Vom Sender Leipzig
zum Mitteldeutschen Rundfunk 

Zeitzeugen erinnern sich

Drei Monate vor dem endgültigen Ende des Rundfunks der ehemaligen DDR, seit Herbst 1990 als »Einrichtung« nach Artikel 36 des Einigungsvertrags fortgeführt, klären sich die Rundfunkstrukturen in den neuen Ländern.
In Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt herrscht bereits völlige Klarheit, wie es ab 1.1.1992 weitergehen wird:
Den Part des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, also die Grundversorgung der Bevölkerung mit Hörfunk und Fernsehen, übernimmt dort der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) mit Sitz in Leipzig.

Thomas R. Nissen, erster Justitiar des MDR und zuvor in gleicher Position bei RIAS BERLIN, läßt in einem Beitrag für die MDR-Rundfunkzeitschrift „TRIANGEL“ die Entwicklung von der Wende 1989 bis zum Programmstart der neuen Drei-Länder-Anstalt 1992 im Zeitraffer Revue passieren:

 

Drei Länder – ein Sender

Auf dem Weg zu einem neuen Mitteldeutschen Rundfunk

Erinnern wir uns: Am Anfang ging es nicht um D-Mark und (Wieder-)Vereinigung, am Anfang skandierten die Leipziger »Wir bleiben hier«, am Anfang ging es um Redefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit. Noch ehe in Berlin die Mauer fiel, noch ehe Honecker stürzte, Krenz hinweggefegt wurde und die Zeit über Modrow hinwegging, mahnte am 18.9.1989 der Intendant des (Ost-)Berliner Brecht-Theaters, Wekwerth: »Beschönigende Berichte dienen nicht der Beruhigung der Öffentlichkeit und der Ruhe, sondern erzeugen in Wahrheit Unruhe«. Stephan Hermlin kritisierte öffentlich die Loslösung der Medien der alten DDR von der Realität.

Knechtung durch und Dienerschaft für das alte Regime hatten zum vollständigen Verlust der Glaubwürdigkeit der Massenmedien geführt. Was Wunder, daß sie den Erosionsprozeß des real existierenden Sozialismus nicht aufhalten konnten. Wenn es eine Erneuerung der Gesellschaft geben konnte, mußte sie im Dialog gesucht werden, und der war ohne befreite Medien undenkbar.

Viel von der folgenden Übergangszeit bliebe aufzuarbeiten das meiste ist jetzt schon der Vergessenheit anheimgefallen. An einige Stationen auf dem Weg zu einer föderalen, öffentlich-rechtlichen Rundfunkordnung, an einige Stationen auf dem Weg zum neuen MDR bleibt zu erinnern.

 

Vom Staatsfunk zur Einrichtung

Am 20.12. 1989 konstituiert sich eine Regierungskommission der DDR zur Ausarbeitung, eines Mediengesetzes. Mit Beschluß des Ministerrates vom 21.12. werden das »Staatliche Komitee für Rundfunk« und das »Staatliche Komitee für Fernsehen« – seit dem 15.9.1968 für die zentrale Lenkung der elektronischen Massenmedien verantwortlich – umbenannt. Als juristische Personen treten die Rechtsnachfolge an das »Fernsehen der DDR« und der »Rundfunk der DDR«, jeweils mit einem vom Ministerratsvorsitzenden eingesetzten Generalintendanten an der Spitze und mit einem funktionslosen »Fernsehrat- bzw. »Medienbeirat«, daneben.

Am 5.2.1990 faßt die Volkskammer einen Beschluß »über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit«. Er erklärt Rundfunk und Fernsehen zu unabhängigen öffentlichen Einrichtungen, die nicht der Regierung unterstehen, und zu Volkseigentum und schreibt ihre Umwandlung in öffentlich-rechtliche Anstalten vor. Die beiden Generalintendanten sollen noch immer vom Ministerpräsidenten berufen und »gesellschaftliche Räte«, gebildet werden. Sie bedürfen aber bereits der Bestätigung durch den neu geschaffenen »Medienkontrollrat«, dem Vertreter der am »Runden Tisch« beteiligten Parteien und Vereinigungen, der Volkskammerfraktionen, der Kirchen und der jüdischen Gemeinde angehören.

Den folgenden Bemühungen um eine Mediengesetzgebung unter dem Medienminister Dr. Gottfried Müller ist kein durchgreifender Erfolg beschieden. Zwar will Müller die zentralistischen Strukturen der elektronischen Medien beseitigen und die Rundfunkhoheit den neu zu bildenden Ländern übertragen, das unter seiner Leitung erarbeitete »Rundfunküberleitungsgesetz« stößt aber praktisch überall auf harsche Kritik wegen »unerbittlicher Staatsnähe« auch der vorgesehenen neuen Rundfunkstrukturen und muß gründlich überarbeitet werden.

Erst am 13.9. kann die Volkskammer das Rundfunküberleitungsgesetz verabschieden, das nur bis zum 2.10.1990 in Kraft sein, wird. Es sieht die Zusammenfassung von Rundfunk und Fernsehen der DDR in einer gemeinschaftlichen staatsunabhängigen, rechtsfähigen Einrichtung der neuen Bundesländer vor, die bis spätestens 31.12.1991 weitergeführt werden soll. An ihrer Spitze soll ein auf Vorschlag des Ministerpräsidenten von der Volkskammer gewählter Rundfunkbeauftragter unter der Aufsicht eines Rundfunkbeirats stehen, dessen Mitglieder von den Landtagen der neuen Länder und der Stadtverordnetenversammlung von Berlin gewählt werden. Der Einigungsvertrag übernimmt dieses Gesetz nicht, sondern ersetzt es durch seinen Artikel 36, der allerdings in den Grundzügen mit dem Überleitungsgesetz übereinstimmt.

»Die Einrichtung« entsteht, an ihre Spitze tritt der Rundfunkbeauftragte Rudolf Mühlfenzl, versehen mit dem Auftrag zur Liquidation der zentralistischen Struktur, mehr und mehr jedoch bestrebt, überzuleiten, zu überführen, zu erhalten. Am Ende aber haben auch die im Laufe des Jahres 1990 gebildeten Landessender für Hörfunk und Fernsehen – sämtlich Bestandteil der Einrichtung – keinen Bestand. Die Länder machen von ihrer Rundfunkkompetenz Gebrauch, sie schaffen neue Strukturen.

 

Die föderale Alternative: Landesrundfunkanstalten

Zuerst im Süden. Hier hat schon im September 1990, noch ehe ein Landtag gebildet ist, die »Initiative Sächsisches Landesmediengesetz« auf ihrer dritten Plenartagung drei Gesetzentwürfe vorgelegt: ein Pressegesetz, ein Gesetz für den privaten Rundfunk und ein Gesetz über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, das die Schaffung eines »Sächsischen Rundfunks« vorsieht. Auch in den übrigen neuen Bundesländern wird über die künftigen Strukturen nachgedacht. Überall gibt es Überlegungen zur Bildung eigener öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, wird die Errichtung eines staatsunabhängigen, föderalen Rundfunks unter gesellschaftlicher Kontrolle als unverzichtbar angesehen.

Aus dem Westen dringen – nicht ganz uneigennützig – mahnende Worte, den föderalen Aspekt nicht zu sehr zu betonen, sondern »lebensfähige Einheiten« als Mehrländeranstalten zu schaffen. Einen Augenblick scheint es, als könne die ganze jahrzehntealte und stets unbewältigte Strukturdebatte der ARD neu geführt werden. Dann aber konzentriert sich die Diskussion wieder auf die neuen Bundesländer.

Im Nordosten scheitern Überlegungen für eine Drei-Länder-Anstalt von Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern im Schweriner Landtag. Während Mecklenburg-Vorpommern sich zum NDR hin orientiert und Berlin das SFB-Gesetz auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt hat, beschließt Brandenburg im Herbst 1991 ein Landesrundfunkgesetz, eine eigene Landesrundfunkanstalt, die eng mit dem SFB kooperieren soll.

 

Ein Sender für drei Länder

Im Süden einigen sich die Ministerpräsidenten von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt schon Anfang 1991 auf ein Eckwertepapier für eine gemeinsame Landesrundfunkanstalt ihrer drei Länder, den Mitteldeutschen Rundfunk. Am 30.5.1991können in Erfurt die Ministerpräsidenten Biedenkopf, Duchàc und Gies den »Staatsvertrag über den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR)« unterzeichnen. Am 19.6. wird der Staatsvertrag vom Thüringer Landtag ratifiziert, zwei Tage später haben auch die Parlamente in Magdeburg und Dresden zugestimmt. Am 1.7.1991 tritt der Staatsvertrag in Kraft.

Stunde Null. Mit dem MDR entsteht eine klassische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als Mehrländeranstalt. Das Beispiel hat der NDR geliefert. Die zentrale Gesamtverantwortung ist dem Intendanten übertragen, dem die plural besetzten Aufsichtsgremien Rundfunkrat und Verwaltungsrat zur Seite stehen. In jedem der Staatsvertragsländer wird ein Landesfunkhaus errichtet, dessen Direktor nicht ohne Zustimmung der Vertreter gesellschaftlicher Gruppen aus diesem Lande im Rundfunkrat berufen werden kann. Der jeweilige Landesfunkhausdirektor verantwortet – unbeschadet der Gesamtverantwortung des Intendanten – die Landesprogramme.

Noch aber gibt es keine Landesprogramme, keine Landesfunkhäuser, keine Direktoren, keinen Intendanten. Der MDR mit Sitz in Leipzig ist eine Idee, ein Konzept, ein Staatsvertrag. Staatsverträge senden nicht. Bis zum geplanten Programmstart sind noch sechs Monate Zeit. Noch sechs Monate? Nur sechs Monate! Die im Staatsvertrag vorgesehene Institution eines Rundfunkbeirats, der bis zum ersten Zusammentritt des Rundfunkrats die Aufgaben von Rundfunkrat und Verwaltungsrat wahrnehmen soll, löst politischen Streit aus, weil die Mitglieder dieses Gründungsgremiums von den Landesparlamenten gewählt werden und drei von ihnen aus den Parlamenten kommen dürfen. Aber Eile ist geboten, wenn das ehrgeizige, vom Einigungsvertrag gesetzte Ziel erreicht werden soll: Beginn der Sendungen am 1.1.1992.

 

Pionierzeit

Bereits am 7.7.1991, in seiner konstituierenden Sitzung, wählt der Rundfunkbeirat einstimmig den bisherigen Hörfunkdirektor des BR, den 47jährigen Dr. Udo Reiter, zum ersten Intendanten des MDR. Bei der nächsten Sitzung, am 19. 8., werden die vom Intendanten vorgeschlagenen acht Direktoren vom Rundfunkbeirat gewählt. Der MDR hat jetzt elf Mitarbeiter, es gibt ein Intendantenbüro in der Leipziger Springerstraße: zwei Zimmer. Die Aufnahme in die ARD ist beantragt.

Pionierzeit. Alles muß gleichzeitig geschehen. Wie sollen die Programme aussehen? Wie viele Programme müssen wir, können wir machen? Gibt es Frequenzen und Sender, um sie zu verbreiten? Können die nötigen Leitungen geschaltet, notfalls bis zum Programmstart noch verlegt werden? Woher bekommen wir die etwa 1500 Mitarbeiter, die wir für den Anfang benötigen? Woher nehmen wir Wohnungen, Büros, Telefone, Schreibtische? Wer kann in sechs Wochen die technischen Einrichtungen für ein Studio liefern?

Erste Direktorensitzung. Zwei Fragen an den Intendanten: »Wie geht es jetzt weiter? Was steht uns zur Verfügung?« Die Antworten verlangen Eigenverantwortung und Initiative: »Machen Sie ‚mal!« und »Was Sie brauchen«. Jeder fängt irgendwo an, berichtet in der nächsten Sitzung, kurze Abstimmung untereinander: Entscheidungen, die sonst über Wochen und Monate vorbereitet werden, fallen in Minuten.

Allmählich werden Strukturen erkennbar. Irgendwann stehen ein paar Eckwerte des Neujahrsprogramms. Vom Berg der Probleme ist ein Stäubchen abgetragen. Es gibt noch keine objektiven Anzeichen dafür, daß wir es schaffen können. Nur an der Stimmung ist schon abzulesen: Wir werden es schaffen. Im November entscheidet die ARD über den Aufnahmeantrag des MDR. Die Kollegen dort helfen schon jetzt.

 

Eine neue Stimme im Konzert der Rundfunkanstalten

Mit dem 1.1.1992 wird der MDR also seine Sendungen aufnehmen. Mit drei, später vier Hörfunkprogrammen, einem eigenen Dritten Fernsehprogramm und den Vorabendsendungen im Ersten Fernsehprogramm wird sein Sendegebiet versorgt, mit einem Anteil von anfangs fünf und später elf Prozent an den Gemeinschaftsprogrammen der ARD, dem Ersten Deutschen Fernsehen wie dem Satellitenprogramm EINS PLUS, wird der MDR eine hörbare Stimme im Konzert der Landesrundfunkanstalten bilden.

Aus den Landesfunkhäusern in Dresden, Erfurt und Magdeburg werden jeweils eigenständige (UKW-)Hörfunkprogramme für die drei Länder kommen. Gemeinsam ist ihnen der Name »mdr1«; unterscheiden werden sie sich in den Titeln »Radio Sachsen«, »Radio Thüringen« und »Radio Sachsen-Anhalt« sowie in der landesspezifischen Themenwahl und Gestaltung. Kein Provinzradio soll dabei entstehen, sondern ein buntes Kaleidoskop von Themen – aus aller Welt ebenso wie aus dem Land. Von Politik und Kultur, von Kunst und Kommerz, von Menschen und Mächten, von fern und nah wird hier zu berichten sein, zu beraten und zu unterhalten.

Aus dem Funkhaus in Leipzig kommen daneben, als (UKW-) Hörfunkprogramme für alle drei Länder, die Programme »mdr life« als locker-informatives Begleitprogramm durch den Tag, zugleich die Servicewelle des MDR, und »mdr kultur« als das klassische Kulturprogramm, in dem die gewachsene traditionsreiche Musik-, Literatur- und Kunstszene des Sendegebiets ebenso ihr Forum findet wie die großen Kulturereignisse aus aller Welt, Oper und Konzert ebenso wie Hörspiel und Kabarett, die klassische Bildung ebenso wie Themen aus Technik und Wissenschaft. Mit dem MW-Programm »mdr info«, einem Kanal für Nachrichten, Korrespondentenberichte, Hintergrundmaterial und Features rundet sich dann das Bild eines modernen, in seiner Vielfalt spezifischen Radioangebots.

Das eigenständige Dritte Fernsehprogramm, »mdr-Fernsehen«, wird als Vollprogramm geplant. Sicher, zu Beginn wird der MDR eng mit anderen Landesrundfunkanstalten zusammenarbeiten und eine Reihe von Beiträgen übernehmen oder aus dem gemeinsamen Programm-Pool der Dritten Fernsehprogramme beziehen. Nur ein eher geringer Teil des Programms kann vom Start weg selbst produziert werden. Ist die Mannschaft aber einmal komplett und eingespielt, kann der Anteil der Eigenproduktionen gesteigert werden, der MDR seinerseits zum Programm-Pool zuliefern und anderen als Partner für Produktionsvorhaben zur Seite stehen, wie sie vor allem die kleineren Rundfunkanstalten allein vielfach nicht mehr bewältigen können.

Einer der Schwerpunkte des »mdr-Fernsehens« wird die politische Berichterstattung sein, die sich – neben den Landesprogrammen für Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt am Vorabend – in einer eigenen Abendnachrichtensendung, in Ländermagazinen, aber auch in Beiträgen für »Tagesschau« und »Tagesthemen« des Ersten Programms niederschlagen wird. Für das Erste plant der MDR auch eine neue politische Magazinsendung, die eigene Sichtweisen und besondere Probleme der neuen Bundesländer für das Publikum in ganz Deutschland thematisieren soll.

Einen besonderen Stellenwert im Sendegebiet des MDR werden Bildungs- und Beratungsangebote haben müssen, für die es hier auch bereits eingeführte und zum Teil bewährte Vorbilder gibt, die im »MDR-Fernsehen« weitergeführt und ergänzt werden können.

Dabei sollen das Familienprogramm und die Unterhaltung nicht zu kurz kommen. An die Fortführung des legendären Sandmännchens ist gedacht, aber auch an den »Ein Kessel Buntes«, der im Ersten seinen Platz finden kann, an volkstümliche Unterhaltung und klassische Kultur, Talk- und Spielshows, den Kamerafilm, das Fernsehspiel und den »Tatort«.

© Ude Nissen für TRIANGEL.Das Radio zum Lesen

 

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