Die Mitteldeutsche Rundfunk AG „Mirag“
Ein Überblick von Tobias Knauf
Start als „Leipziger Meßamtssender“
Grund für den Sendestart des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig am 1. März war, dass unmittelbar am nächsten Tag die Frühjahrsmesse begann.
Dort wollte die Funkindustrie in einer gesonderten Schau erstmals anhand eines laufenden Radioprogramms die Leistungsfähigkeit ihrer Neuheiten präsentieren.
Gerade dieser wirtschaftliche Aspekt war es, der neben der zentralen Lage im künftigen Sendebezirk, den Ausschlag für den Sendestandort Leipzig gab.
Wie weit das neue Medium Rundfunk in Leipzig auf gesellschaftliches Interesse stieß, verdeutlicht der Personenkreis der an der unmittelbaren Gründung der Sendegesellschaft Beteiligten: Neben der „Radio-Vereinigung Leipzig“, einer aus heutigem Verständnis Funkamateurvereinigung, war es der Verkehrsverein, die Handelskammer, die Rundfunk-Händler und nicht zuletzt die örtliche Tagespresse.
Die Liste der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder der am 22. Januar 1924 gegründeten Mirag liest sich mithin wie ein Who is Who der Leipziger Gesellschaft.
Zwar stand die Sendegesellschaft unter hoheitlicher Aufsicht der Reichspost, im Vergleich zu den acht anderen deutschen Sendegesellschaften wich die Post jedoch gleich dreimal von ihrem sonst eher strikten Vorgaben ab: Zum einen genehmigte sie mit Dr. Erwin Jaeger einem führenden Kopf der Radio-Amateurbewegung in Leipzig, als Vorstand wesentlichen Einfluss auf das Programm zu nehmen. Zum anderen band sie mit Dr. Fritz Kohl einen Vertreter der Rundfunkhändler und Vertrauten der Handelskammer in die Gesellschaft ein.
Mit Edgar Herfurth als Herausgeber der regional dominierenden konservativen Tageszeitung „Leipziger Neueste Nachrichten“ wurde schließlich der Hauptaktionär gefunden. Herfurth stellte neben dem Startkapital gleichzeitig kostenlos das Nachrichtenmaterial zur Verfügung, somit eine nicht unwesentliche Quelle für das laufende Programm.
Interview mit dem MIRAG-Gründer Dr. Erwin Jaeger
Erstes Studio in der „Alten Waage“
Mit einem Gründungskapital von 80.000 Goldmark überstieg die Mirag anfangs im Vergleich zu den anderen regionalen Sendegesellschaften deutlich die von der Post gesetzte Mindestgrenze von 60.000 Goldmark. Zwischen der Sendegesellschaft und den Körperschaften in der Stadt Leipzig gab es nicht nur personelle Parallelen. Die ersten Studios und Verwaltungsbüros kamen in der „Alten Waage“ (Am Markt 4) unter, dem früheren Messamt. Schon aus dieser räumlichen Nähe rührte nicht zuletzt der Begriff Messamtssender her.
Dicht besiedeltes Empfangsgebiet
Mit einer Bevölkerungsdichte von 185 Einwohnern je Quadratkilometer waren die Bedingungen in Leipzig günstiger als im Reichsdurchschnitt mit 134 Einwohnern. Als sicher gilt, dass der erste Leipziger Sender von verstärkerlos arbeitenden Empfängern bis zu einem Umkreis von 30 Kilometern empfangen werden konnte. Damit blieb die Mirag für Besitzer dieser recht preiswerten Empfänger zunächst eher ein Leipziger Stadtradio.
Die Zahl der Rundfunkhörer stieg schon im ersten Jahr an. Ende Dezember 1924 registrierte die Post in ihrem Direktionsbezirk Leipzig allein 48.000 Gebührenzahler. Wie viel sogenannten Zaungäste (Schwarzhörer) genau das Programm verfolgten, ist nicht erwiesen. Aber bereits Ende Juni 1924 widmeten die „Leipziger Neusten Nachrichten“ diesem Phänomen einen Artikel, in dem allein für die Stadt die Zahl von rund 6.000 genannt wird. Zum gleichen Zeitpunkt weist die Statistik rund 10.000 angemeldete Hörer aus.
Wachsende Sendeleistung, die Inbetriebnahme des Nebensenders Dresden im Februar 1925, sinkende Verkaufspreise für Empfangsgeräte und nicht zuletzt die Senkung der Rundfunkgebühren von jährlich 60 Goldmark auf monatlich zwei Mark ab April 1924 führten zu einem Anstieg der Hörerzahlen. Im Juni 1925 hatte der Leipziger Sender bereits über 100.000 Hörer.
Radio-Hörer zunächst nur in den Großstädten
Das soziale Spektrum der Mirag-Hörerschaft der ersten Jahre ist kaum bekannt. Deutschlandweit waren 1928 insgesamt 80 Prozent der Hörer in 26 Städten konzentriert. Die starke Verstädterung im mitteldeutschen Sendebezirk lässt den Schluss zu, dass zunächst Beamte und Angestellte zu den ständigen Hörer gehört haben dürften. Einwohner des ländlichen Raums hingegen waren eher unterrepräsentiert.
Was wurde den Hörern im ersten Sendejahr geboten? Anfangs waren es täglich zwei bis drei Sendestunden, bei denen sich Musik und Wort die Waage hielten. Den Auftakt machten um 10:00 Uhr eine Viertelstunde Wirtschaftsnachrichten mit Börsennotierungen. 12:45 Uhr folgten unter dem Titel „Was die Zeitung bringt“ Nachrichten, die laut Leserbriefen in Rundfunkzeitschriften vornehmlich vorgelesene Zeitungsnachrichten waren. Um 20:15 Uhr folgte ein weiterer Programmpunkt, meist ein eineinhalbstündiges Konzert der „Hauskapelle“. Den Abschluss bildeten die Pressemeldungen bis 22:00 Uhr.
Halbstundenvorträge und literarische Beiträge
Trotz dieser sehr schmal wirkenden Programmstruktur darf nicht vergessen werden, dass alles ausnahmslos live gesendet wurde. Gelegentlich gab es um 19:30 Uhr einen Halbstundenvortrag; einen festen Senderplatz hatte dieser noch nicht. Leiter des Wortprogramms (des sogenannten Literarischen Programms) war Julius Witte, ein früherer Presseredakteur, der damit vom Hörspiel bis zu den Vorträgen Verantwortung trug.
Der Halbstundenvortrag hatte vor allem donnerstags und freitags seinen Platz gefunden.
Neben radiotechnischen Vorträgen waren dies vor allem Themen, bei denen sich die Programmverantwortlichen eher einem Bildungs- als einem Unterhaltungsauftrag verpflichtet sahen.
Das Spektrum reichte von Musik, Theater, Literatur, Geschichte und Philosophie über Psychologie und Pädagogik bis hin zu Geographie, Wirtschafts- und Rechtswissenschaft sowie Landwirtschaft, die anfangs als Einzelvorträge, mit der Zeit jedoch zu ganzen Vortragsreihen ausgebaut wurden.
Favoriten im Programmangebot – weil hochbeliebt – waren heitere Dichter-Lesungen, wie jene von Erich Kästner:
Erich Kästner liest im MIRAG-Sender Leipzig
Erich Kästner: Stiller Besuch aus „Ein Mann gibt Auskunft“
Aufnahme: Mirag-Sender Leipzig am 25. November 1930
Originaltonträger: DRA Rundfunkplatte R74: RRG Leipzig
Sendelücken werden gefüllt mit Musik
Wittes musikalisches Pendant war der Kapellmeister Alfred Szendrei, der zudem als Leiter des Leipziger Sinfonie-Orchesters wesentlich an der Einbindung des Klangkörpers in das Programm ab Herbst 1924 sorgte. Ab Mai wurden die nächsten festen Sendeplätze belegt. So gehörte die Zeit zwischen 16 und 18 Uhr dem Nachmittagskonzert.
Mirag bietet lukrative Nebeneinnahmen
Glaubt man damaligen Kritikern, so teilten die dabei vortragenden Dozenten und Professoren ihre Vorlesungsreihen in 30-Minuten-Blöcke, für die jeweils bis zu 75 Reichsmark Honorar gezahlt wurden. Mit Blick auf damalige Einkommensverhältnisse gewiss ein lukrativer Verdienst, wurde doch einem gelernten Arbeiter in der sächsischen Metall- und Maschinenindustrie im Dezember 1924 ein Stundenlohn von 0,56 Reichsmark gezahlt.
Aktuelle Sendungen außerhalb der politisch sehr restriktiv gehaltenen Nachrichten gab es relativ früh. Dazu gehörte eine Sondersendung zur Reichstagswahl vom 4. Mai 1924, bei der bis weit in die Nacht Stimmergebnisse bekannt gegeben wurden. Hierbei nutzte die Mirag ihre Verbindung zum Korrespondentennetz der „Leipziger Neuesten Nachrichten“.
Kaum aktuelle Innenpolitik
Während „Vaterländische Abende“, Gedenkfeiern zur Reichsgründung 1871 oder zur Völkerschlacht von 1813 fest zum Repertoire gehörten, fanden aktuelle innenpolitische Berichte keinerlei Eingang in das aktuelle Programm. Ebenfalls im Mai 1924 erlebte der „Bunte Abend“ – eine Mischung aus unterhaltender Musik und Rezitationen – seine Premiere im Leipziger Programm.
Im Juni wurde das aktuelle Programm um eine Komponente erweitert: den Sportfunk, der nun am späten Abend ausführliche Meldungen mit starkem regionalen Bezug brachte. Außerdem wurden die Wirtschaftsnachrichten stärker auf die Zielgruppen ausgerichtet: mittags gab es vor allem Informationen für die ländliche Bevölkerung, die Meldungen um 13:00 und 16:40 Uhr richteten sich an Interessenten von Devisen- und Börsenkursen.
Zunächst war 22:00 Uhr Sendeschluss
Was wurde ihnen im ersten Sendejahr geboten? Zunächst waren es in den ersten Wochen täglich zwei bis drei Sendestunden, bei denen sich zeitmäßig Musik und Wort die Waage hielten. Den Auftakt machten um 10:00 Uhr eine Viertelstunde Wirtschaftsnachrichten mit Börsennotierungen. 12:45 Uhr folgten unter dem Titel „Was die Zeitung bringt“ Nachrichten, die laut Leserbriefen in Rundfunkzeitschriften vornehmlich vorgelesene Zeitungsnachrichten waren. Um 20:15 Uhr folgte ein weiterer Programmpunkt, meist ein eineinhalbstündiges Konzert der „Hauskapelle“. Den Abschluss bildeten die Pressemeldungen bis 22:00 Uhr.
Vortrag, Konzert, Hörspiel im Programm der MIRAG ab 1924
Populärwissenschaftliche Vorträge, Konzert-Übertragungen und Experimente mit der neuen Kunstgattung Hörspiel bestimmten das Programm der 1924 in Leipzig gegründeten MIRAG.
Opern-Übertragungen aus Weimar und Dresden
Zu den Sende-Studios im Leipziger Messeamt und in der Alten Börse kommen bis 1926 so genannte „Besprechungsstellen“ in anderen Städten Mitteldeutschlands wie Chemnitz, Jena, Erfurt, Halle. Im Februar 1926 überträgt die MIRAG Händels Oper „Xerxes“ aus dem Deutschen Nationaltheater Weimar, im Mai desselben Jahres Verdis „Macht des Schicksals“ aus der Dresdner Semper-Oper. Trotz Rauschen und Knistern in Kopfhörern oder Lautsprechern und weit entfernt von heutiger HiFi-Empfangsqualität in Stereo sind diese Mono-Übertragungen eine Sensation.
Kulturelles Sendungsbewusstsein im doppelten Sinne des Wortes ist in der ersten Ära des Mitteldeutschen Rundfunks seit 1924 stark ausgeprägt. Folgerichtig nennt Dr. Erwin Jaeger, erster Vorstand der MIRAG, eines vorrangiges Ziel des Leipziger Senders, den Radio-Hörer bekannt zu machen mit den „Kunstwerken, die Gemeingut der Menschheit geworden sind. Sie sich nicht nur ein Genuss für den Kunstkenner, sondern gewinnen auch Wert für den Neuling, der sich in künstlerischen Dingen erst Geschmack aneignen will und soll“. Dazu kommen populärwissenschaftliche Vorträge im Sinne des in der Weimarer Republik weit verbreiteten Volkshochschul-Gedankens.
MIRAG-Hörer lieben Klassik-Adaptionen
Vor allem beim Hörspiel, jener Kunstgattung, die erst mit dem Radio entstand, ist der Mitteldeutsche Rundfunk einer der Vorreiter in Deutschland. Schon im März 1924 gibt es zwei literarische Abende mit Goethe- und Heine-Texten, im Spätsommer werden unter Leitung von Kapellmeister Alfred Szendrei Sendespiele mit Dramen aufgeführt, die große Musiker zu Kompositionen inspiriert hatten.
Zum Dauerbrenner entwickelt sich Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“, das Julius Witte im November 1924 inszeniert hat. Auf vielfachen Hörerwunsch wird es bis 1927 insgesamt fünf Mal gesendet. Doch 1929, ein Jahr nach Wittes Entlassung, heißt es in einem Artikel zu den künstlerischen Darbietungen der MIRAG: „Die bis dahin übliche Methode, Hörspiele von drei bis vier Stunden Dauer zu senden, wurde als zu ermüdend erkannt“.
Hörspiel-Pioniere wirken in Leipzig
Im Herbst 1929 wird Dr. Eugen Kurt Fischer neuer MIRAG-Hörspielchef. Er hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert kennt den mitteldeutschen Raum aus seiner Zeit als Feuilletonchef der „Chemnitzer Allgemeinen Zeitung“. Erste Kontakte zum Rundfunk hatte Fischer über die „Ostdeutsche Rundfunk AG“ (ORAG) in Breslau. Mit Alfred Braun in Berlin, Ernst Hardt in Köln, Hans Flesch in Frankfurt/Main und Fritz-Walter Bischoff in Breslau gehört Fischer zu den deutschen Hörspiel-Pionieren.
Bis zu seinem Weggang von der MIRAG im Jahre 1932 macht er das Lyrische zum Markenzeichen der Leipziger Hörspiel-Produktion. Gleich nach seinem Amtsantritt vergibt er Aufträge an Autoren. Während es mit bekannten Schriftstellern wie Ernst Toller oder Paul Zech nicht bis zu einer Uraufführung kommt, nutzen junge Talente aus der Region das im Winter 1929 eröffnete „Studio“ der Sendegesellschaft für ihre Hörspielexperimente. Die Lyriker Walter Bauer und Wolfram Brockmeier sowie der Dramatiker Andreas Zeitler lassen sich zu kontinuierlicher Mitarbeit anregen.
Günter Eich schreibt für die MIRAG
Zu den jungen Autoren, die Fischer um sich schart, gehört Günter Eich, einer der wichtigsten deutschsprachigen Hörspiel-Autoren. Der ist mit 15 Jahren nach Leipzig gekommen, wo er zur Schule geht und ein Studium aufnimmt. Fischer inszeniert die ersten literarischen Arbeiten Günter Eichs im Programm der MIRAG – „Dreigespräch aus einem Drama“ (1930) und „Berlin zur Fontanezeit“ (1932). Eichs erstes für den Hörfunk verfasstes Manuskript, das Original-Hörspiel „Ein Traum am Edsin-Gol“, schreibt er für die MIRAG. Doch die Ursendung, angekündigt für das Winterhalbjahr 1932/33, kommt infolge der Gleichschaltung durch die Nazi-Behörden nicht zustande. Erst 1950 wird das Hörspiel beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart produziert.
Spannendes Spiel vorm Live-Mikrofon
In den Anfangs-Jahren der neuen Kunstgattung „Hörspiel“, auch „Sendespiel“ oder „Funkdrama“ genannt, gibt es noch keine technischen Möglichkeiten der Schall-Aufzeichnung. Bis dahin werden alle Aufführungen live aus dem MIRAG-Studio gesendet. Eugen Kurt Fischer baut dafür ein eigenes Ensemble aus noch unbekannten, aber sehr engagierten Schauspielern auf. Der Leipziger Wolf Goette erinnert sich an die ungeheure Intensität des Spielens. Alle musste auf Anhieb klappen. Je nach der gewünschten Lautstärke standen die Darsteller näher oder weiter vom zunächst einzigen Mikrofon entfernt. Positionsveränderungen mussten lautlos erfolgen. Auch der Geräuschemacher musste punktgenau für die notwendige „Geräuschkulisse“ sorgen. Mit einfachsten Mitteln: Schrotkörner in einer Streichholzschachtel, Wasser in einer Gummiwärmflasche…
Tondokumente mit expressiven Zeitgedichten von 1931/32
Hörspiel-Probe im MIRAG-Studio (1930), links am Regietisch Hans Peter Schmiedel, nach 1932 wird er Eugen Kurt Fischers Nachfolger (Sammlung Hagen Pfau)
Erst ab 1929/30 sind Mitschnitte auf Wachsplatten üblich. Zu den ältesten Tondokumenten der Hörspiel-Geschichte des Mitteldeutschen Rundfunks gehören Walter Bauers „Alle Dinge tragen den Namen des Werks“ über das Leuna-Werk, der Leipziger Beitrag zur „Phono-Schau“ der Berliner Funkausstellung 1931. Regie geführt hat Eugen Kurt Fischer. In seiner eigenen künstlerischen Produktion widmet er sich dem Poem und Hörbildern wie „Trommel, Trommel, Gong“ (1932). Dieses Zeitgedicht aus dem Jahr vor der Machtübergabe an Hitler führt mit geradezu expressionistisch anmutendem Pathos individuelles Verhalten im Kraftfeld gesellschaftlicher Wirren vor. Beispielhaft setzt Fischer die Mittel der neuen akustischen Kunstgattung – Stimme, Klang und Geräusch – für sein Anliegen ein.
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