétique’ dirigierte, wurde nicht nur nach dem 3. Satz applaudiert, sondern am Schluß kam auch Frau Wollgandt ins Künstlerzimmer, fiel mir um den Hals und sagte: ‚Wie bei meinem Vater!’ Ich stand ja mit diesem Orchester in einer großen Tradition: Persönlichkeiten wie Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter und Gustav Brecher! Wir haben während meiner ersten achtzehn Jahre als Leipziger Generalmusikdirektor unendlich viele Ur- und Erstaufführungen sowie Neueinstudierungen gemeinsam auf die Beine gestellt. Bei allen diesen Aufführungen wurde von der Kritik maßgeblich immer die besondere Leistung des Gewandhausorchesters gewürdigt. Ich denke an den großen Wagner-Zyklus mit sämtlichen Werken Wagners oder Aufführungen von Strauss-Werken. Auf meinen Wunsch kam zum Beispiel Richard Strauss extra zu unserer ‚Arabella’-Premiere nach Leipzig und beglückwünschte uns hinterher mit sehr schmeichelhaften Worten vor allem was die Leistung des Orchesters anbelangt. Welche Wertschätzung das Orchester genoß, erhellt auch die Tatsache, daß Carl Orff, nachdem er unsere Aufführung von ‚Carmina Burana’ kennengelernt hatte, sein neuestes Werk, nämlich ‚Catulli Carmina’, uns zur Uraufführung anbot. Ebenso waren die Schweizer Komponisten Heinrich Sutermeister und Othmar Schoeck glücklich – was in der damaligen politischen Situation bemerkenswert ist –, daß wir ihre Werke in Leipzig nicht vernachlässigten. Leipzig war wirklich meine musikalische Heimat. Durch diese Zusammenarbeit mit dem Orchester habe ich dort die schönsten und glücklichsten Jahre meines Musikantenlebens verbracht, und ich weiß gar nicht, wie sehr ich diesem Orchester danken soll.
Mit diesen Worten des Dankes endet die Tonbandaufzeichnung, die Erika Schmitz im Mai 1991 von ihrem Vater aufgenommen hat – neun Monate vor seinem Tod.

Der Wagner-Zyklus, von dem Schmitz auf dem Tonband spricht, findet auch in der Gewandhauschronik eine besondere Würdigung:
So besticht die Spielzeit 1937/38 durch einen gigantischen Wagner-Zyklus sämtlicher Wagner-Opern mit einer szenischen Darstellung des frühen Oratoriums ‚Das Liebesmahl der Apostel’ und den Jugendopern ‚Feen’ und ‚Liebesverbot’, aufgeführt anlässlich der Feierlichkeiten zum 125. Geburtstag des Leipziger Sohnes. Niemals zuvor war in so konzentrierter Form ein auch nur annäherndes Programm realisiert worden. Dieses gewaltige Projekt und auch sein ‚Mozart-Zyklus 1941’ lassen Schmitz in die Riege der erstklassigen Operndirigenten aufsteigen“, so der Gewandhaus-Chronist Johannes Forner.

Steffen Lieberwirth

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG



Dokumente der Klangfülle

Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, historische Aufnahmen mit dem geschichtlichen Wissen von heute und den daraus resultierenden Vorurteilen zu hören. Ein Paradebeispiel sind die „Meistersinger“-Dokumente aus der Zeit des „Dritten Reichs“. Bayreuth 1943? Das muss doch nach Reichsparteitag klingen! Nur hat die Aufführung unter Hermann Abendroth wesentlich mehr Charme, Poesie und Menschlichkeit als manche Produktion der letzten zwanzig Jahre.

Generalmusikdirektor Gustav Brecher als Zeitungska- rikatur des Zeichners Hans Alexander Müller in den "Leipziger Neuesten Nachrichten" von 1928

Generalmusikdirektor Gustav Brecher als Zeitungskarikatur des Zeichners Hans Alexander Müller in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ von 1928

Ähnliche Beispiele, die hartnäckig gepflegte Vorurteile gründlich widerlegen, gibt es in Hülle und Fülle. Grund genug, sich die Mühe zu machen, genau hinzuhören, bevor man sich vom Wissen des historischen Kontextes zu Trugschlüssen verleiten lässt – so wie der Schreiber dieser Zeilen beim Lesen der Angaben zum ersten Track der vorliegenden Sammlung: „Freischütz“-Ouvertüre, dirigiert von Gustav Brecher, aufgenommen 1929: Wie mag dieses erzromantische Stück wohl klingen bei einem progressiven Theatermacher, der mit den Uraufführungen von Kreneks „Jonny spielt auf“ (1927) und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930) für handfeste Theaterskandale sorgte, bei einem Dirigenten, der sich immer wieder für Neue Musik stark machte und deswegen auch ganz schnell von den Nazis abgesetzt, in die Emigration und schließlich in den Selbstmord getrieben wurde?

Nun, diese „Freischütz“-Ouvertüre klingt keineswegs so „entromantisiert“ wie etwa der „Parsifal“ unter Pierre Boulez, sondern in bester Hinsicht traditionell, nämlich im Sinne Gustav Mahlers, von dem der viel zitierte Ausspruch stammt: „Tradition ist Weitergabe des Feuers, nicht Anbetung der Asche!“ Und das mindert den Wert der Aufnahme in keiner Weise, zeigt sie doch, dass Brecher bei aller Progressivität offenbar nicht auf den Bruch mit alten Hörgewohnheiten aus war.

Apropos Hörgewohnheiten: „Es ist aufregend zu hören, wie sich musikalischer Geschmack und Klangvorstellungen über die Jahrzehnte verändern“, sagte Gewandhaus-Direktor Andreas Schulz in seinem Kommentar zur ersten Folge der „Edition Gewandhausorchester“. Gibt es dafür einen stärkeren Beleg als die Mozart-Aufnahmen in diesem Doppelalbum?

Viele Hörer, die mit den Einspielungen unter Nikolaus Harnoncourt, Arnold Östman, John Eliot Gardiner und René Jacobs aufgewachsen sind, werden die 1942 in Leipzig entstandenen Auszüge aus „Don Giovanni“ und „Cosí fan tutte“ wahrscheinlich als „treudeutsch“ und „hoffnungslos romantisch“ abtun. Aber vielleicht gibt es auch einige unter ihnen, die hinter dem Schleier der Zeitgeschichte eine Qualität hören, die seither immer mehr verloren ging: Die Fülle des Klanges, im Orchester wie auch in den Stimmen (nicht zu verwechseln mit Lautstärke!).

 

Rita Meinl-Weise

Rita Meinl-Weise

Nehmen wir zum Beispiel die Sängerin der Donna Elvira und der Fiordiligi, die Sopranistin Rita Meinl-Weise (1898-1987). Wohl hatte sie nicht die Technik, um die virtuosen Teile in Mozarts Musik zu bewältigen und ließ deshalb in der „Felsen-Arie“ die gefürchteten Achterbahnfahrten mit den Triolen einfach aus (man stelle sich vor, wenn sie das in Dresden unter Karl Böhm gewagt hätte!).
Doch die Stimme, die stark an Margarete Teschemacher erinnert, ist von einer Klangfülle, wie man sie im lyrischen Fach heute kaum noch findet. Um in der „Felsen-Arie“ eine ähnlich satte Mittellage und Tiefe zu hören, muss man schon zu den Aufnahmen von Eleanor Steber und Ina Souez zurückgehen.
Dass Donna Anna damals mit der Hochdramatischen des Hauses besetzt wurde, ist eine Tradition, die sich längst als überholt erwiesen hat.

 

Margarete Bäumer

Margarete Bäumer

Und der Einsatz von Margarete Bäumer (1898-1969) zeigt auch warum: Man kann von einem BMW nicht die Wendigkeit eines Smart erwarten.
Doch welch mühelose Klangfülle bei ihrer Isolde und Leonore, vor allem in der Mittellage.
Die Höhe klingt zuweilen etwas unstet, doch passt der üppig-lyrische, modulationsfähige Klang der Sopranistin weit besser zu diesen Partien als der knallharte Ton mancher Nachfolgerin.

 

August Seider

August Seider

Wie sie stand auch August Seider (1901-1989), ihr ständiger Tenorpartner in Leipzig, etwas im Schatten prominenter Kollegen. In seinem Fall war es Max Lorenz, der führende Heldentenor in Berlin, Wien und Bayreuth.
Sicher gebot Seider nicht über das markige Timbre und die erregende Expressivität von Lorenz, doch sang er oft genauer und sorgfältiger. Auch gestaltete er die Heldenpartien in erster Linie aus dem Fluß der Musik, ohne deshalb weniger wortdeutlich zu sein – im Gegenteil: Gerade weil Musik und Text bei ihm zur Einheit verschmelzen, ist er von fast schon extremer Textverständlichkeit – was jeder zu schätzen weiß, der sich bei Wagner und Strauss-Aufführungen ständig gezwungen sieht, auf die Übertitel zu schauen.

 

Friedrich Dalberg

Friedrich Dalberg

Dass gute Diktion beim langen Monolog des König Marke in „Tristan und Isolde“ das beste Mittel gegen Langeweile ist, zeigt Friedrich (Frederik) Dalberg (1908-1988) in der vorliegenden Rundfunk-Produktion, die 1943 unter der Leitung von Paul Schmitz entstand.
Dalberg kam in England zur Welt, wuchs in Südafrika auf und kam mit 22 Jahren nach Deutschland, um sein Gesangsstudium abzuschließen. Von 1931 bis 1944 wirkte er in Leipzig, von dort aus gastierte er in Dresden, Berlin und Bayreuth. 1947 bis 1951 war er der erste Baß an der Bayerischen Staatsoper München, danach gehörte zum Ensemble der Covent Garden Opera in London.
Zu seinen größten Erfolgen in Leipzig gehörte die Partie des König Philipp in Verdis „Don Carlos“.

 

Theodor Horand

Theodor Horand

Theodor Horand (1895-1973), der Sänger des Posa in den „Don Carlos“-Auszügen und des Ministers in der Schlußszene von Beethovens „Fidelio“, gehörte 35 Jahre zum Sängerteam der Leipziger Oper – und steht damit stellvertretend für die Qualität jener deutschen Ensemblekultur, die in der Bundesrepublik ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend der Internationalisierung des Opernbetriebs zum Opfer fiel, in der DDR jedoch aufgrund der kulturellen Isolation noch eine Generation länger andauerte.
Und mit ihm schließt sich der Kreis in dieser Kollektion von Leipziger Opernraritäten, war Horand doch schon 1927 bei besagter Uraufführung von „Johnny spielt auf“ unter Gustav Brecher dabei.

Thomas Voigt

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG



Untergang im „Feuerzauber“

02 Feuerzauber

Pastellzeichnung von Max Elten, 1943
Im Nachlass von Max Elten

In den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1943 wurde das Neue Theater durch einen der schwersten Bombenangriffe auf Leipzig zerstört. Als letzte Vorstellung war am Abend zuvor „Die Walküre“ mit ihrem „Feuerzauber“ gegeben worden. Am Dirigentenpult vor dem Gewandhausorchester hatte Paul Schmitz gestanden.

Sein Kollege und Freund, der Maler und Bühnenbildner der Oper, Max Elten, hat das Flammeninferno und den Untergang des Leipziger Neuen Theaters erlebt und festgehalten in einer Pastellzeichnung.

 

  ZURÜCK ZUM SEITENANFANG